„Man muss nicht wissen, was man tut“
Am Ende darf man sich fast schon wundern, dass selbst aus den jüngsten Platten von The Flaming Lips noch so viel Pop herauszukitzeln ist. Denn Wayne Coyne predigt nicht nur die freie Entfaltung der Kreativität, er setzt sie mit seiner Band auch immer konsequenter um. Möge der Trip dieses Typen bitte niemals enden!
Ziemlich genau 30 Jahre ist es her, dass Wayne Coyne mit seinem Bruder Mark in Oklahoma City eine Band gründete, die sie The Flaming Lips nannten. Als Mark bald wieder ausstieg und in ein bürgerliches Leben ging, übernahm Wayne von ihm die Rolle des Sängers. Neben Michael Ivins am Bass ist er das einzige Mitglied, das all die Jahre dabeigeblieben ist. Die Band legte einen langen und verschlungenen Weg zurück von den reichlich verblasenen Glam-Punkrock- und Postpunk-Weirdos, die sie am Anfang waren, zu den psychedelischen Experimental- und Space-Rock-Weirdos, die sie heute sind.
Gegen Ende der Achtziger wurden die Flaming Lips in einem Atemzug mit Rock-Erneuerern wie Sonic Youth und den Butthole Surfers genannt. Und genauso wie diese und andere Alternative-Rocker ihrer Zeit ergatterten sie einen Major-Plattenvertrag. Ihr Sound wurde kompakter, es sprangen kleine MTV-Hits ab, gleichzeitig veröffentlichten sie aber auch Ungetüme wie ZAIREEKA (1997) – ein Album, das aus vier CDs bestand, die gleichzeitig abgespielt werden mussten, um den kompletten Hörgenuss zu erhalten. Die folgenden, durchaus (dream)poppigen Lips-Platten THE SOFT BULLETIN (1999), YOSHIMI BATTLES THE PINK ROBOTS (2002) und AT WAR WITH THE MYSTICS (2006) durfte man bei dem Label-Riesen Warner wohl als Belohnung für die der Band gegenüber aufgebrachte Geduld sehen: Sie kletterten immer weiter nach oben in den Charts.
Wayne Coyne jedoch, der sich im Mainstream nicht zuletzt aufgrund der atemberaubenden Liveshows seiner Band einen Namen gemacht hat, traute dem Erfolg nicht und machte sich mit den Lips bald schon in Richtung Avantgarde aus dem Staub. Seither werden ihre Alben zusehends abstrakter, versponnener und feinnerviger. Ihr außerordentlicher Output zeugt außerdem davon, dass diese Band trotz ihres Alters immer lebendiger wird. Mit THE FLAMING LIPS AND HEADY FWENDS erschien 2012 zum Beispiel ein Album, für das das Quintett einen ganzen Sack prominenter musikalischer Gäste wie Kesha, Bon Iver, Prefuse 73, Tame Impala, Yoko Ono und Nick Cave hüten musste. Und nebenbei covert die begierige Truppe auch noch komplette LP-Klassiker von Bands wie Pink Floyd oder King Crimson.
Das 16. Album der Flaming Lips, THE TERROR, ist eine hypnotisch bunte Klangwolke, aus der sich betörend schöne Melodien transfigurieren. Um diese aber zu erkennen, muss man sehr oft und möglichst genau hinhören. Wayne Coyne weiß, dass er mit der Platte ein großes Kunstwerk geschaffen hat, und es scheint ihn kein bisschen zu stören, dass er damit nur einen exklusiven Hörerkreis erreichen wird. Als er an einem der letzten Wintertage im Berliner Hotel Michelberger zum Interview erscheint, strotzt er vor Selbstbewusstsein. Er hat es dem Mainstream wieder einmal gezeigt. Der Lockenkopf hat nichts zu verlieren und viel zu erzählen. Vor allem aber scheint er in dem Interview eine gute Möglichkeit zu sehen, sich selbst darüber Klarheit zu verschaffen, was er da eigentlich tut und wo er mit seinen 52 Jahren angekommen ist. Nun ja, was heißt „angekommen“ …
Eure Platte klingt wie eine gute Idee, eine mysteriöse Welt … Man könnte viele Bilder dafür finden. Auf jeden Fall scheint sie statt Antworten zu geben in all ihren unterschiedlichen Stimmungen und Farben Fragen zu stellen. Wie macht man solche Musik?
Man kann eine Platte wie diese nicht im Geist entwerfen. Wir haben bis heute 16 Alben aufgenommen. Am Anfang, wenn du jünger bist, hast du von den Platten, die du machen möchtest, noch recht konkrete Vorstellungen. Nach den ersten fünf ist es dann allerdings wie mit Kindern, die du in die Welt setzt: Du denkst nicht mehr so viel über sie nach, du bekommst sie einfach. Wenn du aber erst einmal 15 Platten gemacht hast, arbeitest du zuweilen an drei Alben gleichzeitig, ohne dass du das selbst so genau weißt.
Wenn du das Glück hast, jeden Morgen mit dem Wunsch aufzuwachen, etwas Kreatives schaffen zu wollen, stellt sich eigentlich nur die Frage nach der Freiheit deines Tuns. Wenn ich ohne Verpflichtungen wäre, würde ich das vielleicht jeden Tag machen: erst einmal ein Bild malen, dann ein wenig nachdenken, anschließend Sex haben, dann schlafen, weiter denken, am Ende auch etwas Musik spielen – und wenn ich am nächsten Morgen aufwache, wieder von vorn beginnen. Theoretisch könnten wir an fast jedem Tag ein paar Songs aufnehmen. Es gibt nur eben einige Verpflichtungen, die uns davon abhalten.
Kreative Prozesse müssen sich frei entfalten: Du beginnst etwas an einem Montagmorgen, am Abend hat es sich bis zu einem gewissen Punkt entwickelt, am Dienstag nimmst du den Faden wieder auf, und erst wenn es tief in dir steckt, wirst du es hören, riechen, sehen, schmecken, fühlen. Wenn es nicht in dir ist, kannst du es natürlich trotzdem machen, es wird dann allerdings keine Bedeutung haben. Ich kann jedoch behaupten: Wir machen heute fast nur noch Sachen, die auch zu uns sprechen.
Aber was bedeutet das konkret für THE TERROR?
Die Platte ist, als würdest du einen dunklen Raum betreten, von dessen Dimensionen und Beschaffenheit du keine Ahnung hast. Aber du spürst, dieser Raum hat etwas mit dir zu tun. Musik berührt dich auf einem solchen unbewussten Level. Sobald du versuchst, sie mit dem Bewusstsein zu erfassen, verkrampfst du. Es lässt sich wohl auch schwer erklären … Ich weiß nur: Wir sind immer dann am besten, wenn wir nicht so genau wissen, was wir tun. Und wenn man das, was man in solchen Momenten schafft, zur Seite legt und sich später wieder greift, bringt es einen tatsächlich zum Staunen. Man fragt sich ernsthaft: „Wer hat das gemacht?“ Man kann sich kaum mehr daran erinnern, wie es entstanden ist, ist aber mit dem Wunsch erfüllt, es weiterzuführen. Dieser Prozess hat sich auf THE TERROR sicherlich mehr als auf irgendeiner anderen Platte von uns manifestiert. Niemand hat uns aufgeweckt. Niemand hat uns gefragt: „Was tut ihr da?“ Es ist einfach passiert.
Trotzdem musstet ihr das Album ja in seiner Form erkennen und zulassen …
Wenn dir erst gar nicht bewusst ist, was du da genau tust, dann geht alles wie von selbst weiter. Du musst einfach nur zur Seite schieben, was dich nicht anspricht. Auf diese Art und Weise sind auch alle Songs miteinander verbunden. Oft waren es nur kleine Ideen, die aus dem Gesamtsound hervorstechen und einem Song seinen Charakter geben. Irgendwann geht diese Idee dann in die nächste Idee über, und daraus ergibt sich der nächste Song. In dieser Hinsicht war THE TERROR für uns tatsächlich ein Durchbruch. Normalerweise machen wir aus kleinen Ideen große Ideen, indem wir ihnen weitere Bedeutungen und Dimensionen verleihen. Diesmal habe wir zugelassen, dass kleine Ideen klein bleiben, so lange sie nur irgendetwas auslösen. Es ging nicht mehr darum, was, sondern allein darum, dass sie etwas heraufbeschwören. Mit dieser Platte haben wir übrigens viele Aspekte der deutschen Gruppe Popol Vuh aufgegriffen. Sie hatten oft Elemente in ihrer Musik, die normalerweise nicht miteinander funktionieren, aber in ihrer abstrakten Klangkunst setzten genau solche Momente, in denen die unterschiedlichsten Elemente aufeinandertrafen, besondere Gefühle frei. Gefühle sind eben auch nicht blau oder orange, sie sind dann eben orangeblau.
Kann das am Ende erklären, warum eure Musik mehr Fragen aufwirft, als Antworten zu geben?
Wir alle wollen Antworten. Der Mensch neigt dazu, alles zu komplettieren. Doch für Musik gilt eben: Sie ist oft gerade dann am eindrucksvollsten, wenn sie sich diesem Drang widersetzt und sich nicht an Regeln hält. Wenn die Rhythmen nicht funktionieren oder die Harmonien nicht stimmen, erzielt das die größten Effekte. Es gibt kein Richtig oder Falsch in der Kunst. Folge deinem Impuls! Fatal wird es allerdings, wenn Musiker glauben, etwas ist schon deshalb gut, weil es alle Regeln außer Acht lässt. So einfach ist es auch wieder nicht. Es gibt kein Rezept.
Mit diesem Wissen gelingt es euch, auf jeder Platte eine neue Verabredung zwischen Kunst und Pop zu finden …
Wir genießen das Privileg, uns über solche Kategorien keine Gedanken machen zu müssen, aber wir sind froh, dass unsere Musik solche Fragen aufwirft. Wenn man obsessiv genug ist, muss man nicht wissen, was man tut, denn man hat alle Antworten, die man braucht. Man kann es einfach tun. Perfektionismus ist unser größter Feind. Selbstverständlich freue ich mich darüber, dass es Dinge gibt, die perfekt funktionieren. Wenn ich zum Beispiel in einem Flugzeug sitze, bin ich froh, dass es perfektioniert wurde. In der Technik ist er ein Segen, doch in der Kunst ist Perfektionismus das größte Übel. Ich war früher selbst ein Kontrollfreak. Aber seit ich die Fünfzig überschritten habe, brauche ich das nicht mehr. Ich kann die Dinge nehmen, wie sie kommen.
Die Flaming Lips haben in ihrer Geschichte sehr unterschiedliche Perioden durchlebt. Die Glampunk-Band vom Anfang hat wenig mit den Popgiganten um 2000 zu tun und diese kaum noch etwas mit den Kunst-Terroristen von heute. Wie sind all diese Inkarnationen miteinander verbunden?
Das ist der große Kampf, den wir kämpfen. Viele Gruppen legen einen grandiosen Start hin und müssen dann darüber nachdenken, wie es weitergeht. Bei uns war das anders, und ist es bis heute. Wir haben keine klaren Eigenschaften. Wir machen einfach nur Musik und passen uns dem jeweiligen Charakter der Musik an, statt die Musik unserem Charakter zu unterwerfen. Wir stellen uns immer wieder aufs Neue die Frage, was Musik für uns sein kann: Woran sind wir interessiert, was spricht uns an? Wenn wir so erfolgreich wären wie – Gott vergib mir! – die verdammten Foo Fighters und dieselbe Musik immer und immer wieder spielen müssten – was sie wahrscheinlich nicht weiter kümmert, für uns aber eine Tortur wäre – würden wir uns fürchterlich langweilen.
Es wäre für uns wirklich sehr einfach gewesen, zehn Platten wie THE SOFT BULLETIN aufzunehmen. Aber wir kannten diese Platte ja schon. Wo blieben da die Überraschungen? Vielleicht war es sogar dumm, kein weiteres SOFT BULLETIN zu machen, aber wir können eben nur dem Weg folgen, den unsere Persönlichkeiten uns vorgeben. Und solange wir uns selbst treu bleiben, können wir sogar ganz gut mit Misserfolg leben. Ich glaube übrigens, dass die Menschen uns trotz unseres stetigen Wandels gut wiedererkennen können. Und wenn mich da draußen Leute ansprechen, denke ich mir: Ich habe zwar keine Ahnung, wer du bist, aber wenn du zu denen gehörst, die unsere Musik hören, kennst du uns wahrscheinlich ganz gut. Ich liebe Gruppen wie Sonic Youth oder die Ramones, die sich einer bestimmten Art von Musik verpflichtet haben. Doch wir sind eben anders. Wir sind immer unterwegs, müssen gerade irgendwo hin, und wir sind gespannt, was dort mit uns passieren wird.
Aber ihr betreibt auch ein ausgeklügeltes Spiel mit den Erwartungen eurer Hörer. Zu Zeiten eurer großen Popplatten wurdet ihr schon als Pink-Floyd-Ersatz gefeiert. Dann habt ihr eure Richtung recht radikal geändert, nur um ein paar Jahre später plötzlich eure eigene Version von THE DARK SIDE OF THE MOON aufzunehmen …
Wir hatten zuvor eine Coverversion des Madonna-Songs „Borderline“ aufgenommen, und als unser Album EMBRYONIC im Jahr 2009 zur Veröffentlichung anstand, wurden wir von iTunes gefragt, ob wir zu diesem Anlass nicht etwas Ähnliches machen könnten. Ich sollte mich allerdings möglichst schnell entscheiden und da kam ich sofort auf THE DARK SIDE OF THE MOON. Uns kam nie in den Sinn, dass dies etwas über uns selbst aussagen würde. Aber natürlich tut es das. Umso mehr, wenn man eine solche Entscheidung intuitiv trifft und nicht lange darüber nachdenkt.
Im vergangenen Jahr habt ihr dann IN THE COURT OF THE CRIMSON KING von King Crimson neu interpretiert. Seid ihr auf den Geschmack gekommen?
Es ist die gleiche Geschichte: Ich spiele am liebsten das nach, was ich mir selbst gerne anhöre. Wenn ich mich für zehn Platten entscheiden müsste, die in meinem Leben eine wichtige Rolle gespielt haben, wäre das eine davon. Diese Platte ist so dermaßen verrückt und mysteriös. Ich habe King Crimson niemals live gesehen und bis heute auch kein Mitglied dieser Band kennengelernt. Ich weiß nicht einmal, was sie danach gemacht haben. Ich mag einfach nur diese eine Platte. Auf die Idee, sie zu covern, kam ich allerdings erst, nachdem eine befreundete Band eine eigene Interpretation von „21st Century Schizoid Man“ aufgenommen hatte. Ein immer noch unglaubliches Stück. Aber es ist eben nur eines von sechs und ich habe mich gefragt: Was ist mit den anderen Songs? … Vielleicht könnte ich ja eine Band gewinnen, die sich für einen dieser anderen Songs verantwortlich fühlt. Ich war einfach nur gespannt darauf, wie sich die Ergebnisse anhören würden.
Wird diese Platte offiziell veröffentlicht?
Wir haben 500 Platten pressen lassen. Wir wollen kein Geld damit verdienen. Wir machen das, weil wir diese Musik lieben. All unsere Freunde haben ein Exemplar bekommen. Das genügt. Unser nächstes Projekt wird das Stone-Roses-Debüt sein. Diese Alben haben heute ja auch einen ganz anderen Stellenwert als damals. Als sie aufgenommen wurden, waren sie Avantgarde, heute sind sie Konsens. Ich liebe beide Aspekte – zum einen: Das ist heilige Musik, die man nicht besudeln darf. Und dann sage ich: „Scheiß drauf, lass es uns trotzdem besudeln!“
Ihr nehmt diese Coveralben gemeinsam mit jüngeren Musikern auf – wie in einer Art Flaming-Lips-Hofstaat. Bands wie New Fumes und Stardeath And White Dwarfs steuern eurer großen Palette weitere Farben bei. Wie kommt es zu solchen Kooperationen?
Ich bin 52. In meinem Alter ist man immer mehr von Altersgenossen umgeben, die jegliche Neugier eingebüßt haben. Sie haben ihre Jobs und ihre Routine, und mehr brauchen sie nicht. Ihr Weltbild ist komplett, sie interessieren sich nicht mehr für neue Kunst oder Musik. Mir ist es jedoch wichtig, mich mit jungen Menschen zu umgeben, die sich noch unsicher sind, was die Welt für sie bedeutet, und nach Antworten suchen. Das setzt Energie frei. Ich profitiere von diesen Bands. Letztlich ist es auch egal, ob wir als Flaming Lips Musik aufnehmen oder mit anderen Künstlern am Werk sind. Wir alle machen Musik, unter welchem Namen das läuft, spielt keine Rolle. Hauptsache, es macht Spaß, es ist kreativ, es bringt mich weiter. Ich werde mich immer mit diesen jungen, verrückten Bands umgeben, denn ich mag, was sie tun, und sie mögen, was ich tue.
Albumkritik S. 76
Alte und junge Inspirationen
Popol Vuh: Die von Wayne Coyne als wichtige Inspirationsquelle genannte Münchner Avantgarde- und Krautrock-Band wurde 1970 gegründet und benannte sich nach einem „heiligen Buch“ der Maya. Der spirituelle Einfluss der an Yoga, fernen Kulturen und exotischen Instrumenten interessierten Band reichte bis in ihre Musik hinein; Bandgründer Florian Fricke zählte gleichzeitig zu den Pionieren der elektronischen Musik in Deutschland. Bekannt wurden Popol Vuh vor allem durch ihre Soundtracks für Werner Herzogs Filme. Der Tod Frickes im Jahr 2001 führte zum Ende dieser Band.
Stardeath And White Dwarfs / New Fumes: Sänger der 2004 in Oklahoma City gegründeten Experimental-Rocker Stardeath And White Dwarfs ist Wayne Coynes Neffe, Dennis Coyne. Neben der Zusammenarbeit mit den Flaming Lips an den Pink-Floyd- und King-Crimson-Coveralben haben sie bislang eine eigene EP und ein Album veröffentlicht. Die „One-Man-Multimedia-Installation“ New Fumes ist das Kind des Texaners Daniel Huffman, und der gilt selbst schon als Veteran der Psych-Rock-Szene. Als Tourgitarrist war er nicht nur mit den Lips, sondern früher auch mit The Polyphonic Spree unterwegs.