Zweite Verlängerung


München, Union-Studios, Herbst 1986. Aus aller Herren Länder sind sie wieder zusammengekommen, um der Legende neues Leben einzuhauchen. Und glaubt man lan Gillan, ging es diesmal sogar geradezu freundschaftlich zwischen den alten Streithähnen zu. Vielleicht lag's ja (s. o.) am harmoniefördernden Ausgleichssport...

Ian Gillan weiß, wie man neugierigen Zaungästen den Wind aus den Segeln nimmt, indem man gleich zu Beginn ein Bonmot zum Besten gibt: „Ich habe erkannt, daß man Musik besser ohne Musiker macht. Deshalb werde ich demnächst auf Musiker verzichten und statt dessen mit Tieren experimentieren. „

Wir sind in der Kantine der Münchner Union-Studios, wo die Purple-Gang gerade an ihrem neuen Album bastelt. Ian, der mit seinen 40 Lenzen auch nicht mehr der Jüngste ist, hat selbst nach 20 Jahren in der Rock ’n‘ Roll-Tretmühle nicht seinen Humor verloren. Seine „neueste Theorie“ allerdings ist nur eine Finte, um vom eigentlichen Thema abzulenken. Denn in lans Brust schlagen schon seit längerem zwei Seelen. Die eine gehört, wie könnte es anders sein, Deep Purple; die andere dagegen Richard Branson, dem Boß von Virgin Records. Der clevere Geschäftsmann hat nämlich Ian solo unter Vertag und verdient dank einer Vertragsklausel an den weltweiten Erfolgen von Deep Purple mit. Gillan zwischen den Stühlen und Fronten? „Dummes Zeug“, setzt sich der Purple-Sänger zur Wehr. „Virgin haben sich mir gegenüber bislang fantastisch verhalten. Sie sind sehr geduldig, obwohl MAGIC das letzte Gillan-Album war — und das liegt schon einige Jahre zurück. Danach bin ich für ein Jahr bei Black Sabbath eingestiegen, um schließlich wieder bei Purple zu landen.

Sie stehen also immer noch mit leeren Händen da, bleiben aber trotzdem cool, denn sie wissen, daß meine erste Liebe Deep Purple gehört. Jetzt, wo wir mit dem Album fast durch sind, werde ich wohl wieder Zeil finden, mich mehr um meine Soloverpflichtungen zu kümmern. Wenn alles gut gehl, werde ich spätestens im Jahr 2(XX) das überfällige Album abliefern.“

Sicher ist auf jeden Fall, daß wir auf das nächste Lebenszeichen von der Band, laut lan „das ultimative Deep Purple-Album“, nicht erst bis zur Jahrtausendwende warten müssen. Am 12. März ’86 begannen die eigentlichen Aktivitäten. Der Clan versammelte sich, wie schon bei PERFECT STRANGER (1984), zuerst bei Roger in Greenwich, Connecticut, danach in Vermont in einem leerstehenden Theater, das mobile Aufnahmestudio gleich vor der Tür.

Nach dem überraschenden Comeback der klassischen Formation Deep Purple Mark II (mit Ian, Roger Glover, Ritchie Blackmore, Jon Lord und lan Paice) ließ man sich diesmal allerdings nicht drängen, wollte von

Beginn an nichts Übersturzen. „Wir haben uns etwas mehr Zeit gelassen, nachdem das letzte Album für meine Begriffe doch etwas zu spontan entstanden ist. Nach all diesen Jahren mußte sich jeder erst einmal auf die neue Situation einstellen, wollte keiner dem anderen gleich auf den Schlips treten. Und so war denn die Atmosphäre, musikalisch gesehen, auch alles andere als aufregend und produktiv.

Bei dieser Produktion hatte jeder weitaus mehr zu sagen — und allein deshalb dauerte sie auch erheblich länger. Wir haben eine Unmenge von Material wieder verworfen, weil niemand so recht zufrieden damit war. Trotzdem glaube ich, daß sich diese An zu arbeiten lohnt, daß das Ergebnis uns am Ende recht gibt.“

Im Januar ’87 wird man genaueres wissen. Dann muß sich zeigen, wer wirklich Herr im Hause des Hardrocks ist, ob die Senioren in der Lage sind, die junge Konkurrenz in die Schranken zu verweisen. Das neue Album, THE HOUSE OF BLUE NIGHT, soll die Spreu vom Weizen trennen. „Neun Songs sind bereits im Kasten. Einer wird noch zusätzlich auf CD und Cassette erscheinen. Im Augenblick gibt es nur einen einzigen Song, „Mitsy Dupree“, auf den wir uns nicht einigen können, oder besser gesagt, mit dem die anderen nicht ganz glücklich sind.

Ursprünglich nur als Demo gedacht, fanden Roger und ich aber sehr bald Gefallen daran und haben weiter daran gearbeitet. Vielleicht wird der Song die B-Seile einer Single. „

Arbeitsteilung hat bei den Purples schon Tradition. Während Ritchie, Roger und Jon Note für Note den musikalischen Grundstein legen, kann lan, kraß gesprochen, noch in aller Ruhe privatisieren, sich Frau und Familie widmen oder sein großes Hobby, die Tischlerei, pflegen. „Erst wenn der Rohbau stein, bin ich gefordert, muß die Texte zu den Songs schreiben und singen. Solange die anderen noch an der Musik basteln, gibt es für mich kaum was zu tun.

Einmal habe ich vier verschiedene Stories über ein und denselben Bakking Track geschrieben und anschließend alles wieder gelöscht, bis die Elemente zusammenpaßten.

Ich wundere mich, daß ich überhaupt noch Haare auf dem Kopf habe, so oft wie ich sie mir vor lauter Anstrengung ausgerissen habe. Was soll’s, wir müssen nun mal unser Soll erfüllen, darunter geht gar nichts. „

Verantwortlich dafür, daß dies Ziel auch erreicht wird, ist Roger Glover, der etatmäßige Bassist und Produzent der Band. Schon zu Rainbows Zeiten verließ man sich ganz auf seine sensiblen Finger und sauberen Ohren. „So wie es aussieht, wird er noch ein, zwei Wochen brauchen, um alles unter Dach und Fach zu bringen. Ich bin fertig und gehe wieder zurück nach England. Ich weiß nicht warum, doch irgendwie bin ich ziemlich frustriert, wahrscheinlich weil ich noch mehr machen wollte.

Andererseits ist es wohl besser, wenn ich Roger für eine Weile aus dem Weg gehe, sonst springt er mir noch an den Hals, so sehr muß ich ihn genervt haben. „

Man höre und staune! Wo sich früher, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, die dicken Egos regelmäßig in den Haaren lagen, man lieber getrennt als zusammen reiste, jeder in seiner eigenen Limousine vorfuhr, herrscht heute erstaunliches Verständnis.

„Normalerweise beginnen wir 12 Uhr mittags mit der Arbeit und hören nicht vor zwei Uhr in der Frühe auf. Natürlich sind nicht alle zur gleichen Zeit beschäftigt. Meist spielt die Rhythm-Seakm zusammen, ich sitze über den Lyrics oder Ritchie probiert einen Gitarrensolo.

An drei oder vier Tagen in der Woche machen wir schon nachmittags Schluß und spielen Fußball. Jeder von uns stellt auf Fußball, nur Jon spielt Tennis. Im Anschluß an das Match gehen wir gemeinsam essen, genehmigen uns einige Drinks, um schließlich sturztrunken auf dem Teppich zu landen; zumindest mir passiert das häufiger, weil ich so undiszipliniert bin und nicht aufhören kann. Übrigens gehen wir auch oft gemeinsam in Urlaub.

Dieser Zusammenhall überträgt sich natürlich auch auf die eanze Atmosphäre im Studio. Man sitzt da und meint plötzlich: , Was hallet ihr davon?‘ — ohne befürchten zu müssen, von den anderen auf der Stelle niedergemacht und untergebutten zu werden. „

Das überrascht mich um so mehr, als man weiß, daß gerade Ritchie, dem großen Egomanen, gern die Pferde durchgehen. Oder ist auch er in der Zwischenzeit erwachsen geworden?

„Die meisten Leute verstehen Ritchie falsch. Er ist im Grunde sehr umgänglich und ausgesprochen sensibel. Doch sobald er in die Öffentlichkeit tritt, vermittelt er ein völlig falsches Bild von sich. Zu Beginn seiner Karriere spielte er gewöhnlich hinter der PA und nicht davor. Das ist alles nur eine Frage des Selbstbewußtseins. Wenn er jemanden mag, ist es ok, wenn nicht, versteckt er sich lieber.

Alles, was nicht mit Musik zu tun hat, geht ihm nur auf den Geist. Viele Leute können ihn nicht einmal ans Telefon locken. Falls jemand anruft, wird ihm seine Freundin unter Garantie mitteilen: „Ritchie kann nicht ans Telefon kommen, da er gerade die Katze wäscht. Wie dem auch sei: Ritchie und ich sind ausgezeichnete Freunde.“

Schnitt, Szenenwechsel. So zwanglos das Gespräch anfangs dahinplätscherte, so bestimmt ist es nun. Der „Optimist, den nichts erschüttern kann“, wie er von sich behauptet, ist längst dem Realisten gewichen, der den Zustand des heutigen Hardrocks nüchtern kommentiert. „Schon vor sechs, sieben Jahren dachte ich, der Hardrock sei gestorben. Was ich damals hörte, war Schrott. Deshalb begann ich, mich für neue Bands, neue Sänger zu interessieren, entdeckte dabei Talente wie Paul Young, die Eurythmks oder Talking Heads — grandiose Musik, glänzende Songs.

Verglichen mit dem Hardrock der frühen 70er Jahre, dieser Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten, fallen mir heutzutage nur wenige Songs ein, die damit Stand halten können. Das meiste ist Lärm — und mir ist es ein Rätsel, warum die heutigen Kids sich das antun.

Vielleicht sollten wir verstärkt darauf achten, was in den Staaten geschieht, mit Bands wie Van Haien, Foreigner oder Journey, die mit ihrem unverkrampften, kommerziellen Stil neue Maßstäbe und Richtlinien gesetzt haben. Mit jenen Bands haben wir uns zu messen. Statt Lärm zu machen, sollten wir uns auf die Musik konzentrieren.“