Zum 74. Geburtstag Lou Reeds: „Ernüchtert“ aus dem ME/Sounds 04/1989


Für die April-Ausgabe der 1989er-ME/Sounds traf Steve Lake den 46-jährigen Lou Reed zu einem Gespräch über sein damals aktuelles Album NEW YORK. ME/Sounds-Mitarbeiter Lake versuchte herauszufinden, warum der jahrzehntelange Rausch Reeds aus Großstadt-Zombies, Drogen-Wracks, Transsexuellen ein jähes Ende nahm.

Sein Ärger steigert sich zu blankem Haß. „Wie kann die deutsche Plattenfirma so etwas durchgehen lassen?! Warum, zum Teufel, hat mich niemand gefragt?! Wer erlaubt es einem Übersetzer, meine Texte nach Belieben zu interpretieren?!“ Eine unglaubliche Schweinerei. Er will die Übersetzung zurückziehen lassen, will Sticker auf die Alben kleben lassen, daß sich Lou Reed von den Übersetzungen distanziert.

Als er sich schließlich beruhigt, versucht er seinen Ärger mit einem gequälten Lächeln zu überspielen. “ Weißt du, was Warhol in dieser Situation gesagt hätte? . Oh, diese Version ist doch viel interessanter als das, was ich schrieb!‘ Der Punkt ist nur: Es ist nicht interessanter, es ist Quark!“

Sowohl Warhol als auch Velvet Underground haben seine Gedanken in jüngster Zeit verstärkt beschäftigt. Trotz aller Versuche, die Vergangenheit zu verdrängen, kann er eine gewisse Nostalgie nicht abschütteln. „Dime Store Mystery“ etwa ist eine Meditation über den Tod, in dem Reed assoziative Parallelen zieht zwischen Christus‘ Tod und den letzten Stunden von Andy Warhol.

„NEW YORK hat erstmals die durchgängige Qualität, die ich mir für meine Platten immer gewünscht habe.“ – Lou Reed

Besagter Song wiederum war das Vorspiel zu SONGS FOR DRELLA, einem Requiem für Warhol, das Reed und sein alter Velvet-Partner John Cale im Januar in New York aufführten. („Drella“, die Kurzform von Cinderella/Aschenputtel, war Warhols Spitzname.) Beide hören nicht auf, Warhols Großzügigkeit zu unterstreichen – eine Eigenschaft, die man gemeinhin dem Pop-Art-Guru nicht gerade attestiert hat.

Reed jedenfalls ist sich der Schuld nach wie vor bewußt, fragt sich aber gleichzeitig, ob seine Hörer Statements wie diese überhaupt registrieren. „Niemand hört den Texten in der Rockmusik überhaupt noch zu, ist es nicht so? Andererseits: Wenn ich nicht mein Bestes gebe, hasse ich mich selbst. Ich habe mein Talent oft genug in den Schmutz gezogen, indem ich Material veröffentlicht habe, das die Veröffentlichung nicht verdiente. NEW YORK hat erstmals die durchgängige Qualität, die ich mir für meine Platten immer gewünscht habe. Die Worte haben wirklich Substanz und Bedeutung. Und die Musik ist wunderbar rauher Rock’n’Roll.“

Was uns zu der Frage bringt, ob Rock’n’Roll wirklich in der Lage ist, komplexe Texte umzusetzen?

„Das ist natürlich die große Frage. Ich bin noch immer ein Fan der drei Akkorde. Die Einfachheit der Musik hat dem, was ich mit Worten mache, immer gut zu Gesicht gestanden. Doch je intensiver die Worte werden, desto größer wird auch die Gefahr, daß die Musik die Texte nicht mehr trägt. Aber das ist ein kleiner privater Kampf, den ich mir ständig selbst liefere.“

Er seufzt. „Letztlich mache ich meine Platten sowieso nur für mich. Denn niemand scheint die Platten zu machen, die ich gerne höre.“