Zukunftsmusik


Stell Dir vor, Du gehst morgen in den Plattenladen, und es gibt keine Platten mehr. Was vor kurzem noch futuristische Spinnerei war, nimmt nun konkrete Formen an. Aber gehört deshalb dem elektronischen Musikhandel wirk ich die Zukunft?

Am 1. Juli kam er höchstpersönlich nach Hamburg, um Schallplatten zu verkaufen. Virgin-Gründer Richard Branson. der in Hamburg seinen jüngsten ,.Mega-Store“ eröffnete, hatte einen langen Weg zurückgelegt. Als 2Ojähriger hatte er einen kleinen Laden in London eröffnet; knapp zehn Jahre später entstand in derselben Straße der erste „Mega Store“. Hier bot der jugendliche Multimillionär nicht nur Vinyl in allen Formen und Farben an, sondern auch Bücher, Musikzeitschriften. T-Shirts und Konzertkarten. Heute künden 20 „Mega Stores“ in Europa. Australien, Japan und seit kurzem auch in Los Angeles von der Virgin-Vision.

Die Zauberformel heißt Erlebniskauf. Der überraschte Konsument wird durch einen multimedialen Zirkus animiert. Er betritt eine Welt aus Tönen und Bildern, die sich auf verschiedenen Formaten leicht nach Hause tragen lassen. Ein „Mega Store“ ist kein Ladengeschäft im üblichen Sinne. Es ist eine audiovisuelle Spielwiese, die dazu einlädt, ganze Nachmittage auf ihr zu verbringen. Der Virgin-Jünger kann durch einen riesiges Angebot an alten und neuen Titeln stöbern, Videos anschauen, in Büchern blättern oder Computerspiele ausprobieren. Die Wahrscheinlichkeit, daß auch der Unentschlossenste mit einer Einkaufstüte den Laden verläßt, liegt angesichts der Vielzahl von Kaufreizen nahe hundert Prozent.

Das in sich geschlossene Musik-Reich soll auf jeden, der seine Pforten durchschreitet, einen unbezwingbaren Impuls ausüben, etwas zu erstehen und damit Teil dieser wunderbaren Welt zu werden. Das Erlebniskonzept, dessen sich bekanntlicherweise auch Gastronomen, Ferienclubs und sogar Fernsehsender bedienen, wirkt auch als Wunderwaffe gegen die Gefahren, die die Zukunft bringt. Und die möglicherweise sogar komplett ohne Tonträger auskommt…

Die erste Bedrohung kommt aus dem Weltall. Denn dort lauern Satelliten, die nicht nur Telefonate und TV-Programme übertragen, sondern auch „Digitales Satelliten Radio“ (DSR). Bisher führt dieses Medium ein Mauerblümchendasein, da das Empfangsgerät teuer und der Klang nicht entscheidend besser ist als der analoge aus dem Kabelnetz.

Doch DSR eröffnet neue technologische Möglichkeiten, die den Abgang des physischen Tonträgers beschleunigen könnten. DSR ist in der Lage, die verbreiteten Sender nach ihrer jeweiligen Stilrichtung zu unterscheiden. Gibt der stolze Tuner-Besitzer die Stichworte „Pop“ oder „Klassik“ ein, so sucht das Gerät nach den entsprechenden Programmen.

Doch damit nicht genug: Der ¿

.international Standard Recordmg Code“ (1SRC) ermöglicht die elektronische Identifikation jeder CD. In naher Zukunft kann der Benutzer die gewünschten Codes in den Tuner eintippen und so gezielt und ganz automatisch Titel seiner Wahl mit dem angeschlossenen Cassetten-Deck aufzeichnen — in digitaler Qualität.

In den USA gibt es bereits die „Satellite Jukebox“ — ein Fernsehprogramm, das „nationwide“ ausgestrahlt wird und das es dem Zuschauer ermöglicht, per Telefon bestimmte Musikvideos abzurufen — für zwei Dollar pro Stück. Der Wunschkonzertsender wird immer beliebter, weil er erstens werbefrei ist und weil MTV zweitens immer mehr Nicht-Musik-Programme ausstrahlt.

So wie bebilderte Musik auch ohne Video-Cassette gezielt geordert werden kann, wird bald auch Musik auf Scheiben antiquiert sein. Klaus-Michael Karnstedt, Geschäftsführer des Peer Musikverlages; „Es wird nicht mehr lange dauern, bis es keine Schallplatten mehr gibt. Bald wird man sich die Musik über den Bildschinn ins Haus holen, wo man sie dann noch in bester Qualität abspeichern kann. Vergütet wird das Ganze dann mit einer Monatspauschale. Die Industrie könnte sich auf die Einspeisung verlegen, vielleicht sogar zu Satellitengemeinschaften zusammenschließen, „

Helmut Fest, Geschäftsführer der EMI Electrola ergänzt: „In zehn Jahren werden wir die Musik über Kabel und Satellit ins Haus bekommen. Trotzdem wollen wir Musiklieferanten bleiben. Solange wir die rechtlichen Eigentümer des Repertoires sind, werden wir im Geschäft bleiben — gleichgültig, auf welchem Wege wir die Musik verkaufen.“

Das neue Schlagwort heißt „Multimedia“: So wie vor zehn Jahren alles unter „Neue Medien“ subsummiert wurde, muß heute alles „interaktiv“ oder „multimedial“ sein. Doch das Etikett ist nicht falsch, nur weil es trendy ist. Die Verknüpfung von TV und Radio mit Telefon- und Datenleitungen eröffnet neue Perpsektiven. Das Fernsehgerät ist nicht nur simpler Bildschirm, sondern demnächst Steuereinheit (dank Fernbedienung) für Computerprogramme, Tele-Shopping, electronic banking, Datenbanken, Monitor für Bildbearbeitung und vieles mehr.

In den USA haben jetzt die großen privaten Telefongesellschaften die Erlaubnis erhalten, ins Kabelfernsehen einzusteigen. Damit rückt interaktives Femsehen in greifbare Nähe. Im New Yorker Stadtteil Queens betreibt Medienriese Time Warner bereits ein Kabelnetz mit 150 TV-Kanälen. So wie der Filmfreund heute im 15-MinutenRhythmus aus aktuellen Hollywood-Hits auswählen kann („Pay-per-View“), ist theoretisch und praktisch auch der Abruf von Musik(-videos) gegen Gebühr möglich.

Während die Telefon- und TV-Gesellschaften noch dabei sind, sich die diversen Verknüpfungspunkte auszumalen, ist Computer-Gigant IBM schon dabei, den Schritt in die tonträgerlose Zukunft zu beschleunigen. Gemeinsam mit der Musik- und Video-Handelskette „Blockbuster“ entwickelte IBM einen elektronischen Kiosk, der es dem Kunden ermöglicht, die gewünschte CD selbst herzustellen: Der Ton kommt dabei per Satellit oder Glasfaserkabel von einer zentralen Sound-Datenbank; das Cover wird im Kiosk von einem Laserdrucker ausgeworfen; die Bezahlung erfolgt per Kunden-Kreditkarte; innerhalb von sechs Minuten ist der silberne Rohling mit der gewünschten Musik bespielt und mitnahmebereit. Dasselbe Verfahren (siehe Kasten) läßt sich auch auf Videos und Computerspiele anwenden.

Vorteil des IBM/Blockbuster-Systems: Der große Frust bei der Suche nach besonders begehrten oder besonders abseitigen Werken bleibt aus. Der Spruch „Haben wir nick, kommt nächste Woche wieder rein“ gehört der Vergangenheit an. Laut „Blockbuster“ verlassen fast die Hälfte aller Kunden, die einen bestimmten Kaufwunsch haben, den Laden mit leeren Händen.

Auch für Leute, die ohne konkrete Vorstellungen im elektronischen Kiosk Platz nehmen, ist gesorgt. Der IBM-Computer ist so schlau, daß er aufgrund der Daten auf der Kunden-Kreditkarte erkennt, welche Platten bisher gekauft wurden—und sucht daraufhin Titel, die dem so ermittelten Musikgeschmack entsprechen. Wer mit Claptons „Unplugged“ in der Kundenkartei verzeichnet ist, dem werden auch Neil Youngs Akustik-Set, aber auch Platten von den Gitarren» Stevie Ray Vaughan, Robert Cray oder Jeff Beck ans Herz gelegt.

Ersetzt der elektronische Kiosk somit die Beratung und überhaupt die bisherige Form des Handels? Bislang stehen die Plattenfirmen dem neuen System noch skeptisch gegenüber. Zu groß ist die Angst davor, daß die neuen Übertragungswege von Sound-Piraten angezapft werden könnten, zu schwer wiegt die Sorge, daß sich der Käufer seine „Personal CD“ zusammenstellt. Denn dann wären nur noch einzelne Hits und nicht komplette Alben gefragt.

Ein ähnliches Projekt namens „Personics“, das maßgeschneiderte Musicassetten anbot, mußte 1991 Konkurs anmelden — die anfängliche Neugier des Publikums war schnell gestillt und die Bereitschaft, Zeit und Gehirnschmalz darauf zu verwenden, eine Cassette zusammenzustellen, war Vielen doch zu viel.

Welche Chancen hat also das Blockbuster-Prinzip? In Amerika soll in diesen Wochen entschieden werden, ob es 1994 losgeht; in Deutschland denkt man — wenn überhaupt — an einen Start in fünf Jahren. „Es gibt bereits ein deutsches System, das einsatzbereit ist“, sagt Bodo Bochnig, Händler in Wuppertal und Vorsitzender des Fachverbandes Schallplatte. „Doch weder Industrie noch Handel halten die Zeit für reif.“

Heinz Stroh vom Verband der Musikhändler wittert aus anderen Gründen Gefahr: „Falls sich solche Selbstbedienungsformen durchsetzen, ist der Verkauf von Musik nicht mehr an den Fachhandel gebunden. Jede Tankstelle, jeder Supermarkt könnte solche Boxen bereithalten. Bei dem Versuch, dem Konsumenten attraktive Technologie anzubieten, besteht das Risiko, das Kind mit dem Bade auszuschütten, also den Fachhandel überflüssig zu machen. „

„Für große Handelsformen wie WOM, Saturn, Mediamarkt oder Karstadt ist das Blockbuster-System ungeeignet, weil man trotz der elektronischen ,Verkäufer‘ auch Hilfe durch Fachpersonal braucht“, so Bodo Bochnig. Die Plaitenfirmen wären auch zurückhaltend, weil sie nicht auf Präsentationsflächen verzichten wollen, meint Bochnig. Ältere Katalog-Ware ließe sich schlechter absetzen, weil man nicht mehr beim Blättern in den Regalen über sie stolpert. 40 Prozent der Kunden wissen nicht genau, was sie wollen, wenn sie einen Plattenladen betreten.

Doch aus dem Mutterland der Selbstbedienung naht die Lösung. Der wankelmütige Käufer kann sich in ausgewählten Läden in New York, St. Louis und San Diego von einem elektronischen „shop assistant“ beraten lassen. Der sieht aus wie ein kleines ,.i“, heißt daher „i-station“ und ist eine Art Info-Säule. Alle Stücke von 30.000 Alben sind in dem kleinen Kerl gespeichert, doch damit nicht genug: Auch Videoclips und Rezensionen sind abrufbar. Unter dem Motto „disks without risks and cassettes withoui regrets“ kann man so „try before you buy“ praktizieren — pro Titel 30 Sekunden lang. Ist man mit dem Gehörten nicht glücklich, bietet der Computer von sich aus andere Alben desselben Interpreten an.

Auch an die Marktforschung ist gedacht: Am Ende jedes Hörtests kann der Musikfreund das Werk benoten — von „excellent“ bis „poor“. Die Bewertungen werden an die Plattenfirmen weitergeleitet. Kein Wunder, daß „i-station“ von allen großen Firmen unterstützt wird.

Angesichts stagnierender Einkommen und steigender Preise ist es nur allzu verständlich, daß der Schallplattenkäufer immer weniger dazu bereit ist, die Katze im Sack zu kaufen. Der gute alte Vorspiel-Service gelangt daher zu neuen Ehren. Woolworth, in Großbritannien einer der drei größten Musik-Verkäufer, installierte im Rahmen eines neuen Designs auch hunderte von Info-Säulen, an dem man Singles anhören und Titel per Computer bestellen kann, „fnac“, in Frankreich mit 40 Medienmärkten führend, hat mit seinen Terminals großen Erfolg. Mit dem Finger auf dem Bildschirm wählt man sich durch Musikgenres, Interpreten und Alben, bis einzelne Tracks auszugsweise angespielt werden. Auch WOM beginnt noch in diesem Jahr die Testphase eines Info-Systems („MUZE“), das dem Kunden Informationen (Rezensionen, Tracklisting etc.) über die gewünschte Platte liefert. Der Käufer kann sich seine Wunschliste ausdrucken lassen und damit zum Verkäufer gehen. Im neuen Hamburger Virgin-Mega-Store ist es erstmals möglich, an 12 Audio-Terminals gezielt unter jeweils sechs verschiedenen CDs auszuwählen — zusätzlich zu einem Dutzend Hörplätzen am Verkaufstresen.

Ob Großform oder Mittelstand — alle setzen auf zusätzliche Reize. Der Mediamarkt auf der grünen Wiese lockt mit Dumping-Preisen, der Mega-Store mit „Erlebnis“, der Fachhändler an der Ecke mit persönlicher Beratung und schnellem Service. Allen gemeinsam ist die Überzeugung, daß der Kauf von Platten und Cassetten mehr ist als nur ein Erwerb von Waren. „Elektronische Verkaufshilfen können den persönlichen Service nur unterstützen, nicht ersetzen“, meint denn auch Clement Stehlin, Leiter der Berliner fnac-Dependance. Systeme wie das von Blockbuster lassen nach seiner Ansicht außer Acht, daß der Kunde „Auswahl sehen will, CDs in die Hand nehmen will, darüber sprechen will. „

Auch Wolfgang Orthmayr, Einkaufschef von WOM, sieht den möglichen Umwälzungen gelassen entgegen. „Aus unserer Sicht hat die ,electronic delivery‘ keine Chance, weil Bildschirm-Infos und Computer die Atmosphäre des Ladens nicht ersetzen können. Ich sehe die neuen Systeme nicht als Gefahr, jedenfalls nicht in diesem Jahrhundert. Und sollten sie sich später doch einmal durchsetzen, dann wird das zu einer kulturellen Verarmungführen, da nur noch Einheitsmusik angeboten und verkauft wird. „

Mega-Händler Richard Branson räumt ein, daß man mit IBM/Blockbuster enge Kontakte habe. „Wir haben das Projekt mit ihnen diskutiert. Aber es ist noch in einem sehr frühen Stadium. Das Einkaufen von Zuhause aus wird sicherlich einige Kunden ansprechen, aber ich glaube, daß viele Musik-Interessierte auch in Zukunft lieber in den Laden gehen. Es ist ein Teil des Lebens, und im Mega-Store ist es außerdem noch Entertainment und ein gesellschaftliches Ereignis. „

Mit dieser Meinung scheint Branson nicht allein zu sein. Die Medien-Giganten Time-Wamer und Bertelsmann brüten offensichtlich, allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz, über dem Konzept eines futuristischen Media-Marktes, der das Gespenst des tonträgerlosen Musikhandels ein für allemal vertreiben soll.

Volker Schnurbusch

„Chaos* heißt Herbert Grönemeyers neues Album, und Chaos verursacht Herbert derzeit beim Goethe-Institut: Die deutschen Kultur-Pilger müssen auf Wunsch des Sängers einen Videomitschnitt des Frankfurter Antifa-Festivals „Heute die — Morgen du* vom Dezember 1992 (Herbert sang dort „Luxus“) einstampfen, der weltweit als Lehrfilm gegen das häßliche neue Deutschlandbild eingesetzt wurde. Grönemeyers Anwalt erwirkte eine Einstweilige Verfügung (Streitwert 500.000 DM) – die Goethe-Filialen in aller Welt müssen jetzt das Band wieder zurückschicken. Grund für Herbies Ärger: Er wurde wegen des Videos nicht gefragt. Und überhaupt: Er hält das Konzert im nachhinein für eine völlig verlogene Veranstaltung.