Wucht in Tüten


Unpolitisch sind sie, unabhängig und voll ernsthafter Emotionalität. Muse verleihen mit Absolution dem eigenen Denkmal einen goldenen Sockel.

Ein Helikopterrundflug über München kostet 170 Euro für 20 Minuten. An diesem heißen Sommernachmittag bekäme man dafür außer der herrlichen Bergsicht noch einen höchst interessanten Anblick serviert. Vorausgesetzt, der Pilot flöge tief genug über das Münchner Hotel, in dem Muse aus Devon, England, residieren. Auf der dortigen Pool-Terrasse liegen nämlich, mitten zwischen sich nackt überlappenden Bikinikörpern, drei korrekt schwarzgekleidete junge Männer auf gelben Liegestühlen. Und als wäre das bei 31 Grad Lufttemperatur nicht wunderlich genug, tragen sie auch noch blaue Plastiktüten an den Füßen.

Die Tüten, sagt die Hotelangestellte, dienen dem Schutz der Nasszone vor den Sohlen der drei Jungs. Sie sagt das, vermutlich, ohne zu wissen, wie viel tatsächlich an diesen Sohlen klebt. Zwei Alben etwa T auf denen ein schmaler Teenager einige ungeheuerliche Sachen mit seiner Gitarre macht. Auf denen er seine Stimme durch die Oktaven jagt und die Lieder mit etwas versieht, was einsame Menschen nachts wach hält. An den Sohlen dieser Band klebte bis zur zweiten Platte origin of symmetry aber auch der hartnäckige Vorwurf, immer nur im langen Schatten von Radioheads OK COM-PUTER vor sich hin zu wursteln. Das aber ist an diesem Nachmittag am Pool längst freigespielt, abgetreten, weg.

Jetzt sitzen die drei Schulfreunde da, seelenruhig, das dritte Studioalbum ABSOLU-TION fix und fertig im Kasten, die Tour im Herbst gebucht. Keine Post-Aufnahme-Depression? „Nein, es ist wirklich cool, aus dem Studio zu kommen und zu wissen, endlich ist alles drin, deine ganze Arbeit ist aufgenommen, und nichts wurde vergessen. Wirfreuen uns darauf, die Sachen live auszuprobieren.“ Zur Bestätigung lässt Chris Wolstenholme seinen Worten einen Schluck Bier folgen, mit dem er sich in keinem Münchner Biergarten verstecken müsste. Matt Bellamy, der bis eben noch wie tot in der Sonne lag, spielt mittlerweile mit dem Diktiergerät und flüstert immer „weird, weird“, während Dominic Howard ein endloses Telefonat beginnt. Der Drummer kümmert sich gerade um den letzten Schliff für die Covergestaltung von ABSOLUTION und watschelt mit eingetüteten Füßen um den Pool.

Von selbst beginnt Matt dann irgendwann zu sprechen, ungefragt und ungebremst: .absolution ist zu etwa 50 Prozent mit Mitteln gemacht, die die Fans schon vonfrüheren Alben kennen. Der andere Teil ist gleichzeitig straighter und poppiger ab bei den Alben zuvor. Dazu gibt es noch einige Experimente, etwa mit Orchester-Unterstützung und elektronischen Sounds. Alles in allem funktioniert die Platte wohl wie eine Art emotionaler Gemischtwarenladen.“

Dabei handelt es sich um einen Gemischtwarenladen mit internationalem Flair. Den größten Teil davon nahmen Muse in zwei Monaten in Irland auf, für die abschließende Feinarbeit buchten sie die Cello Studios in L.A. Zu einer Zeit, als sich die USA im Krieg befanden. „Das Studio in Irland lag mitten im Niemandsland. Der richtige Ort, um auf den Boden zu kommen und konzentriert zu arbeiten. In den USA war die Stimmung merkwürdig. Obwohl wir dort nur noch Details hinzufügten, kommt es mir vor, als hätte sich etwas von dieser Stimmung auf der Platte konserviert.“

Möchte man dieser fein nuancierten transatlantischen Stimmung auf der Platte nachforschen, hat man zunächst keine Chance. Da ist einfach kein Durchkommen. Der Eindruck, der sich beim ersten Hören von Absolution einstellt, ist eine Art Überquellen. Eine 14-teilige Melodieüberschwemmung, die, gerade bevor sie wüsten Schaden anrichtet, in ein leeres Flussbett fließt, wo sie sich zwar windet, aber doch kraftvoll in eine Richtung strömt. Da ist es wieder, dieses vermaledeite Muse-Gefühl: dass man schlicht nicht verstehen kann, was da so tief klingt. Weil sie doch nur zu dritt sind und gerade mal Mitte 20. Weil Rock momentan mit „The“ geschrieben wird. Teilt man Matt Bellamy diese Nöte mit, lächelt er nachsichtig und winkt ab. All das habe er oft gehört, all das sei ihm egal, nur zum Überquellen sagt er grinsend: „Dabei haben wir unsere ganzgroßen Orchesterplänefallengelassen‘.’TatsäLchlich wurden anfangs probehalber ein paar Songs mit Backgroundchor und Orchester, insgesamt 130 Musikern, eingespielt. Nach der Auswertung und nicht zuletzt nach dem Kriegseintritt Großbritanniens blies die Band die Operation Bombast jedoch ab. „Es klang wahnsinnig. Aber die Zeiten waren nicht danach “ sagt Chris Wolstenholme, sein Weißbierglas ist leer. „Obwohl wir keine politische Band sind“, setzt er nach.

Die eigenartigen Zeiten begünstigten stattdessen eine Produktion, die dem rauschhaften Erfolg der letzten Jahre, der überdrehten Verzweiflung, die so freigiebig verschüttet wurde, nachträglich ein solides Fundament geben könnte. Andere werden später über absolution sagen: Muse wollten unbedingt erwachsen werden. Doch hier und jetzt widersprechen Matt und Chris gleichzeitig dieser These. Die ungefähre Botschaft aus dem entstehenden Satzgewirr: Muse denken nicht an die Menschen da draußen, während sie ihre Lieder konzipieren. Die Musik kommt aus ihnen und ist nichts anderem unterworfen als den eigenen Gefühlen. Und wer was anderes behauptet, ist mindestens doof.

Immerhin durfte Wunschproduzent Rieh Costey die Emotionseruptionen durch seine rockschwieligen Hände gehen lassen, und schon für die erste Single „Stockholm Syndrome“

möchte man der Band zur Produzentenwahl gratulieren. Der Song zeigt stellvertretend für das ganze Album, dass hier eine Band unter zarter Führung mit sich ins Reine kommt. Große Journalistenfrage: „Stockholm-Syndrom“ ist doch ein kriminalistischer Begriff für die intime Beziehung zwischen Geisel und Geiselnehmer, was wollen Muse denn damit andeuten? Ihre Beziehung zum Publikum, zu den gefesselten Fans gaT?“N!chts!“sagt Matt und prustet los, dass die Plastiktüten an seinen Füßen rasth.da.J3er Ausdruck klang einfach gut.“ Alles lacht, und kurz blitzen die 25 Jahre dieses Frontmans heraus, der sonst alle Fragen ruhig und sehr ernst beantwortet.

Übrigens wurde das Lied, dieser erste leckere Appetithappen, nur im Internet veröffentlicht. Warum? „Wir wissen, dass das Internetein wichtiger Platz ist, um Musik zu präsentieren und zu verkaufen. Man sollte nichtseine Kraft damitverschwenden,diese Möglichkeit zu bekämpfen, sondern versuchen, sie sinnvoll zu nutzen“ Die Lust, etwas ganz Neues auszuprobieren, klingt ebenso durch ABSOLUTION wie der Wille, an Altbewährtem weiter zu arbeiten. Wie gut dieses Experiment glückt, lässt sich an der zweiten Auskopplung ,Jime Is Running Out“ nachvollziehen: märchenhafte Klangschwaden, aufbrausende Elektronika und Samples. Dazwischen Matts Stimme, eindringlicher als je zuvor. Muse spielen mit Absolution Geisterfahrer auf der aktuellen Rockautobahn. Klingen nicht besonders britisch und auch nicht amerikanisch, manchmal nach Queen oder gar Pink Floy d, aber die meiste Zeit einfach nur nach, nun ja, Muse.