Wo ist da der Hit?
Elvis Presley, Michael Jackson, Britney Spears: Das klingt wie eine Liste von Leuten, die eine Menge großer Hits gesungen haben. In Wahrheit ist es aber eine Liste von Leuten, die eine Menge großer Hits nicht gesungen haben. Eine kleine Kulturgeschichte der verfassten Songs und verpassten Chancen.
Song-Shopping ist jedoch kein neues Phänomen einer vermeintlich verkommenen Pop-Epoche. Im Gegenteil: Die Drifters schrieben ihre Songs nicht selbst, „Great Balls Of Fire“ ist nicht von Jerry Lee Lewis, und „Songwriter for Elvis Presley“ ist quasi eine eigene Berufsbezeichnung. Dass Lieder zwischen verschiedenen Harmony-Groups hin- und hergereicht und oft von mehreren Interpreten aufgenommen wurden, war nicht nur im Hause Motown eher die Regel als die Ausnahme und wurde darüber hinaus nicht als anstößig wahrgenommen. Warum auch: Von einem Jongleur verlangt schließlich auch keiner, dass er sich seine Keulen selbst schnitzt. Erst der beispiellose Siegeszug der Beatles und des Autoren-Rocks in der Tradition der archetypischen Liedermacher Johnny Cash und Bob Dylan veränderten diese Vorstellung von Grund auf. Mit den Themen änderten sich auch das Verständnis von Echtheit und ganz allgemein die Demarkationslinien zwischen Gut und Böse: Wovon man singe, das müsse man gefälligst selbst erlebt oder sich zumindest selbst ausgedacht haben. Diese Ansicht hält sich in gewissen Kreisen bis heute: In der HipHop-Welt etwa, in der Authentizität ein wertvolles (und entsprechend oft geklautes) Gut ist, wird über Listen von vermeintlichen Ghostwriter-Kunden spekuliert wie über die große Universalkartei schwuler Fußballer: O-em-gee, der etwa auch?! Es ist eine beeindruckende Mischung aus bescheuertem Detektivspiel und bigotter Doppelmoral.
Aus Sicht der Rapper ist der Widerwille, sich die Zeilen von Drittdienstleistern diktieren zu lassen, immerhin nachvollziehbar. In einer Kultur, in der sich das Berufsethos mehr oder weniger direkt aus der spontanen Bewährungsprobe am Straßeneck herleitet, wollen viele im Studio nicht Faxe vorlesen oder sich von fremden Refrain-Lieferanten das Wort abschneiden lassen. Songwriting von anderen ist also ganz allgemein inakzeptabel – zumindest offiziell: Ein offenes Geheimnis ist, dass der Rapper Lupe Fiasco sich weigerte, die Songs „Airplane“ und „Nothin’ On You“ aufzunehmen, obwohl sein Label, Atlantic, klare Vorstellungen zu diesem Thema hatte. Fiasco entging nur knapp seiner Entlassung; die Songs wurden von seinem Kollegen B.o.B. aufgenommen, der für eine feste Haltung eher nicht bekannt ist. Das hat seiner Reputation nicht gutgetan. Dafür ist er jetzt reich.
Trotz dieses Paradigmenwechsels existierte der Handel mit den Hits – und damit das Phänomen der knapp durch die Lappen gegangenen Hauptgewinn-Lose – auch in der goldenen Rock-Ära der 60er- und 70er-Jahre weiter. So will David Bowie seine ’75er-Single „Golden Years“ ursprünglich für Elvis geschrieben haben – erst als der nicht zugriff, entschied Bowie sich, die Komposition für sein Album STATION TO STATION zu verwenden. Der Song war zwar nie ein großer Hit, wurde aber immerhin mehrmals gecovert und 2011 im Zuge einer neuen Wertschätzung für den Sound von STATION TO STATION mit einigen Remixen neu aufgelegt. Noch so eine Schote: Giorgio Moroder wollte den Blondie-Song „Call Me“ ursprünglich mit Stevie Nicks aufnehmen, doch die stand lieber loyal zu ihrem Label, Modern Records, als mit Moroder auf den Disco-Zug aufzuspringen. Den Schenkelklopfer vom „Satz mit X“ darf hier jeder selbst einfügen. Und zu guter Letzt: „Don’t You (Forget About Me)“ musste Mitte der 80er-Jahre erst von Bryan Ferry und Billy Idol verschmäht werden, um schließlich von Jim Kerr und den Simple Minds für immer in den Kanon der Teleshopping-Compilation-Klassiker überführt zu werden. Gutes Picken zeichnet sich eben auch dadurch aus, dass man im richtigen Moment Nein sagt. Andererseits: Man schließe bitte einmal kurz die Augen und stelle sich vor, wie Ferry im Maßanzug sich zum Beat verzehrt und dabei trotzdem gefasst über eine Schaubühne schlendert, das Mikrofon fest im Griff, den Blick leicht verzückt. Würde man dieses Lied immer noch reflexartig hassen? Die Songwriter Keith Forsey („Flashdance“, „Rebel Yell“) und Steve Schiff (ein langjähriges Mitglied der Nina Hagen Band) scheint da jedenfalls die geringste Schuld zu treffen.
Das ist, von schäbiger Schadenfreude und dem Spektakel des Unglaublichen einmal abgesehen, die wahre Faszination all dieser Listen mit abgelehnten Superhits: Wie würde Song X sich von Y gesungen anhören? Besser, schlechter, einfach nur ganz anders? Zu wissen, dass all diese Demos tatsächlich einmal angehört und in Meetingräumen voller Glastische und Plastikpalmen hitzig diskutiert wurden und heute zum Teil als halbfertige Aufnahmen auf Tonbändern und Festplatten vor sich hin wesen, ist besser als jede tatsächliche Coverversion. Es ist wie ein ewiger Kinderzimmertraum: Wenn Maradona eins gegen eins gegen Messi spielte, wer würde gewinnen? Was, wenn Batman und Superman sich zusammengetan hätten? Und was, wenn Dana Scully und Fox Mulder einander nie begegnet wären, weil Dana ihre Aussichten auf berufliche Weiterentwicklung oder den Standort Washington, D.C., nicht so wahnsinnig attraktiv gefunden hätte?
1978 spielte Rod Temperton einem bis dahin erfolglosen, aber talentierten Sänger und Musiker aus Minneapolis den Song „Don’t Stop ’Til You Get Enough“ vor. Er glaubte da einen Hit zu haben, und dieser schmächtige, faszinierende Typ, der sich Prince nannte, schien ihm genau der richtige Interpret dafür zu sein. Prince hörte sich das Demo mehrmals an, während Temperton euphorisch vor ihm in die Luft sprang, laut in die Hände klatschte und wortreich eine goldene Zukunft beschrieb. Prince aber fühlte den Song nicht, mit so einem Beat ziehe man kommerziell doch keine Wurst vom Teller und er brauche dringend einen echten Hit. Der Rest: Geschichte. Das ist natürlich frei erfunden. Aber im Pop war es noch nie eine schlechte Idee, einfach mal die Augen zu schließen und sich vorzustellen, was wäre, wenn. Und außerdem: Britney Spears wollte „Umbrella“ wirklich nicht singen.