Wo Die Wilden Kerle Wohnen
Nach dem Musical 'Sid & Nancy' beschäftigt sich Schauspieler Ben Becker zum zweiten Mal erfolgreich mit dem Medium Musik
Ich kann gut schreiben, wenn ich in Bewegung bin. Daheim werde ich wahnsinnig. Da bringe ich nur dann was zu Papier, wenn ich im Zimmer auf und ab gehe. Muß immer laufen, laufen, laufen, laufen. Ich bin ein sehr unruhiger Mensch.“ Wie um seine Aussage zu unterstreichen, hält Ben Becker im Gespräch nicht eine Sekunde still, ist ständig auf dem Sprung, läßt seinen Motor laufen. Obwohl es draußen ein paar Grad unter Null ist an diesem Freitag abend, Ben alle Nase lang aus dem warmen Wohnwagen in die gottverdammte Kälte raus muß, um in ‚Spiel um dein Leben‘, einem TV-Thriller des BR, vor der Kamera zu stehen und er seit Beginn der Dreharbeiten zwischen Grippevirus und Kreislaufkollaps pendelt, kommt keiner seiner Sätze lapidar oder unüberlegt.
Kein Zweifel, da ist ein manisch Kreativer los, und keiner wird ihn aufhalten können: Als Schauspieler fällt der Bruder der nicht minder begabten Meret Becker zunächst in ‚Das serbische Mädchen‘ von Peter Sehr auf. In Joseph Vilsmaiers ‚Schlafes Bruder‘ spielt er den Hauptdarsteller an die Wand, letzt wartet die Hauptrolle in Vilsmaiers ‚Comedian Harmonists‘ auf ihn. Als Theaterregisseur und -autor bringt er sein Stück ‚Sid & Nancy‘ in kompletter Eigenregie in Berlin auf die Bühne. Bei Lesungen ist Becker mit seinen Kurzgeschichten gerngesehener Gast. Die Leidenschaft für das Schreiben ebnet ihm schließlich den Weg zur Musik, dem Medium, in dem Ben ganz und gar er selbst sein darf: „Es reicht mir nicht als Äußerung, beim Fernsehen engagiert zu sein und eine Rolle zu verkörpern, die sich jemand anderes ausgedacht hat. Mein Einfluß auf das und Erinnerungen auch längst fällige, unangenehme Realitäten transportieren kann – ohne einen Anflug von Selbstmitleid oder menschelnder Falschheit. „Mich wundert, daß von den Leuten in meinem Alter, die Musik machen oder beim Film sind, kaum eine ernsthafte Äußerung kommt, was da draußen abläuft, was auf der Straße stattfindet. Warum stellt sich niemand hin und sagt, hier stimmt was nicht? Wenn momentan irgendwo etwas Wichtiges gesagt wird, dann sicher nicht hier.“
Ben Becker singt von Monarchie und Alltag und packt seine Wahrheiten wortgewaltig in gefällige Geschichten, ganz wie man einem Hund die bittere Medizin verabreicht, indem man sie in einen besonders leckeren Happen steckt. „Realität ist Ganze bleibt da nur beschränkt. Ich war immer schon viel mit Musikern zusammen. Der Schritt hin zur Musik entspricht meiner Herkunft.“
Nach ersten Gehversuchen konsolidiert Ben zu Beginn des letzten Jahres Lineup und Linie seiner Band: Gemeinsam mit Jacki Engelken und Ulrik Spies wird das zunächst Performance-artige Programm auf Vordermann gebracht, dann in einer kleinen Tour erprobt und zur schlagkräftigen Waffe verfeinert. Im November folgen die Plattenaufnahmen zu ‚Und leise fliegt der Kopf weg‘. Es ist ein berauschendes Werk, fernab der selbstbeweihräuchernden Eitelkeitsprojekte von Beckers Schauspielerkollegen. „Da haben viele wohl nicht damit gerechnet“, konstatiert er schließlich selbst. Die Platte ist alles andere als Zeitvertreib zwischen zwei Engagements. „Ich kann hier wirklich artikulieren, was ich sehe, höre, rieche. Das ist Ben Becker, und das meine ich ganz ernst.“ Da ist nichts Zufälliges, nichts Überflüssiges in dem hypnotischen Collagensound des Trios, den man in Ermangelung passenderer Kategorisierungen mit Velvet Underground in Zusammenhang bringen könnte. Das hinkt jedoch: Die Velvets sind bestenfalls ein Koordinatenpunkt in Beckers musikalischem Universum, in dem auch Trip-Hop, die Musik eines Kurt Weill sowie die Chansonniers Serge Gainsbourg oder Leonard Cohen unübersehbare Größen darstellen. Am nächsten kommt da noch Bens eigener Vergleich mit Soul Coughing, die auf ähnliche Weise disparate Einflüsse mit Samples zu einem rhythmusbetonten, unrockigen und nicht gitarrenlastigen Sound verdicken, der in die Beine geht und den Kopf beschäftigt. Wo bei denen aber assoziativ-trippige Beat-Lyrik an der Tagesordnung ist, artikuliert Ben Becker mit einer Stimme, von der ich annehme, daß sie durch Stahl schneiden und neben Sehnsüchten gefährlich“, meint Becker. „Sie macht Leuten Angst, und das ist gut.“ An anderer Stelle sagt er: „Ich mag es, Leute zum Lachen zu bringen und im nächsten Moment in die tiefste Gosse zu ziehen.“ Das macht den Reiz der Texte aus: Nie darf man sich in Sicherheit wiegen. Der Bettler in der U-Bahn könnte ja die Uzi auspacken, die Rocker in der Oper könnten womöglich den Mercedes der S-Klasse zerdeppern, und der freundliche Bulle könnte sich bei der Verkehrskontrotle als perverses Schwein entpuppen. Ben Becker demoliert als ‚Bad Lieutenant‘ das, was uns kaputt macht, und lamentiert über unseren Verlust der Unschuld.
Immer wieder sucht der ehemalige Punk der ersten Stunde den Weg in die eigene Kindheit. Er beschwört sein Lieblingskinderbuch ‚Wo die wilden Kerle wohnen‘ und hält die Erinnerung an verstorbene Ikonen (‚Brian Jones‚, ‚Yuri Gagarin‘) wie eine geheime Kostbarkeit wach. „Ich war von Haus aus immer frech und an Dingen interessiert, die verboten waren und Spaß machen“, bringt er die Tage seiner Adoleszenz auf den Punkt. Kindsein als Sinnbild für die ‚Lust for Life‘, die Becker vorantreibt, nach vorn und nicht zuletzt in tiefe Abgründe blicken läßt. ,Becker, du Tier“ nennen ihn die Leute am Set mit einer eigenartig inspirierenden Mischung aus Besorgnis und Respekt. Ben Becker ist bekannt dafür, sich in mentale Zustände vorzuwagen, die die meisten Zeitgenossen lieber unangetastet lassen – nicht von ungefähr ist er bekennender Fan von Gert Fröbe und Klaus Kinski. „Manchmal muß ich aufpassen, daß ich mich nicht verliere. Im Kopf verselbständigt sich da was, wenn ich dem Wahnsinn in die Augen schaue. Aber dann ist es raus, exorziert.“ So ähnlich funktioniert ‚Und leise fliegt der Kopf weg‘, eine große Reise durch das Unbewußte und Offensichtliche, eine Platte, die einen mit- und weiterdenken läßt. Und Ben Becker sieht es so: „Bei der Musik kann ich meinen Intuitionen freien Lauf lassen. In meinem Kopf wird eine Freiheit ausgelöst, da kann ich machen, was ich will. Auf einmal ist alles möglich. Wenn man da anfängt, darauf zu surfen, dann macht das irre Spaß.“ Und auf seinem Schweif, da nimmt der Silver Surfer den geneigten Zuhörer mit. Bis er ihn einfach fallenläßt. THOMAS SCHILTZE 1994 erhielt der Schauspieler Ben Becker den Grimme-Preis. Jetzt erscheint sein erstes Album.