Wir sind Studio


Was machen eigentlich Wir sind Helden? Sind die noch heiß? Wissen wir nicht, aber sie arbeiten gerade an ihrem vierten Album, das manchmal „erschreckend akustisch“ klingt.

Ein Freitagvormittag Ende April, kurz vor halb elf. Der Reporterfinger drückt den Klingelknopf mit der Aufschrift „Studio 1“ im dritten Stock eines gloriosen Industrie-Altbaus in Kreuzberg. Mark Tavassol steckt den Kopf durch die schwere Brandschutztür. Ah, Mark. Schon da? Arbeitet ihr schon? „Nein, wir reden noch über Mikrofone.“ Na dann.

Seit vier Tagen wohnen wir hier in den Tritonus-Studios der Produktion des neuen, vierten Albums von Wir sind Helden bei. Eine Woche, exemplarisch herausgepickt aus einer Studiozeit von 14 Wochen, in der wir schon öfter Zeuge von hübsch undurchsichtigen Unterhaltungen über Musik-Equipment aller Art wurden, aber auch von Fachgesprächen über den Zusammenbau von Kinderwägen, badischen Fußball, deutschen Schlager und britische TV-Serien. Nun könnte man argumentieren, das extensive Reden über Mikrophone sei für Musiker in gewissem Sinne ja auch Arbeit. Noch dazu, wenn sie, wie die drei Helden Mark Tavassol, Jean-Michel Tourette und auch Pola Roy Betreiber eigener Projekt- und Rummachstudios sind. Ein gewisses Maß an Fachidiotie gehört da zum Geschäft – „Oh Mann, was sind wir für Nerds geworden!“, stöhnt Jean zwischendurch. Jetzt soll’s aber doch gleich handfester zur Sache gehen. Auf dem Plan stehen indie-dengelnde Gitarren-Overdubs für „Kreise“, den noch am wenigsten weit entwickelten der 14 Songs, die in Arbeit sind – zu jedem hängt eine To-Do-Liste an der Pinwand neben dem tischtennisplattengroßen Mischpult. Bald hieven Mark und Jean Boxen durch den Aufnahmeraum und bauen sich ihre Plätze für die Session zurecht. Verkabeln, positionieren, justieren, bekämpfen hier eine Rückkopplung, spüren da einem Verstärkerbrummen nach.

Das Tritonus, gegründet 1980, ist eine der ersten Studioadressen in Berlin. Element Of Crime, Seeed und die Ärzte (mit ihrem Identitätswiederfindungsalbum JAZZ IST ANDERS) haben hier ebenso gearbeitet wie die Schlagertitanin Marianne Rosenberg, die parallel zu den Helden das kleinere Studio 2 vorne gebucht hat.

Zwischen Memorabilia-Kram im Regal steht eine gerahmte Urkunde, die bescheinigt, Ben Becker und seine Band hätten hier 1996 „im Laufe einer einzigen Albumproduktion im Zeitraum von 30 Produktionstagen die Rekordmenge von 348,48 Litern“ Bier getrunken. Diese Spitzenleistung wird auch von Wir sind Helden und ihrem Anhang nicht übertroffen werden. Becksflaschen stehen weitgehend unbeachtet im Kühlschrank, die meistkonsumierten Getränke hier sind – etwa in dieser Reihenfolge: Wasser, Kaffee, Muttermilch und Schwarztee, namentlich „Davenport’s English Special“ – stinknormaler PG-Tips-Aufguss mit Milch, allerdings gebraut von Produzent Ian Davenport höchstpersönlich. „Tea time!“, hatte Pola neulich verkündet. „Wir trinken Tee, weil: Wir sind ja ’ne englische Produktion.“

Erstmals nehmen Wir sind Helden nicht mit ihrem langjährigen Produzenten Patrik „Patty“ Majer auf, sondern haben sich – in beidseitigem Einvernehmen – Frischwind in die Regie geholt. Über eine vage Empfehlung – „der könnte zu Euch passen“ – kam der Kontakt zu Ian Davenport zustande, ein paar Demo-Verschickungen und Treffen später saß der Engländer am Mischpult im Tritonus.

Ian, Mitte 40, Familienvater, spielte früher selbst in einer Band, über zehn Jahre lang – den Namen vernuschelt er auf Nachfrage geflissentlich. „Wir waren hartnäckig“, sagt er grinsend. Man kam aber nicht weit hinaus über das Großkaff Basingstoke, Heimat von Musikprominenz wie Les Humphreys, Carl Barât und Tanita Tikaram. In den Neunzigern sattelte er – learning by doing – auf Studioarbeit um, die ihn stets mehr interessiert hatte. Zu den ersten Arbeiten gehörten frühe EPs mit Badly Drawn Boy, sein letzter größerer Job war für die Band Of Skulls.

Wochenendheimflieger Ian ist der Immermann im Tritonus. Er ist schon zwei Stunden da und bearbeitet die Früchte der Sessions vom Vorabend, wenn am späten Vormittag die Band einläuft. Und wenn abends Judith und Pola die Kinder zusammengepackt haben, tüftelt er noch bis halb zwei mit Jean Keyboard-Overdubs aus. Neben seinem immens ausgeglichenen Wesen hat Ian das Englische mitgebracht. Das ist hier Amtssprache, ob es nun darum geht, dass der second verse im build zum chorus to any dynamic on the vocal droppt oder ob es nebenher Unterweisung in Sachen Cockney Rhyming Slang gibt. (Hätten Sie’s gewusst? „Piano“ heißt auf Cockney „Joanna“. Weil es sich angeblich reimt.)

Es hat besonderen Reiz, tagelang nicht nur dem eminent friemeligen Musikschaffensprozess, sondern den Akteuren beim sprachlichen Abtasten und Zusammenfinden zuzuschauen und -hören und allmählich auch hinter die obskureren Begriffe zu kommen. Kopfhörer heißen hier „cans“. Die „comps“, die Ian alle naselang macht, sind „compilations“ aus den gelungensten Passagen verschiedener „takes“. „Beavis“? Das sind „B.V.s“, „backing vocals“. Nur dieses rätselhafte Wort, das ab und zu bei Gesangssessions mit Judith Holofernes fällt, können wir nicht herleiten. „That was a little barty“, mahnt Ian mitunter. Barty? „Bart Simpson“, erklärt Judith. „Barty“ ist Spezial-Jargon dieser Produktion und weist die Sängerin dezent darauf hin, wenn sie punktuell zu quäkig klang.

Noch viel mehr ist neu bei dieser vierten Heldenproduktion. Da ist Jörg Holdinghausen von der gut befreundeten Band Tele, der die Band interimsmäßig zum Quintett erweitert und auf dem Album sowie später auf Tour den Bass übernimmt, weil Mark mehr Gitarre spielen möchte. Und erstmals haben sie die Grundgerüste der Songs „live“ aufgenommen, das heißt im direkten Zusammenspiel, was einer organischeren, lebendigeren Gesamtschwingung entgegenkommt. Die Band möchte ein Stück weg vom sehr tighten, verdichteten Pop-Sound, das Album komme ihr manchmal gar „erschreckend akustisch“ vor, sagt Judith.

Man möchte sogar sagen: erschreckend gut. Subtrahieren Sie hiervon die anzweifelbare journalistische Distanz dieses Autors zu dieser Band, und die Platte ist immer noch: verdammt gut. Mancher hätte es ihnen wohl kaum zugetraut, dass sie im vierten Anlauf, wenn anderen längst Ideen und Luft ausgehen, noch das Zeug für so ein Album haben. Ein Album, das einige der zwingendsten Arschschüttel-Ohrwürmer, aber auch die abgründig dunkelsten Momente des ganzen Bandkataloges enthält und mit der entwaffnend wundervollen „Ballade von Wolf und Brigitte“ und dem puckernden „Dramatikka“ mindestens zwei instant Helden-Classics enthält. Ein Album, das Wir sind Helden endgültig etablieren sollte als feste Größe in einem gehobenen Mittelfeld der Popmusik in Deutschland, in dem sich diese Band wohl fühlt, der Großmannssucht und das Stehen an vordersten Fronten immer etwas fremd bzw. unheimlich waren.

Als nach dem Abklingen des großen Deutschpop-Craze Mitte der Nullerjahre, in dessen Zentrum Wir sind Helden mit VON HIER AN BLIND abgefeiert wurden wie die Hitraketen vom Dienst, das (unterschätzte) dritte Album SOUNDSO 2007 erstmals sinkende „Abverkäufe“ und weniger Konzertbesucher zeitigte, wurde das von der nur kurz verunsicherten Band bald als Gesundschrumpfung erkannt und schätzen gelernt. Zumal die Shows nicht weniger euphorisch waren als früher. Judith freut sich denn auch schier kindlich auf die Konzertsausen, wenn es im Herbst mit Kind und Kegel auf Tour geht. „Wir werden so viel Spaß haben mit diesen Songs live!“, jauchzt sie im Vorbeihuschen, als sie sich mal wieder aus ihrer Kabine stiehlt, wo sie mit Ian am Balkanbeat-infizierten Brüller „Was uns beiden gehört“ arbeitet, um zwischendurch ihre Jüngste zu stillen.

Zurück am Freitagmittag. Mark, wie lief’s eigentlich gestern Abend? Da war ein Mann von Four Music da, dem neuen Label der Helden, und bekam erste Rohversionen vorgespielt. „Wie’s lief? Wir haben unseren Plattenvertrag verloren. Erst hat er nur geschrien. ‚Aaargh! Aaaaargh!‘ Dann Sachen wie ‚Neiiiiin!‘, ‚Warum ich?‘ Wir haben die Polizei holen müssen, es ging nicht anders …“ Aha. Also alles wunderbar. Bitte weiterarbeiten. Jean erörtert mit Ian gerade den Übergang des Gitarrendengels zum Refrain und deutet auf das Hüllkurven-Diagramm auf dessen Bildschirm. „Let’s listen to the progression it makes. I think where the Wurst is getting bigger, that’s the chorus … “ The Wurst is alright. Und damit blenden wir uns vorerst aus …

www.wirsindhelden.com