Wir sind jetzt!


Keine "Neue Deutsche Welle", keine neue Schule aus Hamburg, Berlin oder sonstwo - und doch tut sich derzeit im deutschsprachigen Pop einiges. Da setzen neue Bands wie Wir sind Helden, Tomte, Mia, Spillsbury oder Virginia jetzt! genauso Akzente wie die schon lange profilierten Blumfeld. Ein Situationsbericht von Oliver Götz

Vielleicht schreiben sie nur schönere Liebeslieder. Tele, eine Kombo aus Freiburg und Berlin, etwa erledigt diesen Job im zweibillionsten Versuch der Musikgeschichte immer noch allerliebst. „Bist Du heute Nacht in meinem Traum? Sag ja, sag es laut! Sag ja, wenn Du Dich traust!“, singen sie. Banal? Ja, bitte! Der Titel des Liedes: „Now, Now, Now“. Gleich ein dreifaches Statement für den Moment. Gegen die verbleibende Zeit und ihre Sorgen. Dazu erklingt Musik wie fürs Zeltlager – ein verträumter Drehwurm aus Style Council und inbrünstiger Gitarrenschrammelei in inniger Umarmung. Wirklich schön das, aber: Wer sind „sie“? Und wenn „sie“ die schöneren Liebeslieder schreiben, wer schreibt/schrieb weniger schöne? Gäbe es dazu eine kurze, präzise Geschichte, man könnte sie ja eben mal erzählen. Gibt es aber nicht. Und außerdem: Now, Now, Now – ums Hier und Jetzt soll es sich auf diesen Seiten drehen.

Irgendwann Mitte, Ende der 90er Jahre gab es plötzlich noch ein paar deutschsprachige Bands auf Konzertbühnen und abseits des Formatradios mehr, die die Schule nicht in Hamburg besucht hatten und ihre Platten auch nicht bei dem maßgeblichen Label L’Age D’Or veröffentlichten. Die blauweißen Sportfreunde Stiller oder Samba aus Münster zum Beispiel. Musiker, die sich erst einmal den Hintern abspielten, auf Jugendzentrumsbühnen quer durchs Land. Musiker, die aber auch ihre Befindlichkeiten nicht erst lange mit politischen Inhalten abglichen, ihren eigenen Status als Band nicht stetig hinterfragten, keine Metaebene erklimmen mussten, um darüber zu singen, warum ihnen heute der Hut schief sitzt. Ob es mutig oder einfach nur plump ist, von nackten Banalitäten zu erzählen, nicht erst mühsam diskursfähig gemachte Gedanken in kleinen Reimen öffentlich zu machen, oft nur mit einer Laune als Motiv, sei zuerst einmal dahin gestellt. Auf jeden Fall wuchs so allmählich eine Generation deutschsprachiger Bands heran, die Spaß am Pop und im Umgang mit der Muttersprache ein neues, fast schon lapidares Selbstverständnis vermitteln.

„Das war ganz unspektakulär. Wir spielten in verschiedenen Bands, machten viel Indiekram, möglichst vertrackt. Was man halt so mag, wenn man 17 ist“, erzählt Nino Skrotzki, Sänger und Gitarrist bei Virginia Jetzt! Als die vier als Band zusammenkamen, wollten sie nicht mehr kanten, sie wollten Pop. Machten sich anfangs einen Spaß daraus, Liquido-mäßige-Synthie-Alternative-Poprock-Nummern zu basteln. Erfolg sollte bitteschön auch dabei sein. „Aber dann merkten wir, dass wir dafür unsere eigenen Vorlieben zu sehr zurück schrauben mussten.“ Als Mittelweg erwies sich schließlich der flotte, melodieselige Gitarrenpop, der nun auch ihr Debütalbum Keine Angst vor Virginia Jetzt! auszeichnet. Mit einfachen, aber nicht gleich einfältigen deutschen Texten – „aus der Not heraus, weil wir Englisch sowieso nicht gut genug konnten“. Nino & Co. klingen vielleicht in ihren Liedern naiv, sind es aber nicht. Die bekennenden Kinder fetter, sicherer Jahre werden ja auch nicht zum ersten Mal in Frage gestellt: „Wir sind nicht die politischste Generation. Es gibt nichts Großes um uns herum, wir finden unsere Texte im privaten Umfeld.“ Natürlich haben sie – neben den Ärzten – selbst viel Musik aus Hamburg gehört. Tocotronic vor allem, für junge Rockbandinitiatoren hierzulande die großen Beeinflusser der 90er Jahre, neben Nirvana natürlich. „Aber wir fragen uns: Muss man seine Inhalte tatsächlich so verstecken, muss man kryptisch sein und immer jammern?“

Natürlich macht Offenheit in den Aussagen angreifbar. Bernd Begemann, bereits in den späten 80ern Wortführer eines deutschsprachigen Pop-Entwurfs irgendwo zwischen Independent und Grönemeyer mit dem bezeichnendüberzeichneten Namen Die Antwort, stellt bei vielen Bands eben genau das fest – fehlenden Mut: „Vieles ist immer noch sehr verklausuliert, emotional indirekt. Als hätte man Angst, erwischt zu werden. Bei einigen frage ich mich: Wieso singen die überhaupt, wenn sie doch im Grunde ihres Herzens nicht erkannt werden möchten?“ Weiter möchte man fragen: Wieso singen die so viel, so laut, so klar vernehmlich, wenn es ja doch nur um private Befindlichkeiten geht? War da die „Hamburger Schule“ nicht schon einmal weiter? „Du sagst, deutsche Popmusik habe sich in den 90er Jahren mühsam eine politische Position erkämpft. Worin besteht denn diese Position und wo liegt ihre gesellschaftliche Relevanz?“, lautet Tom Liwas (Ex-Flowerpornoes) rhetorisch-fordernde Gegenfrage. Der vielleicht beste Liedermacher, den die Republik zumindest in seiner eigenen Nische duldet, spricht aus, was durch das Vermarktungskonstrukt „Hamburger Schule“ linksorientierte Popkultur-Magazine und Szenenkneipen-Diskussionen geschulte Intellektuelle, sich verzweifelt an ihr frühes Blumfeld-Vinyl klammernd, nicht wahr haben wollen: „Vielleicht übertreibe ich, wenn ich sage, dass ich jeden evangelischen Kirchenkreis, der sich für fairen Handel engagiert, für effektiver halte als ein funky revolutionäres Statement auf fucking MTViva. Vielleicht …“

Begemann ergänzt diesen Freispruch für alle, die sich in Liedtexten lieber um den eigenen Nabel fahren: „Wenn uns jemand überzeugend darlegt, wie sich sein Leben anfühlt, was er sich wünscht – diese Wahrhaftigkeit ist der erste Schritt zur Veränderung, zum Fortschritt…“ Schließlich haben wir alle Nabel. Und alle sind sie Nabel der Welt. Tobias Asche vom Elektropunk-Duo Spillsbury genügt das dann auch schon: „Schätze mal, dass andere Leute ähnliche Dinge erlebt haben und deswegen von den Texten direkt angesprochen werden. Auch wenn meistens keine Lösung angeboten wird, fühlt man sich dann irgendwie dazugehörig: Ich bin nicht allein damit.“

Das soll’s im Zweifelsfall also schon gewesen sein? Hat die deutsche, „ernstzunehmende“ Popmusik in diesen Tagen nicht mehr zu bieten, zu erzählen? Keine Bange, es gibt auch Platten wie Hinter diesen Fenstern, der Quantensprung der Band Tomte im Frühjahr, der nicht von ungefähr noch vor der glänzenden, treibenden Gitarrenmusik für seine Leidenschaft, seinen Mut und sein unbedingtes Streben nach Wahrheiten und Klarheit abgefeiert, ja sogar ansehnlich gekauft wurde. Wo sich Sänger Thees Uhlmann letztlich nicht einmal mehr darum schert, wenn ein paar Silben aus dem Strophenmaß platzen, weil das, was er sagen will, von äußerster Dringlichkeit ist. Weil „Now, Now, Now“, Nabelschau und Relevanz weit über das hinaus dort zusammengetroffen sind, wo einer sein Herz in die Hand nimmt. Leiser, aber nicht weniger ehrlich, echt und sehr intuitiv gelingt solches zum Beispiel auch der Band Go Plus auf ihrem jüngsten Album Go Plus. Pit Przygoddas Texte vermitteln freilich auch dieses Das-habe-ich-auch-schon-einmal-so-oder-so-ähnlich-erlebt-Gefühl. Aber sie tun noch mehr und das Beste ist: Jemand wie Przygodda findet sogar Worte dafür, für das, was er da tut. „Ich versuche, aus Erlebtem ein Kunstwerkzu schaffen, in dem Bilder und Stimmungen auftauchen, die in anderen, sensiblen Menschen wiederum Stimmungen und Bilder erzeugen. Außer der eigenen Notwendigkeit, etwas erzählen zu wollen, mich produzieren zu wollen, ist da auch die Überzeugung, das, was ich im Text behandle, müsste mal gesagt werden, müsste ich anderen mitteilen. Würde ich meine Texte nicht machen, ich würde sie in der mir bekannten Kunstlandschaft vermissen.“

Zu solchem Selbstverständnis vorgestoßen, kann sich eine Band wie Go Plus, können sich auch die Blumfelds, Tocos und Sterne, dem bösen Märchen von der „Hamburger Schule“ und seinen Käfigen und Falltüren endlich entronnen, zurücklehnen und beobachten was passiert mit all den Helden, Virginias, Mias und Teles dort draußen. Wenn die Einvernahme droht. In eine kleine neue deutsche Welle vielleicht, in irgendein neues „Die jungen Wilden“-Ding, nach dem sich die gebeutelte Tonträgerindustrie so sehr sehnt. „Natürlich, man will eine Welle erzeugen, eine Schublade, mit der man etwas vermarkten kann – und das ist das Problem“, sagt Alfred Hilsberg, der ausgewiesene Erfinder des Begriffes „Neue deutsche Welle“ und alte Herr unabhängigen U-Musikschaffens in Deutschland aus tiefster Überzeugung. Problem? „Weil dann natürlich andere Bands nachgezogen werden, die viel schlechter sind. Und weil sich auf der anderen Seite Musiker bis zur Unkenntlichkeit anpassen, um sich auf diesem Markt etablieren zu können“, sagt der Chef der unabhängigen Labelinstitution What’s So Funny About. Über die Jahre ist Herr Hilsberg eher noch misstrauischer geworden. Über Wir sind Helden zum Beispiel möchte er eigentlich gar nichts weiter sagen, „dafür kenne ich sie auch gar nicht gut genug. Doch vielleicht ist diese Band ja so intelligent, kann mehr bewirken. Die Sängerin scheint mir nicht auf den Kopf gefallen zu sein.“ Nur: Vielleicht stecke dahinter ja auch nur wieder eine perfide Marktstrategie, „nach dem Motto: ‚Ja, wir brauchenjetzt eine Band, die protestiert!'“ Eine Band wie Wir sind Helden wird sicherlich noch schaufelweise Missverständnisse aus dem Weg räumen müssen. Schlimmer ergeht es jedoch der Elektro-Punk-Kapelle Mia aus Berlin, die nur ein bisschen zu spät kam, um in der schnell verebbenden „Berliner Welle“ mit Bands von Paula über 2Raumwohnung bis Jeans Team eher unauffällig nach oben gespült zu werden. Plötzlich stand sie zwischen diesem halbherzigen 80er-Jahre-Revival, Garagenrock-Hype und Nena-Comeback wie eilig zusammengecastet da. Mit einem Image, groß bis grotesk wie das Brandenburger Tor und bunt wie die Love-Parade. Und kaum einer will bis heute glauben, dass hinter dieser Band kein marktstrategischer Masterplan stehen soll. Was kann man da noch machen? „Reden ist wichtig“, sagt Sängerin Mieze, „und weiter spielen, persönliche Kontakte pflegen.“ Klingt naiv? Doch das sei ihr Weg. Ein „großer Fan von Kommunikation“ sei sie und die Kontroverse habe ihr am Anfang ja auch gefallen. „Ah, lustig – nächste Frage!“, war die Reaktion, wenn die 23-Jährige einmal mehr auf ihre unverschämte Selbstbedienung bei Ideal und Co. angesprochen wurde. Bis sie dann doch einmal in die Platten von damals gehört habe: „Ah, okay, so ist das…“

Also sagt Mieze: „Man entwickelt sich ja auch“, das erste Album stehe ja nicht für immer für Mia. Doch was kommt danach? Nun, Ende September zuerst einmal schon die neue EP, darauf auch der Song „Es ist was es ist“, den die Band mit einem 25-köpfigen Orchester ausgerechnet zur Eröffnung der Loveparade zum Besten gab. „Wir haben einfach gesagt: Lass doch mal gucken, was da möglich ist. Es geht darum, dass Leute dir das zutrauen.“ Das wiederholt die Sängerin auch noch in anderen Zusammenhängen. Doch genau um dieses Zutrauen werden Mia noch weiter hart kämpfen müssen. Nur Patrick Wagner ist ohne Einwände begeistert von Mia. Selbst ist der Surrogat-Sänger ja ein großer Zeremonienmeister, geboren, um sich und sein Werk in Szene zu setzen. Kein Wunder also, dass ausgerechnet er Mia eine „extrem große Hingebung“ attestiert und „extrem viele Ideen“ und als Haltung „Widerstand“. Für Wagner und seine Band selbst ist in diesem Special leider sonst kein Platz. Weil Surrogat die meisten Leute erschrecken, die eben noch Miles oder Tomte auf einer Festivalbühne zugejubelt haben und mit den Songs aus ihrer Indiedisco eigentlich schon ganz schön bedient sind. Weil Surrogat zu laut und zu vorlaut sind, weil sie Hardrock und noch Härteres spielen und dazu Texte voll mit Haltung, Klage und Anklage brüllen: „Ich hasse meine Generation, sie verachtet die Revolution“ zum Beispiel.

Ein Interview mit dem Tapete Records-Gründer Gunther Buskies und Sampler-Tipps zum Thema „Junger deutscher Pop“ unter www.musikexpress.de/popdeutsch