Wilco: Wechseljahr


Vom Label gefeuert, das Personalgefüge erheblich erschüttert - 2001 war für Wilco eine Odyssee, die so nicht jeder weggesteckt hätte. Doch jetzt freut sich JEFF TWEEDY im Chicagoer Hauptquartier: "Wir sind eine völlig neue Band!"

Es war Anfang Juli letzten Jahres, der Sommer wärmte süß die Luft, da ging für Jeff Tweedy eine langjährige Beziehung in die Brüche. „Zuerst war es schon ein kleiner Schock, es hat wehgetan. Wie wenn dir jemand ins Gesicht sagt: Ich mag dich nicht! Und du stehst nur da: Aber… warum denn?“, erinnert sich Tweedy an den Tag, als ihm und seiner Band Wilco von den Verantwortlichen ihres Labels Reprise mitgeteilt wurde, ihr neues Album „Yankee Hotel Foxtrot“, das im Herbst 2001 erscheinen sollte, sei in seiner bestehenden Form nicht veröffentlichbar. „Wir hatten die Bänder abgegeben und dann zwei Wochen nichts gehört. Da dachten wir uns schon, dass das möglicherweise ein schlechtes Zeichen sein könnte“, lacht Tweedy. „Undals sie sich dann meldeten, hieß es so ganz kühl: ‚Tja, wir finden das nicht so gut, wir wollen das so nicht rausbringen. Wenn ihr keine Änderungen machen wollt, dann sollten wir darüber reden, ob ihr nicht besser das Label verlasst‘.“ Übernächtigt, bleich, schlecht rasiert, die kurzen Haare strähnig, neben sich eine Schachtel American Spirit, die er in rapidem Tempo leerraucht, sitzt Jeff Tweedy an einem kleinen Tisch inmitten des weitläufigen Lofts, das Wilco seit drei Jahren als Bandhauptquartier dient. Die dritte Etage eines ehemaligen Lagerhauses am Nordrand von Irving Park, einer abgerissenen, wie Wilco-Manager Tony Margherita es freundlich umschreibt „not so happening“ Gegend von Chicago, ist Proberaum, Studio, Büro, Lager und Schrein zugleich – alles in einem riesigen Raum, voll gepackt mit Instrumenten (Tweedy sammelt Gitarren und alte Synthesizer), Schreibtischen, Computern, Verstärkern, Boxen, Stahlregalen voller Equipment, Beatles-Memorabilia an den Wänden. Ein Flügel steht in der Mitte des Lofts, in einer wohnzimmer-ähnlichen Sitzecke läuft auf einem großen Fernseher tonlos ein Sportkanal. Es ist Sonntagnachmittag – Superbowl Sunday, Endspiel der Football-Saison, ein amerikanischer Feiertag. „Ja, Superbowl. ‚The Superboring‘, sagt meine Frau immer „Tweedy wird sich am Abend – wie so ziemlich jeder andere Amerikaner – das Spiel anschauen. „Ich bin kein richtiger Sportfan, aber im Fernsehen schau ich am liebsten Sport, weil man da noch am ehesten davon ausgehen kann, dass nicht alles nach Drehbuch abläuft. „Er lächelt müde und zündet sich noch eine Zigarette an. Das blühende Leben sieht anders aus, aber nach einem Jahr, wie es Wilco hinter sich haben, darf man schon mal ein paar Ringe um die Augen haben.

Bis 1994 war Jeff Tweedy Teil von uncle Tupelo, einer der hoffnungsbeladensten US-Bands der frühen 90er. Sie galten als Vorreiter und Bannerträger einer jungwilden Alternative Country-Bewegung, die punkige Pop-Energie mit Country-Melodik kreuzte und für die Uncle Tupelo mit dem Titel ihres Debüts von 1990 gleich die Schubladenaufschrift geliefert hatten: „No Depression“. Als Uncle Tupelo sich nach nur vier Alben auflösten, richtete sich das Interesse vorrangig auf die nächsten Schritte von Jay Farrar, der prominentesten Figur der Band. Während Farrar mit seinem neuen Projekt Son Volt einer traditionalistischen Form verhaftet blieb, blühte Tweedy, einmal aus dem Schatten seines Partners getreten, mit dem Tupelo-Rest -Bassist John Stirrat und Drummer Ken Coomer- regelrecht auf. Auf das noch recht straight rockende Wilco Debüt „A.M. (1995) folgte 1996 „Being There“, das Vergleiche mit dem Weißen Album der Beatles auf sich zog und mit breiter Stil Vielfalt, brianwilsonesquen Arrangements und spukigen Klangräumen die Grenzen dessen sprengte, was gemeinhin unter dem schwammigen Begriff „Americana“ einherklampfte. „No Depression“-Puristen, bereits skeptisch geworden, wussten gar nicht mehr wohin, als 1998 „Summerteeth“ erschien, auf dem die Band ihrer neu entdeckten Liebe für allerlei antike Synthesizer-, Orgel-und Effektgerätschaften breiten Raum ließ.

Dass Wilco immer noch prima rootsrocken konnten, bewiesen sie im gleichen Jahr mit „Mermaid Avenue“, auf dem sie mit dem britischen Folk-Sozialisten Billy Bragg Songtexten von Woody Guthrie Musik einhauchten. Eine zweite „Mermaid“-Platte folgte im Jahr 2000. Tweedy, der auf langen Autofahrten gern Tapes mit Mitschnitten codierter Botschaften von mysteriösen, halbgeheimen Militär-Funkstationen (von so einem Funk-Code leitet sich auch der Titel „Yankee Hotel Foxtrot“ ab) einlegt, war in der Zwischenzeit aber schon in ganz anderen Gefilden unterwegs. Er schloss Bekanntschaft mit Jim O’Rourke, der Lichtgestalt der Chicagoer Post-Rock-Szene (ein gemeinsames Album, das Tweedy Besuchern von seiner Powerbook-Festplatte vorspielt, soll Ende 2002 auf Drag City erscheinen), eine Bekanntschaft, die man dem seit Ende 2000 aufgenommenen und von O’Rourke gemixten neuen Album mit seinen teilweise kopfhörerpflichtigen Klanggebäuden deutlich anhört. Trotz seiner verspulten Ansätze ist „YHF“ freilich songorientiert und eher logische Entwicklung als radikaler Bruch mit der Vergangenheit – was das seltsame Gebaren von Reprise nur noch weniger nachvollziehbar macht.

„Letztendlich war es das Beste, was uns passieren konnte „, sagt Tweedy heute über den Split vom Label. „Ich weiß es irgendwie zu schätzen, dass sie so ehrlich waren und auch, dass sie uns aus dem Vertrag rausließen und wir unser Album mitnehmen durften. Mittlerweile haben wir Leute gefunden, denen etwas daran liegt. Der Indie Nonesuch, eher spezialisiert auf Avantgarde-Jazz, moderne Klassik und World Music, ironischerweise wie Reprise ein Warner-Sublabel, ist seit Herbst die neue Heimat von Wilco. Das New Yorker Label machte das Rennen unter knapp 30 anderen, die sofort Schlange standen, als bekannt wurde, Wilco seien zu haben (dass letztendlich auch die scheinbar zur Besinnung gekommenen Reprise-Leute mit einem Angebot heranbuckelten, mag Tony Margherita nicht offiziell bestätigen, sein Grinsen reicht aber aus).

„Klar‘, sagt Tweedy und wirkt fast peinlich berührt, „das könnte man jetzt hochstilisieren als eine Art David-gegen-Goliath-Geschichte und was es für ein nobles künstlerischen Statement von uns war, das Album nicht zu ändern. Naja. Wir hatten einePlatte gemacht, von der wir überzeugt waren, und haben einfach getan, was man in so einer Situation wohl tun sollte.“ Jeff Tweedy mag keine Klischees, allzu griffige, oberflächliche Vereinfachungen sind ihm zuwider. Keine Antwort kommt aus der Pistole geschossen, immer überlegt er lang, spricht dann konzentriert und bedächtig mit zigarettenrauher Stimme, lächelt manchmal, lacht selten. Der 34-Jährige, zweifacher Vater, macht es sich nicht einfach. Ist er ein Grübler? „Ich weiß nicht….“, fängt er an und ringt gleich wieder nach Worten, „ich bin keine… keine gequälte Künstlernatur oder so was. Ich glaube, ich war einfach schon als Kind eher in mich gekehrt. Sehr reflektiv und introvertiert. Ich beobachte viel. Es zieht mich mehr zur dunklen Seite hin, aber ich sehe mich alles in allem nicht als einen unglücklichen Menschen. Ich denke, ich habe mit den gleichen Dingen zu kämpfen wie jeder sonst. Ich habe immer versucht, mit der Tatsache klarzukommen, dass man nicht die ganze Zeit nur glücklich und fröhlich sein (rann.“Tweedy lächelt vage: „Und dass das auch nicht schlimm ist.“

In dem Song „Heavy Metal Drummer“ besingt Tweedy in einem seltenen Anflug von – wenn auch doppelbödiger- Nostalgie ein Jugend-Szenario voll Sorglosigkeit, Unschuld und Heavy Metal-Konzerten. „Wir haben uns immer Metalbands angeschaut und uns über sie lustig gemacht. Wir waren an Punk interessiert, an ernsthafterer Musik – oder was wir dafür hielten. Ich habe mich diesen Typen mit ihren Spandex-Hosen überlegen gefühlt, wie sie sich ihre Hemden runterrissen und ihre Mikros schwangen. Und jetzt denke ich mir: Die hatten einfach Recht! Der Song ist nicht nostalgisch, eher mein Kommentar, Jch bin jetzt älter und viel freier und würde gern nochmal dahin zurück und hoffe, ich würde einfach tanzen. Und nicht so verdammt bescheuert sein und ständig über alles so viel nachdenken.“ Tweedy lacht. „Ich wünschte manchmal, ich könnte das alles abschalten und einfach total Rock’n’Roll sein.“ Abschalten? „Die hirnlastige Seite des Ganzen. Das Nachdenken.“

Jeff Tweedy macht es sich nicht einfach Und anderen auch nicht. 2001 war auch über den Labelwechsel hinaus ein Jahr der Umwälzungen für Wilco. Innerhalb von acht Monaten verließen zwei der vier festen Mitglieder, Drummer Ken Coomer und Gitarrist/Keyboarder Jay Bennett, die Band. Zumindest Coomer ging nicht freiwillig. Tweedy seufzt. „Ken wohnt nicht in Chicago, und es widerstrebte mir immer mehr, dass die Band immer nur für Aufnahmen und Proben zusammenkam. Wir entwickelten uns nicht so weiter wie wir hätten können, wenn wir uns jeden Tag getroffen hätten. Über Jim O’Rourke lernte ich dann Glenn Kotche kennen, einen unglaublich versierten Percussionisten. Und mir war bald klar, dass ich keinen Drummer kannte, mit dem ich so eine intuitive Verbindung hatte. Diese Chemie war mit Ken nicht mehr da. Eines Tages, Anfang 20 01, kam Glenn dann im Studio vorbei, eigentlich wegen ein paar Vibraphon-Overdubs. Wir hatten da diesen Song, an dem wir schon ewig rumprobiert hatten und der rhythmisch einfach nicht hinhaute. Den haben wir dann mit Glenn ausprobiert. Und er hat einfach so“-Tweedy schnippt mit den Fingern – zack, sein Ding gespielt, in einem Take. Natürlich, es war hart, und ich habe mich richtig fies gefühlt. Wegen Ken. Aber ich konnte auch nicht darüber hinweggehen und die Musik opfern für eine Art Loyalität auf einer freundschaftlichen Ebene.“ Tweedy schaut gequält und fügt wenig überzeugt hinzu: „Die ja hoffentlich weiterbestehen wird.“

Ähnlich gelagert waren die Umstände des Ausstieges von Gitarrist und Keyboarder Jay Bennett, der Mitte August die Band verließ, wobei hier wohl auch der bandinterne Stress nach dem Verlust des Labeldeals eine Rolle spielte – und augenscheinlich eine gute Prise Ego-Querelen. Tweedy: „Wir waren an einem Punkt, wo Jay mehr Gewicht in der Band wollte als wir ihm zugestehen wollten. Es war einfach keine gesunde Zusammenarbeit mehr. Ich weiß auch nicht…“, windet er sich, „ich möchte nicht ausweichen, aber die Sache ist auch persönlich, ich weiß nicht recht, wie ich darüber reden soll.“

Der Umbau hat Wilco gut getan, befindet Tweedy. Die neue Besetzung – nunmehr bestehend aus ihm und Stirrat sowie Glenn Kotehe und der einstigen Wilco-Teilzeitkraft Leroy Bach – ging im Herbst, während die Verhandlungen um einen neuen Plattenvertrag anliefen, auf ausverkaufte US-Tournee vor Fans, die das unveröffentlichte Album, das mittlerweile in voller Länge auf der Wilco-Homepage zu hören war, bereits auswendig kannten. „Wir waren eine völlig neue Band. Vielleicht hat den Leuten das ein oder andere gefehlt, aber wir waren völlig begeistert von unserem neuen Ding. Wir hatten noch nie so viel geprobt wie für diese Tour, waren jeden Tag hier oben und haben von elf bis dreigespielt. Viele Songs klangen dann seltsam genug – viel mehr nach dem Geist der Alben. Anders als noch mit Jay.'“Wie anders? „Naja…. wir haben – nur als Beispiel – eigentlich nie viele Gitarrensoli auf unseren Platten.“ Um Tweedys Augen spielt ein für seine Verhältnisse fast maliziöses Lächeln: „Und live waren da dann plötzlich immer

diese laaangen Soli. Die gibt s jetzt eben nicht mehr.‘ Jay Bennett – the Gegniedel and the damage done.

Sollte noch jemand Zweifel gehabt haben: Wilco ist Jeff Tweedys Band. Es ist schwer und wohl auch nicht realistischerweise notwendig, sich den Mann mit den müden Augen und dem aufblitzenden bubenhaften Lächeln als egomanischen Bandleader vorzustellen, der willige Vollstreckerum sich schart. Tatsache ist aber, dass Tweedy alle Texte und fast die ganze Musik von Wilco schreibt, die Interview-Tournee durch Europa allein bestreitet, Sachen sagt wie „Mit ‚Yankee Hotel Foxtrot‘ wollte ich…“ und offensichtlich willens und in der Lage ist, im Falle eines Falles sozusagen zu tun, was ein Mann tun muss.

Jeff Tweedy ist Amerikaner. Aber auch als solcher keinem Klischee verhaftet. „Ich vertraue der Politik nicht. Ich traue den Informationen nicht, die ich bekomme, gleich von welcher Seite des politischen Spektrums. Es gibt zwei Sichtweisen von Amerika, und keine davon entspricht meiner Perspektive. Diese superkritische antiamerikanische Sicht von Leuten, die sich über eine Reaktion auf ihre Kultur definieren, ist von dieser genauso kontrolliert wie die Leute, die mit Flaggen rumlaufen und sich einreden, wie glücklich sie sind. Ich denke, das größte Problem ist, wie bereitwillig sich die Menschen an eine Identität verkaufen. Hüben wie drüben. Dabei geht es darum, mit wem du befreundet bist, wen du beeindrucken willst. Wer du sein möchtest. Wie dugern sein möchtest. Anstatt einfach nur zu sein. .Ich bin links / ich bin konservativ‘. Bist du nicht! Das kauf ich dir nicht ab. Ich sehe keinen Unterschied, ob jemand versucht, Britney Spears oder Che Guevara zu sein. Beides basiert auf Heldenverehrung.“

Bei aller Skepsis gegenüber Bush & Kumpanen gibt Tweedy zu, die Anschläge vom 11. September hätten ihn zum ersten Mal nachfühlen lassen, „wie sich die Generation meiner Eltern als Amerikaner gefühlt hat, unter einer Bedrohung zu leben. Das ist das Problematische, wenn Gewalt als politisches Mittelgegen die Bevölkerung gerichtet wird. Gewalt gegen die Zivilbevölkerung hat in der Geschichte immer dazu geführt, dass die Angegriffenen zusammenrückten.“ Nachdem er die Stunden nach den Anschlägen mit seiner Familie verbracht hatte, stand Tweedy um vier Uhr nachmittags für lang geplante Aufnahmen mit einem weit angereisten Musikerfreund schon wieder im Studio, anderthalb Wochen später waren Wilco auf Tournee. „Es war hart und eine sehr emotionale, tränenreiche Zeit. Aber die Gefahr dabei, dass die Leute sich so sehr wünschen, dass alles wieder so ist wie zuvor, ist, dass dieser Wunsch sie vom Leben im Hier und Jetzt abhält. Man kann sich nicht wünschen, alles möge so sein wie es einmal war, und gleichzeitig wirklich den Moment leben.“

Just in diesem Moment ist Jeff Tweedy zwar etwas sonntagnachmittagsschläfrig, aber die kommende Woche ist schon verplant: Bis Samstag soll ein neues Album im Kasten sein, Songs und Setlist stehen schon. „Das Ziel ist, jeden Tag zwei Songs aufzunehmen.“ Fünf Alben wollen Wilco dieses Jahr einspielen, das beste davon veröffentlichen. Und die anderen? „Die hören wir uns selber an“, sagt Tweedy und grient Tony Margherita an. „Wir sind wie diese Typen in den Ecstasy-Labors: wir machen uns unser Zeug selber. „Jetzt geht’s aber erst mal nach Hause, Superbowl gucken. Den gewinnt dann übrigens das als Außenseiter gesetzte Team namens Patriots, vor deren rot-weiß-blauen Vereinsfarben am Ende des Feiertages die Bildschirme im ganzen Land überquellen – besser hätte es sich auch kein Drehbuchschreiber ausdenken können. Vielleicht sollte Jeff Tweedy im Fernsehen künftig lieber Tierfilme schauen.

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