Wieso ich gehofft habe, dass Kanye Wests neues Album schlecht wird
Zwischen Genie und Wahnsinn und dem Künstler und seiner Kunst: Selbst seinen Fans machte Kanye West es in den vergangenen Jahren nicht leicht, ihn zu verteidigen. Mit JESUS IS KING hat er unserer Autorin leider nicht geholfen, ihren alten Helden endgültig abzuschreiben.
2004 erschien Kanye Wests erstes Album THE COLLEGE DROPOUT. Ich war damals neun Jahre alt und tanzte zu seinen Songs durch das Kinderzimmer meines Bruders. Seitdem ist viel Zeit vergangen. Meine auch durch West entfachte Begeisterung für HipHop und Rap habe ich in all diesen Jahren nicht verloren. Aber ich bin mittlerweile erwachsen geworden, naja, ein bisschen jedenfalls. Und Kanye? Der ist mittlerweile abgedreht, naja, ein bisschen jedenfalls.
Beim Namen Kanye West scheiden sich die Geister wie bei kaum einem anderen Weltstar: Vielleicht, so glauben und hoffen die einen, ist der Mann das größte Popgenie, das momentan auf Erden weilt. Das uns alle vorführt und gerade das größte Performance-Art-Projekt aller Zeiten durchzieht. Hach, welch beruhigende Erklärung wäre dies für all die verbalen Ausfälle, die Kanye West sich in den vergangenen Jahren so geleistet hat. Klar, Kanye hat einen Knall und macht, was er will, das ist Teil seines künstlerischen Charmes. Aber kann ich guten Gewissens die Musik eines Künstler hören, der Trump unterstützt, Sklaverei verharmlost und offensichtlich einem katholischem Fanatismus verfallen ist?
Vielleicht ist Kanye West aber eben doch verrückt. Und ich meine hier nicht das verrückt, dass Dating-Show-Kandidaten auf RTL2 benutzen, um sich selbst zu beschreiben. Sondern ich meine, dass der Rapper ein ernsthaftes psychisches Problem haben könnte.
„Ich hasse es, bipolar zu sein, es ist phantastisch“
Nachdem Kanye West 2016 LIFE OF PABLO veröffentlichte, erlitt er eine Art Nervenzusammenbruch. Damals scheint bei dem Rapper eine bipolare Störung diagnostiziert worden zu sein.
Auf seinem folgenden Album YE verklärt Kanye die Bipolarität als ästhetisches Prinzip. „Ich hasse es, bipolar zu sein, es ist phantastisch“ – dieser Satz ist auf dem Cover des Albums zu lesen. In einigen Interviews gesteht Kanye West allerdings, dass er manchmal um sich selber fürchte angesichts von Sucht und Wahn. Doch laut eigener Aussagen seien es genau diese psychischen Spannungen, die ihn Kraft und Kreativität schöpfen lassen.
Ist das nicht irgendwie unheimlich? Mir als einstigem Fan kommt es fast so vor, als würde ich seit Jahren eine Tragödie verfolgen und Kanye dabei zusehen, wie sich sein psychischer Zustand verschlechtert. Vielleicht bringe ich ihm aber auch zu viel Mitleid entgegen. Die Fragen zu Kanye West in meinem Kopf werden jedenfalls täglich mehr. Ist der öffentliche West nun eine Kunstfigur? Oder ist er eine authentische Person, die nunmal auch eine Person des öffentlichen Lebens ist? Ist seine Musik vielleicht der beste Weg mit seiner Krankheit umzugehen? Sind seine wirren Tweets eventuell als sozial-mediale Form seiner Kunst zu betrachten? Meint Kanye das alles ernst?
Genie oder Wahnsinn?
Rembrandt ließ seine Ex-Geliebte ins Gefängnis werfen, weil sie ihn erfolgreich auf Unterhalt verklagt hatte. Richard Wagner hetzte offensiv gegen Jüdinnen und Juden. Roman Polanski vergewaltigte ein 13-jähriges Mädchen. Scheint so, als wären alles diese Ausnahmekünstler nicht ganz sauber gewesen und moralisch keinesfalls vertretbar. Doch offenbar konnte und kann man ihnen einiges verzeihen, schließlich ist ihre Kunst ja so großartig, blablabla. In den vergangenen Jahren trat auch Kanye West immer mehr durch Skandale und obskure Auftritte in der Öffentlichkeit in Erscheinung. Ob durch seine Verbundenheit gegenüber US-Präsident Donald Trump oder fragwürdige Aussagen über Sklaverei: Kanye schaffte es immer wieder, sowohl bei Fans als auch bei Kritikern für kontroverse Diskussionen zu sorgen. Keine Frage: Eine Vergewaltigung ist mit der Verharmlosung von Sklavenhandel oder dem Support eines gefährlichen, weil mächtigen Narzissten nicht gleichzusetzen. Unterstützenswert muss man letzteres deshalb trotzdem nicht finden.
Wieso ich nun insgeheim gehofft habe, dass Kanyes neues Album JESUS IS KING schlecht wird? Ganz einfach: Das ganze Gerede vom musikalischen Genie könnten wir getrost beiseite lassen. Wir müssten West nicht weiter glorifizieren und könnten ihn endlich als das sehen, was er möglicherweise wirklich ist: ein verrückter Egozentriker mit einem psychischen Problem. Wäre JESUS IS KING ein schlechtes Album, dann hätten all die Fans, die Kanye seit Jahren verteidigen, wenn er mal wieder von Trump schwärmt oder Taylor Swift beleidigt, keine Argumente mehr. Sie könnten seine peinlichen Auftritte oder Ausfälle nicht mehr länger damit entschuldigen, dass er ein musikalisches Genie sei (nur damit, dass er definitiv mal eines war). Und ich könnte endlich mit meinem alten Helden abschließen.
Wie bitte? Man soll Künstler und ihre Kunst voneinander trennen? Schließlich wären sonst ja auch musikalische Meisterwerke wie zum Beispiel THRILLER von Michael Jackson unhörbar? Manchmal wünsche ich mir, ich könnte so abgebrüht sein. Kann ich aber nicht. Sobald ich einen Song von R. Kelly höre, habe ich Bilder vor meinen Augen, die ich am liebsten ganz schnell wieder loswerden möchte. Ein bitterer Beigeschmack bleibt.
Sicherlich: Kanye West ist einer der wichtigsten Popkünstler der vergangenen 15 Jahre. Und ich erwische mich immer wieder selbst dabei, wie ich fasziniert jede neue Nachricht über den Rapper verfolge. Vor mir selbst kann ich das Gaffen, was Kanye angeht, immerhin insofern rechtfertigen, als dass ich ihn als Extremfigur und Symbol unserer Zeit sehe und es spannend finde eine Künstlerpersona zu beobachten, die scheinbar ungefiltert auf allen Kanälen genau das raushaut, was ihr gerade in den Kopf schießt. Fakt ist allerdings auch, dass der Grat zwischen Genie und Wahnsinn, auf dem Kanye immer wieder wandelt, ein schmaler ist.
Nach ewigen Hin und Her war es am 25. Oktober 2019 endlich so weit: Kanye Wests neuntes Studioalbum JESUS IS KING ist tatsächlich erschienen. Kanye West hatte angekündigt, in Zukunft auf profane Sprache zu verzichten und nur noch christliche Musik zu machen und so ist auf seinem Gospel-Projekt kein einziger Fluch und kein einziges Schimpfwort zu finden. Und was soll ich sagen, ich finde die Platte gut. Leider.