Westernhagen & Co.
Rund eine halbe Million begeisterter Anhanger lockte Marius Müller-Westernhagen in die Hallen - auf seiner Triumph-Tournee, die im November 1989 begann und im Juni ihren krönenden Abschluß fand. Zur Feier des Tages leistete er sich gleich ein ganzes Festival mit prominentem Vorprogramm.
Rund 50 000 Fans bevölkerten das weite Rund des Parkstadions, wo sonst der ruhmreiche Ruhrpott-Club Schalke 04 seinen Heimvorteil zu nutzen sucht. Trotz widriger Witterungsbedingungen – zeitweise goß es wie aus Kübeln – kam das bunte Völkchen auf seine Kosten: mit einem achtstündigen Open-Air-Programm mit fünf Bands und Interpreten und ohne böswillig lange Umbaupausen.
Die Musik-Zusammenstellung dieses Festivals war farbenfroh: ein fetter Klecks Reggae zum Auftakt von der grün-gelben Front der Rhythm Killers Sly & Robbie, dann bizzar instrumentierter, kantengehärteter Underground mit dem Kölner Trio Crazy Sex Idiots, eine Schicht Mainstream mit dem von Queen-Trommler Roger Taylor geleiteten Ensemble The Cross, eine Lage Art-Rock von und mit Fish und zum krönenden Abschluß Marius Müller-Westenhagen. Ihm vor allem galt das ungeteilte Interesse der Besucher: Gelsenkirchen war Schlußpunkt einer Tournee, die Anfang November 1989 begonnen hatte und in deren Verlauf Müller-Westernhagen rund eine halbe Million treuer Anhänger angelockt und begeistert hat.
Doch der Nachmittag begann mit Sly Dunbar, Robbie Shakespeare und den Rhythm Killers. Lag es am undifferenzierten Sound oder an der Ameisenbetriebsamkeit eines noch unruhigen Publikums, daß die Reggae-Mannen kaum Beachtung fanden? Routiniert, aber ohne erkenntliche Spielfreude, professionell, aber sichtlich hilflos spulten die Rhythmiker ihren Set ab. Da sorgten die Crazy Sex Idiots aus Köln für weitaus mehr Druck. Obwohl nicht vertraut im Umgang mit solchen Hörmassen, zeigten sie nicht das leiseste Zeichen von Premierenfieber. Das einzige Handikap der Crazy Sex Idiots: Das Material ihrer demnächst erscheinenden LP HAPPY! war weitgehend unbekannt.
Cross-Anführer Roger Taylor, der als Queen-Trommler an Superstar-Behandlung gewöhnt ist. zeigte Profil und Persönlichkeit. Trotz plötzlicher Regenschauer war alles roger beim blonden Taylor: Als er mit seiner rauchigen Stimme den aus seiner Feder stammenden Queen-Klassiker „I’m In Love With My Car“ präsentierte, kam endgültig Stimmung auf. Das Parkstadion war „warmgespielt“. Davon profitierte der schwergewichtige, trinkfeste Fish. der als ehemaliger Marillion-Frommann Festivals im Dutzend absolviert hat. Erstaunlich, wie sich dieser schottische Koloß trotz seiner Körperfülle mit animierender Unruhe zwischen seinen schlankeren Musikern bewegt. Dem langen Vorspiel folgt ein rauschhafter Höhepunkt: Denn dann kommt endlich der schlaksige Pfefferminz-Prinz – im weißen Anzug, gepunktetem Hemd und genau zum richtigen Zeitpunkt, bevor die Spannung der Wartenden in Ungeduld umkippt. Westernhagen spielt eben auf der Klaviatur der Emotionen virtuos wie kein zweiter. Fast ist es überflüssig zu erwähnen, daß seine hochkarätig besetzte Band nach der ausgedehnten HALLELUJA-Tournee mit schier beängstigender Perfektion agiert. Wie diese Musiker das Material umspielen, das Tempo mal drosseln, mal anziehen, wie sie den klanglichen Rahmen schaffen für die Kapriolen von Westernhagen – das ist die halbe Miete dieses gut zweieinhalbstündigen Live-Coups. Den Rest besorgt der Mann in Weiß. Denn er ist ein Stimmungsmacher par excellence: Genau im richtigen Augenblick läßt er das Mikro sinken und lauscht dem Chor aus zigtausend Kehlen. Genau im richtigen Augenblick fährt er sich mit ungläubiger Miene durch die Haare. So verwandelt sich das Fußballstadion in einen Festplatz.
Repertoire-Probleme kennt Westernhagen nicht: zehn von 25 Titeln sind Konzertklassiker und zehn sind Hits – alles, was man kennt und schätzt: „Pfefferminz“, „Ganz und gar“, „Sexy“, „Nimm mich mit“. Der Zugabenteil – es geht auf elf Uhr zu – ist geballte Power: „Freiheit“. „Laß uns leben“, „Geiler Is Schon“, „Dicke“ und – als traditionelles Goodbye-Stück – „Johnny Walker“. Man sieht ein Meer wogender Körper, eine Welle hochgestreckter, klatschender Hände. Man hört einen Chor, der Golthilf Fischer neidisch stimmen würde. Strophenweise singt die Menge die Story von „Johnny, dem besten Freund“. Ein Feuerwerk illuminiert den Himmel über Gelsenkirchen. Und der Wind seufzt „Halleluja“.