Wer Can, der Can


Für viele sind sie die wichtigste Band die Deutschland je hervorgebracht hat. Jetzt kommt die Can-Urbesetzung noch einmal gemeinsam auf Tournee.

SELTSAME NACHRICHTEN AUS DEM „INNER SPACE“: EINE Geschichte, die vor langer, langer Zeit weit draußen ihren Anfang nahm, die spannend war, magisch, faszinierend, verrückt und oft genug mehr als nur ein bißchen unheimlich; die nie ganz aufhörte, sich allenfalls verästelte und bisweilen an völlig unvermuteten Stellen weitergesponnen wurde; eine Geschichte, die nun plötzlich nicht mehr durch die Schattenwelt der Erinnerungen geistert, sondern im gleißenden Scheinwerferlicht erstrahlt; eine Geschichte, in der Holger Czukay, Michael Karoli, Jaki Liebezeit und Irmin Schmidt die Hauptrollen spielen, vier Herren im Alter zwischen 50 und 61 Jahren, die unter dem Namen Can von ihrem Hauptquartier aus, dem „Inner Space Studio“ bei Köln, zwischen 1968 und 1981 Musikgeschichte geschrieben haben.

„Wenn Velvet Underground auf einem Schrottplatz spielen, dann spielen Can an noch viel düstereren Orten“, schrieb einst der britische „Melody Maker“ anerkennend. „An Can wird man sich als eine der größten Bands des 20. Jahrhunderts erinnern“, gab Julian Cope zu Protokoll, „Krautrock“-Experte und einst Frontmann von The Teardrop Explodes, einer von zahllosen Can-beeinflußten Wave-Formationen. Ultravox und Buzzcocks, Talking Heads und Joy Division, aber auch John Lydon (aka Johnny Rotten), David Bowie und Brian Eno, in neuerer Zeit Tortoise, Stereolab und Sonic Youth, dazu die Helden von Techno, House und Ambient: Das Heer der Bewunderer ist längst unüberschaubar geworden und macht vor allen Dingen deutlich, daß Can-Musik immer noch absolut heutig ist.

Erstaunlich genug in einer Zeit, in der Nirvanas „Smells Like Teen Spirit“ bei Oldie-Radiosendem zu vergammeln droht. Erstaunlich genug für eine Band, die selbst in der für unterkühlte Seriosität bekannten Schweizer Presse Mordgelüste weckte: „Die Burschen sitzen auf hölzernen Stühlen und spielen elektrische Instrumente. Es wäre besser, wenn sie auf elektrischen Stühlen säßen und hölzerne Instrumente spielen würden“, schrieb eine Züricher Zeitung anläßlich eines Auftritts der deutschen Neutöner im September 1969.

In diesen Tagen – am 19., 24., 26. und 28. März – werden Czukay, Karoli, Liebezeit und Schmidt in Berlin, Hamburg, Köln und Frankfurt wieder die Bühne betreten. Allerdings nicht gemeinsam. Jaki Liebezeit: „Gemeinsam da oben zu stehen und alte Can-Gassenhauer zum Besten zu geben, das wäre völlig gegen den Anspruch, den wir seit jeher hatten: daß diese Band sich permanent neu erfinden muß.“ Und darum nennt sich das Programm „The Can Projects“, darum wird jeder der Beteiligten eine Dreiviertelstunde lang Einblick in sein aktuelles Schaffen geben: Holger Czukay in sein Multi-Media-Spektakel „Magazine“, Irmin Schmidt in seine Oper „Gormenghast“, während lala Liebezeit (Club Off Chaos) und Michael Karoli (Sofortkontakt!) ihre neuen Bands vorstellen werden. Kein Platz also für „Yoo Doo Right“, „Halleluwah“, „Future Days“ und all die anderen Glanztaten von einst. Und das ist gut so. Denn Can taugt nicht zur Revival Band, dazu waren Brüche – gewollte und ungewollte – stets viel zu wichtige Bestandteile der oft genug heillos chaotischen Bandgeschichte.

Diese Geschichte begann, als Irmin Schmidt, einem Schüler des Pioniers der Modernen Musik, Karlheinz Stockhausen, einem Bewunderer von Terry Riley, Steve Reich oder LaMonte Young und ausgebildeten Dirigenten und Pianisten der Klassischen Avantgarde, 1968 einige Rock-Alben zu Ohren kamen: Hendrix‘ „Electric Ladyland“, „The Velvet Underground & Nico“, „Absolutely Free“ von Frank Zappas Mothers Of Invention. Schmidt war beeindruckt und steckte mit seiner Begeisterung einen gewissen Holger Czukay an, einen Bekannten aus dem Stockhausen-Umfeld an der Kölner Musikakademie, damals gerade Lehrer geworden und als solcher ebenfalls dankbar für ein Erweckungserlebnis. Ein Schüler hatte ihm den Beatles-Song „I Am The Walrus“ vorgespielt, und Czukay war völlig von den Socken. Der Name des jungen Mannes mit dem guten Geschmack: Michael Karoli, ein Rockgitarrist mit Hang zum Jazz. Ein Schlagzeuger war in Jaki Liebezeit, der schon für Jazz-Größen wie Chet Baker und Manfred Schoof getrommelt hatte, rasch gefunden. Im Juni 1968 schlug die Geburtsstunde von Can, damals noch mit Stockhausen-Assistent David Johnson (Flöte). Im August kam der Bildhauer Malcolm Mooney, ein schwarzer Amerikaner, der auf der Flucht vor dem Kriegseinsatz in Vietnam nach Europa gekommen war, hinzu und übernahm ohne jede Gesangserfahrung – die vocals. Als Johnson im Dezember zu seinen Studien zurückkehrte, war das erste klassische Can-Lineup perfekt.

In ihrem zuerst auf Schloß Nörvenich, später in einem ehemaligen Kino in Weilerswist bei Köln beheimateten „Inner Space Studio“ war die Band praktisch rund um die Uhr am Werk. Jahre später erinnerte sich Holger Czukay schmunzelnd an diese Sturm-und-Drang-Phase: „Ich war so vollgestopft mit Wissen über die Moderne Musik und konnte immer noch nicht richtig Baß spielen.“ Rocker, Jazzer, Avantgardisten, dazu ein Nicht-Sänger, allesamt naiv im besten Sinn des Wortes: Das konnte nur komplett in die Hose gehen oder revolutionäre Ergebnisse zeitigen. Wie wir heute wissen, war letzteres der Fall. Vor allem einer Arbeitsweise wegen, die Irmin Schmidt einmal so schilderte: „Einen Komponisten gibt es bei uns nicht. Ein Stück entsteht beim Zusammenspielen. Keiner von uns hat Lust, etwas zu schreiben und dann den anderen zu sagen, ‚jetzt übt das mal schön‘.“ Was im Studio galt, traf erst recht auf die Konzerte zu. „Während die meisten Musiker ihre Platten auf der Bühne bloß nachspielen, kommen wir ohne Konzept oder eine konkrete Vorstellung von dem, was wir spielen wollen, auf die Bühne. Die berühmte Can-Magie entsteht dann, wenn wir auf der Bühne richtig gut sind“, erzählt Czukay in Pascal Bussys und Andy Halls sehr empfehlenswerter, im Augsburger Sonnentanz-Verlag erschienener Can-Biographie.

DASS EINE SOLCHE VERWEIGERUNG GEGENÜBER JEGLICHER ERWARtungshaltung natürlich Schlagzeilen wie die oben erwähnte provozierte, nahm Can nicht nur in Kauf, man verwendete den Spruch vielmehr für die eigene PR. Es galt, das System mit den eigenen Waffen schlagen. Nicht umsonst legte die Band stets Wert darauf, als 68er-Gruppe zu gelten, behauptete Irmin Schmidt grinsend, der Name Can stünde für „communism, anarchism, nihilism“. Kampf dem Spießertum, Krieg der Hochkultur. Mit dem Rätsel um die Bedeutung des Wörtchens „Can“ quälen sich manche Fans übrigens bis auf den heutigen Tag herum. Erfolglos, versteht sich.

Doch zurück ins „Inner Space“ der Jahre ’69/’7O: Während sich die Auftragsarbeiten für Kino- und Fernsehfilme häuften, fühlte sich Malcolm Mooney zunehmend unwohl, war immer wieder verschwunden, tauchte zu Konzerten oder Aufnahmen gar nicht erst auf und nahm schließlich endgültig seinen Abschied. Die vier Hinterbliebenen mußten nicht lange nach einem Nachfolger suchen: Im Mai 1970 lernten sie in München den Straßenmusiker Damo Suzuki kennen. Am Abend des gleichen Tages stand er bereits auf der Bühne. Suzuki blieb, bis er 1973 den Zeugen Jehovas begegnete und sich dieser vieler weltlicher Dinge – unter anderem der Rockmusik – abholden Glaubensgemeinschaft anschloß. Immer wieder läßt der Japaner seither mit abgefahrenen Projekten von sich hören zuletzt mit der 7-CD-Box „P.R.O.M.I.S.E.“ – und hat sich damit unter „Canologen“ eine Aura erworben, die sich mit der von Syd Barrett unter Pink-Floyd-Fans vergleichen läßt. Nach diesem neuerlichen Verlust entschieden sich die „universalen Dilettanten“ (Czukay), als Quartett weiterzumachen. Fortan war der Gesang, wechselweise von Karoli oder Schmidt, der Schwachpunkt des Can-Schaffens und spielte in der Folge eine immer geringere Rolle. Gleichzeitig kam es innerhalb der Gruppe zu wachsenden Spannungen. Statt unter den einfachen Bedingungen der Frühzeit nahm man mittlerweile mit 16-Spur-Maschinen auf. Mit dem Effekt, daß Fehler der Beteiligten, die in der Vergangenheit als Ausgangspunkt für etwas Neues genommen wurden, nun zunehmend seziert und kritisiert wurden. Damit nicht genug: In der schönen neuen Technik-Welt ging jeder Musiker für sich ins Studio, tat seinen Job und verschwand wieder. Die Interaktion war flöten, die Spontaneität weg, die Chemie im Eimer. Deshalb macht Jaki Liebezeit auch heute noch aus seinem Herzen keine Mördergrube: „Meiner Meinung nach sind die ersten Platten viel besser als die späteren.“ Zu allem Überfluß hängte Holger Czukay den Baß an den Nagel, um fortan mit elektronischen Geräten, Radioempfänger oder Diktaphon seinen Beitrag zum Sound zu leisten. Mit der dadurch notwendigen Verpflichtung neuer Musiker – Roscoe Gee (Baß) und Reebop Kwaku Bah (Percussion) von Traffic – war der Gruppenverband endgültig gesprengt, zumal die beiden angeblich vor allem darauf achteten, daß sie finanziell nicht zu kurz kamen.

Czukay verließ die Gruppe alsbald – Gerüchte besagen, zwischen ihm und einem der Neuankömmlinge seien sogar die Fäuste geflogen – und wandte sich einer fruchtbaren Solokarriere zu: Vor Experimentierfreude schier platzende Alben wie „Movies“ (1979), „On The Way To The Peak Of Normal“(1981) oder „Moving Pictures“ (1993) sind uneingeschränkt zu empfehlen, ebenso Kollaborationen mit David Sylvian, Jah Wobble oder zuletzt Dr. Walker. Nach Czukays Abgang spielte Can zwei durchwachsene und ein schwaches Album ein und ging auseinander. Doch tot war die Ur-Formation nicht, sie verbreiterte, so die offizielle Sprachregelung, lediglich ihre Wurzeln. Man traf sich, machte Musik, unterstützte die Projekte des jeweils anderen: „In gewissem Sinne sind wir immer noch eine Gruppe, nur daß wir eben diesen Namen abgelegt haben“, sagt Jaki Liebezeit heute. So war es denn eine angenehme Überraschung, aber nicht gerade ein Weltwunder, als 1989 ein neues Can-Album in der Besetzung Mooney, Czukay, Karoli, Liebezeit und Schmidt erschien. Zurück blieb nach diesem letzten gemeinsamen Lebenszeichen ein Gesamt-Oeuvre, das selbst den sonst so distanziert-kritischen „Spiegel“ zu Elogen hinriß. Von „rauschfreien akustischen Weltraumfahrten, die den Konservenstumpfsinn der achtziger Jahre glatt vergessen lassen“, war die Rede, als das Can-Gesamtwerk auf CD erschien.

Und damit, beteuert Holger Czukay, soll es – sieht man von einem Live-Album mit Aufnahmen aus den Jahren ’68-’77 ab (siehe Seite 68) – auch sein Bewenden haben: „Die Zeiten für diese Gruppe sind vorbei, auch wenn alle Mitglieder in bestmöglichem Kontakt zueinander stehen und Kooperationen immer stattgefunden haben und stattfinden werden.“ Lind warum diese vier Termine? Nicht aus finanziellen Gründen, versichert Irmin Schmidt. „Wir werden bei der Sache wohl draufzahlen. Aber das ist es uns wert. Wir freuen uns, daß wir in 31 Jahren Can unsere Ideale nie verraten haben. Das ist Anlaß genug zum Feiern.“ Findet auch Holger Czukay. „Vielleicht sind wir heute lebendiger denn je, weil wir unserer Zeit nicht mehr voraus sind, sondern von einer Menge Menschen verstanden werden.“

Kann sein, daß sich Czukay, Karoli, Liebezeit und Schmidt mit ihren „Projects“ zwischen alle Stühle setzen. Kann aber auch sein, daß, wenn schon nicht der alte, ein neuer Zauber wirkt, und sie ihr Publikum mitnehmen auf etwas, was Irmin Schmidt „die Suche nach den magischen Momenten“ nennt, „in denen alles zusammenpaßt, in denen sich die Musik selbst spielt.“ Phantasie, Mut, Neugierde, Abenteuerlust, Risikobereitschaft: Dafürsteht Can. Und dafür darf man Can lieben. Hallelujah!