Wenn die Faust Geschichten schreibt


Douglas Coupland, der medienbewußte Sprachdesigner aus dem Westen Vancouvers, hatte der Generation der um alle Werte Betrogenen mit seinem Such ‚Generation X‘ ein Label verpaßt, das saß und in den Köpfen ausgeschlafener Trendsetter ungeahnte Erleuchtungen zündete: einen aus der Not geborenen, modisch pervertierten Existenzialismus der schnellen Neunziger – dunkel, desiilusionsverhangen, das letzte große Stillhalten vor dem allumfassenden Crash.

Seine „Geschichten für eine immer schneller werdende Kultur“ lasen sich als Protokolle schmerzlicher Befreiungen aus den Würgegriffen der Konsumgesellschaft. Diagnosen, die trafen, literarisch aber bereits auf dem Schrotthaufen der Künste landeten, bevor sie überhaupt gedruckt waren: poetische Null-Lösungen, inszeniert als umfassender Overkill plus Fönfrisur.

Gegen einen Autor wie den i960 in Detroits Nobelvorort Grosse Point geborenen Jeffrey Eugenides und dessen finsterenigmatisches Frauensterben ‚Die Selbstmord-Schwestern‘ wirken Coupland und seine literarischen Comic-Strips wie grelle poetische Einweggebilde. Eugenides‘ mythisch überhöhter Plot um fünf still und unerklärlich auf Selbstmordkurs gehende Barbie-Puppen liest sich wie der verrätselte Abrechnungsbericht mit einem Land, das seine Kinder im Stich gelassen hat.

Immer mehr junge US-Autoren und -Autorinnen schwingen sich auf zu bizarren Verfalls-Chroniken ihres schleichend implodierenden Landes. Das Resultat: eine aus individueller Verletzung, aus Schmerz und Enttäuschung geborene Literatur des Untergangs, wie sie etwa das 1957 geborene, in Baltimore lebende Szene-Wunderkind Madison Smartt Bell mit seinen Thrillern um restlos ausgebrannte Metropolen-Cowboys schreibt, oder der aus Ohio stammende T.M.McNally, dessen psychologischer Debütroman ‚Diese Wut in uns‘ schon im Titel antönt, was los ist im Land der immer begrenzteren Möglichkeiten.

Längst agieren die literarischen Enkel von Phillip Roth oder John Updike im Zeichen von Fäulnis, Irritation, Depression und Gewalt. Vehement und wortreich artikuliert sich hier eine ganze Riege junger, hochinteressanter Autoren, deren verblüffend intakte und präzise Prosa die junge deutsche Literatur wie eine verschlafene Dorfgemeinschaft händeringender Sprachklempner erscheinen läßt. In den USA wächst eine Autorengeneration heran, die es in Form einer schnellen und zupackenden Sprache immer wieder aufs neue versteht, welthaltig Wirklichkeit abzubilden, auch wenn sie derzeit offenbar nur Zerfall und Stagnation aufzuzeichnen hat.

Schrieb sich Madison Smartt Bell mit Romanen wie ‚Kalter Schlaf oder ‚Heute ist ein guter Tag zum Sterben‘ tief ein in die kalten Herzen der Monsterstädte London oder New York, so beschert uns die Rap-Literatur des farbigen Ex-Müllsammlers Jess Mowry eine einzige schwarze Messe. Seine Geschichten zeigen vor allem eins: in Oaklands Ghettos sind die Straßen Gräber, und der Himmel ist ein großer Sargdeckel. Hier ist die Rap-Generation zu Hause, in deren Hirn das Crack längst alle Träume besiegt hat. Selbst im Angesicht des Todes sind sie ‚megacool‘.

Jess Mowrys literarische Höllenprotokolle ‚Megacool‘ und ‚Oakland Rap‘ sind behutsame Eins-zu-Eins-Abbildungen vom Leben im Müll – eine eigenartige Mixtur aus Dreck, roher Gewalt und sinnlosem Sterben. Rap-Stories – packend-nervöses Erzählen in einem aggressiven Rhythmus, verdichtet zu beklemmenden, hyperrealistischen Porträtstudien von 13jährigen, die ihr kurzes Leben auf der Straße verlieren.

Was bei Mowry die Sätze anreichert mit Blut und Tränen und ein letztes Glimmen wildentschlossener, juveniler Endspieler entfacht, das ironisiert der ebenfalls farbige Lionel Newton, Sohn eines Missionars, in seiner temporeichen Farce ‚Streß mit dem lieben Gott‘. Newton zeigt das Leben Jugendlicher als morausche Grauzone zwischen Gott und dem Satan – ein fiebriges Stück Großstadtliteratur, das Long Island zur letzten Klippe vor dem Untergang stilisiert.

Hier das Ghetto, dort die gepflegten Vorgärten in Grosse Point: Schauplätze eines Zerfalls, der keine Klassenunterschiede kennt – ein Land, in Todeszonen parzelliert.

‚So fucking what‘ – ein Titel, unter welchem auch der junge A.M. Wellman dieser Tage auf den Punkt bringt, was los ist in den Köpfen der getäuschten, ausgegrenzten und frühvergreisten Youngster: kochende Wut und Lethargie. Da erscheint T.M.McNallys Roman wie ein mörderisches Zucken vor dem Absprung ins Nichts. „Nur noch Wut, die das Herz anschwellen läßt, bis es zerplatzt“, resümiert irgendwer an einer Stelle des Buches lakonisch den ganzen Irrsinn heutigen Lebens in den USA. Erzählt wird die Geschichte hilfloser Jugendlicher, deren Sehnsucht nach Liebe und Zugehörigkeit leerläuft, versandet im Rauschen einer alles und jeden betäubenden Sinnlosigkeit. Moral und Geborgenheit werden nur noch per Werbespot simuliert. McNallys Sätze kreisen um entzauberte Todessehnsüchtler, illustriert am Beispiel des 17jährigen Walker Miller, der sich eines Tages kurzerhand die gewaltige 45er ins Auge hält und abdrückt. Eine High-School, die durchdreht: ein Lehrer, der Striptease-Bar-Besucher krankenhausreifschlägt, um danach vom Dach zu springen; und amerikanische Mütter, die sich in lauwarmen Whirl-Pools die Schlagadern öffnen: Paradise Valley – ein Szenario der Verzweiflung!

Doch McNally hält am Ende offensichtlich dem eigenen, schwer zu verkraftenden Bilderterror nicht mehr stand. Er tritt aus der Blutspur seiner Selbstmörder heraus und läßt als letzte, ausblickstiftende Vision ein Bäumchen pflanzen. Der intellektuelle Fall-out eines von den eigenen Gefühlen Geschockten, kitschig-absurd, B-Movie-inspiriert – ein schluchzendes Geheul.

UPDIKES ERBEN: BRANDSTIFTER IM LAND DER BIEDERMÄNNER

Nicht minder brüchig sind auch die Anti-Helden des i960 in Seattle geborenen Charles D’Ambrosio, dessen Debütband ‚Ihr wirklicher Name‘ eine Handvoll Geschichten versammelt, die zweifellos zu den interessantesten US-Exporten der letzten Jahre zählen. Seine intensiven amerikanischen Innenansichten lenken den Blick in ein von Zerrüttung und latenter Gewalt unterwandertes Middle-Class-Amerika, dessen Protagonisten ihr Alltagstrauma auf exzessiven Cocktail-Parties in wilden Whiskey-Sessions ersäufen, um im anschließenden Filmriß das kurze Vergessen zu finden.

D’Ambrosios spiralige, erfahrungsgesättigte Sätze schieben sich wie Splinte zwischen die Nahtstellen des Vergessens denn dieser Autor spricht die Sprache der Einsamen, und er spricht sie kompromißlos und ungeschönt. In der kurzen, spröden Bebilderung der mit Worten festgenagelten Erinnerung zündet D’Ambrosio seine Sicht auf ein Land und seine Bewohner, deren Zukunftsvorschuß schon längst aufgebraucht ist.

Rick Moodys ausgreifende Chronik zweier überschnappender Middle-Class-Familien macht ebenfalls jenes mörderische Ticken mit Worten hörbar, das schließlich als emotionaler ‚Eissturm‘ durch die Seelen dieser Menschen tobt und gestern noch für intakt gehaltene Konstellationen zum Einsturz bringt. Seine Chronik eines Novembertages des Jahres 1973 wird zur Parabel eines Lebens, dessen Sinn in relativem Wohlstand, frustrierten Liebesbeziehungen und einer tödlichen Langeweile auf der Strecke geblieben ist. ‚Der Eissturm‘ – ein literarisches Unwetter der Extraklasse.

Endgültig weitergedreht hat sich die Spirale des Wahnsinns in A.M. Wellmans beißender Mediengroteske ‚So fucking what‘, in welcher vier Jugendliche als Geiseln genommen werden, als sie eines Abends in einem 24-Stunden-Supermarkt Bier holen gehen. Die Kidnapper filmen ihre Opfer mit Videokameras, um die Bilder – gemeinsam mit ihren absurden Forderungen – anschließend TV-Stationen zuzuspielen. Via Mattscheibe wird das Schicksal einer Handvoll Jugendlicher als zynischer Bilderkrieg und Vorabendthriller in die Köpfe eines ganzen Volkes versenkt:

War-Games, die aus angstgeschüttelten Kidnapping-Opfern simulierte TV-Stars machen. Als postmoderner Nachklapp auf ein durchparfümiertes, außer Rand und Band geratenes Leben zieht Wellman mit gerade mal 25 bereits sämtliche Register einer am Ende aller Hoffnungen angekommenen Sprache. Wie mörderische Brandbomben schleudert der in Orlando lebende Baseballfan seine Sätze in die Hirne der Leser: Brandstiftung im Land der Biedermänner – So fucking what!

Da liest sich der autobiographische Depressions-Seelenstriptease ‚Verdammte schöne Welt‘ der US-Hitlistenstürmerin Elisabeth Wurtzel, 27, nurmehr wie die wandelnde Beipackzettel-Biographie eines durch sämtliche Vollwaschgänge medikamentöser Wahnentsorgung gejagten Zeitgeistopfers. Als literarischer Elektroschock arrangiert, eröffnet das Buch der in den USA voll durchgestarteten weiblichen Cruise-Missile beklemmend exhibitionistische Einsichten in die Seelenzellen und Allibert-Schränke einer ganzen Generation. Die völlig verwackelte Frontalansicht einer sich mit dem beliebten Emotionsweichspüler ‚Prozac‘ zu Tode beglückenden Jugend: quälend langsam zerdehnter Sinntod auf Krankenschein – das Wartezimmer-Leben, ein wunderbarer Waschsalon.

Ganz und gar fesselnd und betörend dagegen die stillen, mit dem mörderischen Pastell der

lautlosen Verzweiflung colonerten Short Stories der 39jährigen, in Boulder/Colorado lebenden Beth Nugent.

Ihr soeben erschienener, erwähnenswerter Band ‚Stadt voller Jungs‘ demonstriert in einer eisesklaren, die Menschen und ihre Gefühle wie unter Glas sezierenden Sprache, wohin den einzelnen das Dasein im täglichen Mit- und Gegeneinander gespült hat: in eine umfassend gewordene Resignation. Dabei fluten Nugents beeindruckende Bilder wie Hoppersche Gemälde über die Seiten: wunderbar leuchtend und dabei wie eingefroren von Lethargie.

Und doch schmuggelt diese großartige Erzählerin immer wieder kleine, scheinbar unzerstörbare Hoffnungsreste durch ihre Geschichten. Es sind Geschichten von Menschen, die ihr kleines Vorstadtleben an endlosen Abenden bei Gin und schlechter Beleuchtung verdämmern oder hinter rauchbraunen Vorhängen auf ein Leben starren, das längst ohne sie stattfindet; Existenzen, die ihre kleinen Rebellionen mit stiller, mörderischer Konsequenz zelebrieren. Literatur aus den Kältekammern der Seele, verdichtet zu zehn Meisterwerken auf dem Gebiet der aktuellen amerikanischen Kurzgeschichte.

Aus der Tiefe und den Sümpfen des Südens kommen die direkten und oft ruppigen Geschichten des gerade mal 30jährigen Pickney Benedict. Seine beiden bei uns erhältlichen Story-Sammlungen ‚Im Sumpf und ‚Starkstrom‘ lesen sich wie poetische Land- und Seelenvermessungen der Hölle und ihrer Bewohner.

Auch hier ist es das fein zitternde Beben unter der stumpfen, gleichförmigen Alltagsoberfläche der Menschen, dessen lauernde Katastrophe Benedicts starke, uneingeschränkt lesenswerte Stories seismographisch sichtbar machen. Der Autor erzählt von Menschen, die unausgesetzt weitermachen mit ihrem Wahnsinnsleben und nicht die Kraft finden, den täglich erfahrenen Hieben der Zerstörung und der Verletzung zu widerstehen.

Ganz anders in seiner bilderflirrenden Tönung, geradezu verheißungsvoll: das Debüt des erst 26jährigen W. Glasgow Phillips. Sein kleiner Roman ‚Südlich von Alabama‘ liefert das poetische Erinnerungsbild des 22jährigen Billy Mitchel, der – aller Perspektivlosigkeit des Erwachsenwerdens zum Trotz – mit immer neuen Fantasien anrennt gegen die Bedrohung eines Lebens, das aus der Spur zu geraten droht.

Auch hier also verheißt der amerikanische Traum wenig Gutes, läuft statt dessen ständig Gefahr, ins Gegenteil umzukippen. Als letzten, nur noch matt schimmernden Farbtupfer in einer ergrauten, sinngeplünderten, zum klimatisierten Alptraum mutierten Welt beschwört Phillips eine inzwischen wieder einleuchtende Utopie – die Liebe.