Warum Phil Collins Euren blanken Hass nicht verdient hat
Zeit für ein Plädoyer auf den Typen, den nicht Wenige für den Antichristen der Popmusik halten.
Spricht man seinen Namen aus, schlägt einem nicht selten blanker, in seiner rohen, emotionalen Form oftmals lächerlicher Hass entgegen: Phil Collins ist für viele Popkultur-Checker (oder die, die sich selbst in dieser Rolle gefallen) längst zur Verkörperung der dunklen Seite der massenkompatiblen Musik – und im Besonderen der pastelligen, schulterpolsterigen, drumcomputerigen 80er-Jahre und ihrer stetig selbst referierenden Retro-Schleife – geworden. Nicht wenige zitieren kurz darauf das Plädoyer des soziopathischen „American Psycho“-Yuppies Patrick Bateman auf den kommerziellen Phil Collins und wenden sich anschließend angeekelt von einem ab. Wer es nicht kennt oder sich nicht erinnert, hier Patrick Batemans Plädoyer aus „American Psycho“:
„Do you like Phil Collins? I’ve been a big Genesis fan ever since the release of their 1980 album, DUKE. Before that, I really didn’t understand any of their work. Too artsy, too intellectual. It was on DUKE where, uh, Phil Collins‘ presence became more apparent. I think INVISIBLE TOUCH is the group’s undisputed masterpiece. It’s an epic meditation on intangibility. At the same time, it deepens and enriches the meaning of the preceding three albums. […] Take the lyrics to „Land of Confusion“. In this song, Phil Collins addresses the problems of abusive political authority. „In Too Deep“ is the most moving pop song of the 1980s, about monogamy and commitment. The song is extremely uplifting. Their lyrics are as positive, affirmative, uh, as anything I’ve heard in rock. […] Phil Collins‘ solo career seems to be more commercial and therefore more satisfying, in a narrower way. Especially songs like „In the Air Tonight“ and, uh, „Against All Odds“.
Nun kann man solchen wandelnden Ausrufezeichen-Hatern natürlich schlicht antworten, dass einem Mann, der mit über 250 Millionen verkauften Tonträgern ein Privatvermögen von geschätzt 260 Millionen US-Dollar angehäuft hat, ihre Abneigung mit großer Wahrscheinlichkeit einen feuchten Kehricht ausmacht. Doch die Menschen kaufen andererseits ja auch allerhand Müll in Massen (Andrea Berg, Imagine Dragons, Energy-Drinks) – also sollte man sich doch etwas differenzierter argumentativ artikulieren. Und vor alledem herausstellen: Ich bin ein Fan von Phil Collins.
Hoffentlich können die Phil-Collins-Verächter unter Euch ihren ersten Schock weghyperventilieren und sich nun dennoch auf die folgenden Ausführungen einlassen.
Phil Collins sieht aus wie ein Geographielehrer – na und? Herbert Grönemeyer doch auch
Widmen wir uns also an dieser Stelle direkt dem schwachsinnigsten aller Argumente, die gegen Phil Collins sprechen sollen: sein Aussehen.
Never judge a book by its cover, sagen die Angelsachsen zurecht, denn wie hirnrissig ist es schon, die Fähigkeiten eines Menschen nach dessen Aussehen bewerten zu wollen?
Ja, Phil Collins verlor recht früh sein Haupthaar und begann sich vordergründig gemütlich zu kleiden. Vielmehr sollte man doch gerade herausstellen, dass Collins mit – oder, wer es so sehen möchte: trotz – seines Maulwurf-mit-randloser-Brille-Erscheinens in den so oft als hyper-oberflächlich verteufelten 80er-Jahren Welterfolg feierte – seinen Blue-Eyed-Soul-Gesang schränkten nämlich weder Glatze noch Tweed-Jackets ein.
Obendrein hatte Phil Collins seinen modischen Beitrag zur Popgeschichte bereits in den 70ern hinterlassen, indem er die 2010er-Vollbart-Werbekäppi-Hipster vorwegnahm. Nach dieser prophetischen Leistung kann man sich dann auch mal vier Jahrzehnte orthopädische Schuhe und Piqué-Poloshirts gönnen.
Phil Collins ist ein musikalischer Nerd – ob Ihr es einsehen wollt oder nicht
Wo wir Collins‘ Gesang schon erwähnt haben: Auch der wird von Einigen bemängelt. Zu nasal, zu weich, heißt es da. Dabei ist es genau dieses Timbre, das Collins auszeichnet und über Jahrzehnte hörbar machen lässt. Herbert Grönemeyer wirft man doch auch nicht seine vokalen Presswehen vor, man nimmt sie als Eigenart an.
Diese Kritik könnte man sogar durchgehen lassen – wäre sie nicht grundlegend falsch. Man höre sich beispielsweise an, wie Collins sich in „In The Air Tonight“ in die Höhen hochkatapultiert, dabei den Staub aufwirbelt und plötzlich gar nicht mehr nach Formatradio, sondern eher nach dem Wahnsinnigen aus Genesis‘ „Mama“ klingt.
Im krassen Gegensatz steht dann ebenso der britische Motown-Liebhaber, der sich in seinem Supremes-Cover „You Can’t Hurry Love“ ebenso wie in „Two Hearts“ schwofend an seiner Abwandlung des Northern Soul versucht, wie auch der Falsetto-Gegenspieler, der zusammen mit Phil Bailey der Welt das bis heute unerreichte Groove-Monster „Easy Lover“ geschenkt hat.
Denn Collins war Zeit seiner Karriere mehr als nur der Kerl, der als der Drummer der Peter-Gabriel-geführten Genesis ins Scheinwerferlicht vorrückte und ein Dutzend der zeitlosesten Popsongs zu verantworten hat: Phil Collins war eben auch ein Vollblutmusiker, der sich ebenso im Jazzrock wie frühen R’n’B als auch im HipHop auskannte. Sein Fehler, wenn man es so nennen mag, war einzig, dass er seine Einflüsse und Verweise zu unauffällig in seiner eigenen Musik versteckte – oder sie sich durch seinen Erfolg gleich selbst zu eigen machte. Wer denkt bei „You Can’t Hurry Love“ heutzutage schon noch direkt an The Supremes?
Phil Collins mag stellvertretend für den Zeitgeist der 80er-Jahre stehen, für die Zeiten, in der ein Popmusiker schon einmal mit einem Überschallflugzeug über den Atlantik fliegen konnte, um zwei Medleys in zwei verschiedenen Kontinenten am selben Tag spielen zu können. Eine solche Aktion würde ihm heute schon allein wegen des hinterlassenen CO2-Abdrucks um die Ohren fliegen. Damals, in den Mitt-Achtzigern, wurde sie vom vorherrschenden Hedonismus gutgeheißen. Was in solchen Schattendiskussionen jedoch vergessen wird: Collins hat sich in der Zeit seiner großen Erfolge in kein gemachtes Bett gelegt.
Im Gegenteil: Bereits in den 70er-Jahren beginnt der begabte Schlagzeuger mit Drum-Computern zu experimentieren, bald sollten sie ihm die meiste der kräftezehrenden Arbeit hinter der Bassdrum abnehmen und ihm mehr Zeit geben, sich der Mischpulttechnik zu widmen. Der donnerhallende Sound des „In The Air Tonight“-Drumfills wäre niemals möglich gewesen, hätte der Perfektionist Collins nicht nach der endgültigen Ausrichtung von Mikrofonen und Resonanzkörpern gestrebt – und Produzent Hugh Padgham zur richtigen Zeit den eigentlich falschen Knopf auf dem mit Post-Its zugeklebten Mischpult gedrückt.
Phil Collins‘ Texte sind „flach und nichtssagend“
„In The Air Tonight“ ist sicherlich Collins‘ Meisterwerk. Dabei fragen sich Fans und Kritiker bis heute, was der tiefere Sinn hinter dem Text-Kauderwelsch sein soll. Es gibt Theorien, nach denen Collins eine Apokalypse voraussagt, andere, die behaupten, er fantasiere vom Ermorden eines Menschen, wiederum andere, die darin die verbitterte letzte Nachricht an eine Verflossene heraushören wollen. Phil Collins hat sie alle dementiert. Die wahrscheinlichste aller „Wahrheiten“ ist nämlich schlichtweg: Phil Collins hat in einer freien Viertelstunde einfach eine Reihe von atmosphärisch zueinander passenden, gut klingenden Zeilen auf ein Tapetenstück gekritzelt und es den Menschen da draußen überlassen, sich den Kopf nach dem tieferen Sinn hinter seinem Geschreibsel zu zerbrechen. Man mag das einerseits als Bestätigung dessen sehen, dass Collins als Songwriter nichts von Essenz auszusagen hat. Andererseits beschäftigt „In The Air Tonight“ seit vier Jahrzehnten Literaturwissenschaftler und über 4,5 Millionen Menschen, die diesen Tonträger zuhause in der Schrankwand stehen haben.
Ein anderer Song, der herangezogen wird, um Collins als Songwriter zu diskreditieren, ist „Against All Odds (Take A Look At Me Now)“. Oberflächlich gesehen, eine schmalzige Schnulze, Phil Collins hat durch sein Arrangement nicht wenig zu diesem Eindruck beigetragen. Genau betrachtet ist „Against All Odds“ jedoch die Selbstkasteiung eines unsicheren, gebrochenen Mannes. Dieser Song ist nicht weniger als Collins‘ Eingeständnis, dass er kein women’s man ist. Vielmehr ist es quasi ausgeschlossen, dass die Besungene so geistig umnachtet sein wird, jemals zu ihm Blödmann zurückzukehren.
Durch seine ungeschminkte Selbstabrechnung sollte „Against All Odds“ eher in einer Reihe mit Kanye Wests musikalischen Canossagang „Runaway“ stehen, denn mit wahren 80er-Pomp-Schnulzen wie Whitney Houstons „I Will Always Love You“ (toller Song, aber das ist ein anderes Thema).
„Wenn meine Sachen totgespielt werden, ist das einerseits nicht mein Fehler“, sagte Phil Collins 2015 in einem Interview mit dem „Spiegel“ und lag damit natürlich vollkommen richtig: Denn wer will und kann schon selbst seinen eigenen Erfolg einschränken? Andererseits zeigte er sich an selber Stelle erstaunlich selbstreflektiert und versöhnlich, als er anfügte: „Andererseits kann ich gut verstehen, dass Leute von mir angekotzt sind. Und ich möchte mich dafür wirklich entschuldigen. Es war nicht böse gemeint.“
Nein, Phil Collins wollte Euch und der Welt nie etwas Schlechtes oder Böses antun. Also nehmt seine Entschuldigung an, solange Ihr noch könnt – und gebt endlich zu, dass Ihr auch schon mit Gänsehaut im Nacken die Air Drums zu „In The Air Tonight“ gespielt habt.
Dieser Text wurde ursprünglich am 4. Juni 2019 auf musikexpress.de veröffentlicht.