Warum man den Vergleich von Festivals und Flüchtlingscamps wagen muss
Flüchtlingscamps und Rockfestivals: Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind offensichtlich – aber nur über eines von beiden trauen wir uns reden. Warum eigentlich?
Es ist ja nicht so, dass der Gedanke allzu abwegig wäre. Er wird nur gern beiseite geschoben. Aber fast jeder Mensch, der jemals ein Open-Air-Festival besucht hat, wird insgeheim schon einmal darüber nachgedacht haben…
Wenn einem der dritte Joint die Augen öffnet, wenn mal wieder ein DIXI-Klo umgekippt ist, wenn der Staub in kleinen Wirbelwinden zwischen den Zelten steht, wenn der Regen diesen Staub in knietiefen Matsch verwandelt, wenn der Helikopter über dem Gelände steht und hinter Zäunen das Rote Kreuz Transfusionen legt, dann wird manchen Festivalbesucher der geheime Gedanke beschlichen haben: Verdammt, hier sieht’s aus wie in einem Flüchtlingslager! Die Folgen der Gewitterstürme, die dazu geführt haben, dass viele Besucher der großen Festivals Rock am Ring und Southside im vergangenen Sommer sich selbst für einige Stunden ziemlich bedroht fühlen durften und diese Veranstaltungen schließlich ganz abgebrochen werden mussten, verstärkten diesen Eindruck noch.
Interessanterweise ist das ein Gedanke, der sich scheinbar von selbst verbietet, und der Abwehrreflex ist rechtschaffen. Was bitteschön haben denn Zeltlager auf Open-Air-Konzerten mit Zeltreihen in Flüchtlingslagern zu tun? Mehr vielleicht, als man denkt. Spätestens seit der jüngsten Flüchtlingskrise liegt der Vergleich so nahe, dass man ihn bemühen muss.
Ausnahmesituation bleibt Ausnahmesituation, und die mögliche Katastrophe lauert gleich um die Ecke
Zunächst ist ein Zeltlager ein Zeltlager. Ganz gleich ob es in Idomeni oder Wacken, Glastonbury oder Calais, auf einem ehemaligen Militärflugplatz in der Osteifel oder auf Lesbos in der Ägäis errichtet worden ist. Beides sind vorübergehende Endpunkte von Fluchten. In die einen Lager fliehen Menschen unfreiwillig vor Unsicherheit, in die anderen fliehen sie freiwillig vor der allzu langweiligen Sicherheit im Alltag. Strukturell handelt es sich aber in beiden Fällen um Lager.
In beiden Lagern – sowohl an der Peripherie als auch im Zentrum der westlichen Welt – finden sich zu viele Menschen auf zu engem Raum, zudem unter prekären hygienischen Bedingungen. Daher die Aggressivität der Verzweifelten in den Flüchtlingslagern. Daher aber auch das gebetsmühlenartige Beschwören von „Friedlichkeit“ und „Vernunft“ bei den Durchsagen auf einem Open Air. Ausnahmesituation bleibt Ausnahmesituation, und die mögliche Katastrophe lauert gleich um die Ecke – sei es Feuer an brennbarem Material, sei es das Gedränge auf Hauptwegen und Sammelpunkten oder eben auch Blitzschlag und Sturm.
Dabei strahlt die Lage der Unfreiwilligen immer spürbarer auf das Amüsement der Freiwilligen ab – nicht zufällig 2016 auch auf dem größten europäischen Festival. Damon Albarn trat zur Eröffnung des Glastonbury mit dem Syria Youth Orchestra auf. Ihm folgte Rokia Traoré, eine Sängerin aus Mali. Sie betrat die Bühne in einem Kleid, das aus dem Stoff eines ausrangierten Flüchtlingszelts geschneidert war, von der Künstlerin Helen Storey, die ihre Mode als soziale Plastiken begreift. „Wir befinden uns in einer aus dem Boden gestampften Zeltstadt“, stellte Traoré fest. „Und ich trage ein Kleid aus dem Stoff eines UNHCR-Zelts, das einer syrischen Familie monatelang Schutz bot.“ Für diese symbolische Handlung, so Traoré, gebe es keinen passenderen Ort als Glastonbury. Die Beteiligten trugen als Zeichen der Solidarität mit den Flüchtlingen schwarze Armbinden und ermunterten das Publikum, es ihnen gleichzutun.
So weit, so symbolisch. Aber die Verbindungen zwischen Lager und Lager gingen 2016 über gut gemeinte Rituale hinaus. Der Gedanke kam Liz Clegg, einer der Organisatorinnen von Glastonbury, beim Anblick dessen, was die rund 180.000 Zuschauer nach ihrer Abreise an Müllbergen hinterlassen hatten: Verdammt, das sind viele Gummistiefel!, habe sie gedacht und dann zwei und zwei zusammengezählt. Am Ende zählten Clegg und die anderen Freiwilligen mehr als 500 Gummistiefel, 2000 Regenponchos, viele Erste-Hilfe-Sets und zurückgelassene Zelte – und fuhren sie in den berüchtigten und Ende Oktober geräumten „Dschungel“ bei Calais.
Und es blieb nicht beim Verteilen: Viele der ehrenamtlichen Festivalhelfer setzten ihr Know-how im französischen Flüchtlingslager gleich wieder ein. Zahlreiche Hilfsorganisationen nicht nur in England bemühen sich inzwischen, die problematischen Hinterlassenschaften einer Wegwerf- und Überflussgesellschaft den Bedürftigen zuzuführen. Es ist ja nicht so, dass der Gedanke allzu abwegig wäre.