Kolumne

Warum jetzt alle ein sexy Young-Girl sein wollen


Julia Friese erklärt, warum selbst die Hamburger Schule „that life“ gelebt haben will.

Drei Beobachtungen:

1. „narrativ“ sagt man nicht mehr, man sagt jetzt „lore“ und meint fast das gleiche

Lange befanden wir uns im Zeitalter des „Narrativs“. Im Pop ist der Begriff nun – pun intended – Geschichte. Es liegt an Taylor Swift. Literally. An ihrem Namen: Tay-lor. Fügt man dem ein „e“ hinzu hat man: Tay-lore. Auf Deutsch also etwa: Taylor-Saga. Swifts Mega-Erfolg basiert bekanntermaßen auf ihrer „lore“, den etlichen Referenzen auf ihr Privatleben, den Geschichten, die sie umgeben. Laura Snapes schreibt im „Guardian“, dass ein Grund, warum Dua Lipas RADICAL OPTIMISM (2024) unterging, sei, dass sie absolut keine „lore“ habe. Sie ist eine Figur ohne Geschichte, Handlung, Narrativ, Gossip! Ihre Lyrics gehen ohne selbstreferenzielle Widerhaken in der schnell durchpulsten TikTok-Welt zu Grunde.

Taylor Swift: Verrät sie auf ihrer LP den Namen von Ryan Reynolds' & Blake Livelys Baby?

2. your favourite reference, baby

Charli XCXs BRAT (2024) hingegen ist die Vertonung von Tiqquns „Theory of the Young-Girl“ (Semiotexte, 2012). Das französische Autor:innen-Kollektiv sezierte schon 1999 das „Junge-Mädchen“ als Prototyp der ultimativen Warenform. Das, was wir meinen, wenn wir Popstar sagen. Die feste Form, der ein Popstar lebenslang zu entsprechen hat. Charli XCX bounct auf BRAT (deutsch: Göre) zwischen Rollenprosa als Young-Girl-Warenform und ihrem wahren Selbst hin und her. Sie singt, dass sie zu ihren eigenen Songs tanzen will („Club Classics“), denn sie ist die Nummer 1. Die Referenz, auf die alle sich beziehen („Von Dutch“). In „Girl, So Confusing“ weiß sie dann aber nicht, ob ein anderes Girl sie mag. Zwei Zeilen weiter muss dieses Girl dann aber doch obsessed mit ihr sein. Ja, sie sein wollen! Denn schließlich ist sie doch nicht genuin Charli, sondern das Young-Girl. Der Prototyp!

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Gemeinsam mit It-Girl Addison Rae kreischt sie im Remix von „Von Dutch“, dass sie eben „that life“ lebe, das alle wollen. In der Ballade „I Might Say Something Stupid“ sitzt Charli dann aber von Selbstzweifeln geplagt auf einer Party, fühlt sich nicht berühmt genug, einfach „perfect for the background“, weil sie mit einem Fuß doch in einem ganz „normalen Leben“ stecke. Interessant ist, dass sie diesen Blick hinter die Young-Girl-Persona mit einer Auto-Tune verzerrten Stimme singt, als wären ihr wahres Selbst auch schon künstlich, ja automatisiert – ganz wie die angenommene Young-Girl-Rolle.

Überschattet von Queerfeindlichkeit: Gemeinsame Single von Charli XCX und Sam Smith

3. hamburg high school

„That life“ ist begehrlich, muss begehrlich bleiben. Deswegen darf es natürlich nicht jede:r haben. Das Magazin „Vulture“ nennt 2024, „das Jahr der musikalischen Fehden“. Billie Eilish stichelt mehrmals gegen Taylor Swift, die hindert Eilish mit nur 24 Stunden lang verfügbaren Album-Varianten an einem Billboard-Platz 1.

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

In „Girl, So Confusing“ arbeitet Charli XCX sich an Lorde ab, in „Sympathy Is A Knife“ wiederum an Swift, die sie nicht backstage bei ihrem Verlobten, dem Drummer von The 1975, sehen will und hofft, dass sie sich schnell trenne von Matty Healy, Sänger von The 1975. (Swift hat ihr diesen Wunsch bekannterweise schnell erfüllt.) Dass das Young-Girl-Produkt nicht auf ein Gender festgelegt ist, versteht sich von selbst. Auch faktisch ­Ältere, die als Boys leben, müssen sich den Young-Girl-Marktregeln beugen, wollen sie denn in den Augen der anderen „that life“ leben.

Die Hamburger Schule: Das Wow in der Hansestadt

Oder eben gelebt haben. So stritt sich die Hamburger Schule im Juni auf Facebook (hihi!) über die korrekte eigene Historisierung. Christian Ihle hat die ganze Lore im „taz“-Popblog unter „HamburgerSchuleGate“ zusammengefasst. Im Grunde reicht es aber zu wissen, dass es, hier wie da, immer nur darum geht, gegangen ist, und auch künftig nur darum gehen wird: Habe ich „that life“ gelebt? Sind andere neidisch, hassen sie mich, wollen sie Ich sein? Bin ich so iconic, als dass ich auf einer Party nicht zum Background verkomme? Ich will mich für eure Liebe nicht mehr anstrengen müssen. Ich will ein sexy Young-Girl sein! FOREVER. AND EVEREVER. Buy me. Love me. I’m dead inside.

Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 08/2024.