Warum Heidi Montags Album nach 15 Jahren auf Platz 1 schießt
Julia Friese erklärt, welche Auswirkungen die Brände in Kalifornien auf die Popkultur haben.
Drei Beobachtungen:

1. HIStory
Trump möchte Grönland annektieren. Elon Musk empfiehlt die Wahl der AfD. Trump möchte die USA mit Kanada fusionieren. Auf dem AfD-Parteitag gestikuliert dessen Parteivorsitzende in „neuer“ Aggressivität, sagt, schreit, ihre Partei werde alle Windkrafträder niederreißen. Währenddessen brennt Kalifornien. Die bekannten Malibu-Beach-Häuser sind Schutt, Pacific Palisades ist brandgerodet. Friedrich Merz findet, Sträflinge mit doppelter Staatsbürgerschaft sollen mit dem Entzug des deutschen Passes rechnen müssen. Der amerikanische Reality-Star der ersten Stunde, Spencer Pratt („The Hills“), zeigt auf, was von seinem Haus übrig geblieben ist: ein großer Kochtopf, eine umsandete Kinderschaukel und ein Teil eines Kolibri-Futterspenders. Er weint. Er unterlegt seine TikToks mit dem 2010er Trash-Pop seiner Frau Heidi Montag. „Look How I’m Doing“ – also etwa: „Schau, wie gut es mir geht“ – singt diese also so stolz wie Auto-Tune-verzerrt über dem eigenen Schutt.
Wenige Scrolls weiter tanzt ein junger Mensch in dem Wind, der das kalifornische Feuer hinter ihm unablässig anfacht, zum „Earth Song“, den Michael Jackson einst vor Windmaschinen sang: „We’ve turned kingdoms to dust. What about us?“ Unsere Gegenwart scheint später nun tatsächlich Geschichte zu werden. Zeit also, sich in dieser Kolumne die popkulturelle Gegenwart genau anzugucken. Was passiert? Und wie und warum hängt das alles zusammen?
Ich liebe den Unernst unserer Generation, kommentiert ein TikTok-User. Das Cover von Jacksons HISTORY zeigt diesen als feuerfeste Marmor-Skulptur, die Wolken hinter ihm sind rot. Spencer Pratt sagt, alle sollten Heidis Musik streamen, damit sie ihr Haus wieder aufbauen können. „Fiebertraum“ ist der Ein-Wort-Kommentar der Stunde. Aber „Fiebertraum“ ist mehr als das, es ist ein Lebensgefühl. Heidi Montags Album SUPERFICIAL (2010) geht in der zweiten Januar 2025 Woche auf Platz 1 der amerikanischen iTunes-Charts.
2. ah-aaaaaaaah, ahah-aaaaaaa-ah, what have we done to the world?
2024 belebte der belgische Historiker Anton Jäger den 1993 von Peter Sloterdijk geprägten Begriff „Hyperpolitik“ neu. In dem gleichnamigen Essay (Suhrkamp / 2024) beschreibt er die Gegenwart als Phase politischer Erhitzung, bei zu geringer institutioneller Organisation. Die Masse sei politisiert, aber weder tiefgehend informiert noch stabil gebunden, verlasse sich also nicht auf ein „langsames Bohren“ von „harten Brettern nach Augenmaß“ (Max Weber), sondern es werde im Internet innerhalb kürzester Zeit Wut mobilisiert, um kurzfristig auf der Straße zusammenzufinden, ehe alle Energie wieder in ihre Einzelteile zerfalle.
Mark Zuckerberg kündigte an, das Faktenchecken für seine Meta-Plattformen einzustellen. Man fachsimpelt: Sich dann eben bei Bluesky anzumelden oder doch Mastodon? In den USA soll TikTok verboten werden. Kurzfristig steht die chinesische TikTok-Version „Red Note“ an der Spitze der Download Charts. Wird in Zukunft jede Blase ihr eigenes soziales Netzwerk haben? Werden wir dann von Hyperfragmentierung sprechen? Hyper ist altgriechisch für „über“ oder „drüber“. 1994 sangen, schrien Scooter in „Hyper, Hyper“: „I want to see you sweat! I said: I want to see you sweat!“
3. drüber
Die Lösungen, die Jäger anbietet und die er sich gleichzeitig selbst nicht glaubt, sind: in Parteien und Gewerkschaften eintreten. Rausgehen! Ich selbst möchte an dieser Stelle so drüber sein, und tatsächlich versuchen, Sie über eine Print-Kolumne zu mobilisieren: Vergessen Sie „Community“ – machen Sie 2025 zum Jahr echter Gemeinschaft! Suchen Sie sich keine neue Social-Media-Plattform, sondern löschen Sie den Scheiß einfach. Oder schreiben Sie etwa eine Kolumne über die Gegenwart, sodass Sie sich dort rumtreiben müssen? Ich glaube nicht! Verstoßen Sie „problematische“ Menschen nicht. Es gibt kein unproblematisches Leben in problematischen Strukturen. Sie wollen jemanden out-callen?
Eventuell können Sie ihn einfachen anrufen? Sie sind nicht besser. Ihre Verfehlungen liegen nur woanders. Sind Sie wütend? Versuchen Sie nach Möglichkeit, keine weiteren Kleinstparteien zu gründen. Unterstützen Sie eine der etablierten, demokratischen Parteien. Kein Parteiprogramm muss zu 100 Prozent Ihren Überzeugen entsprechen. Diskutieren Sie nicht, um recht zu haben, sondern um zu lernen. Haben Sie ein Hobby – draußen, mit anderen? Ehrenamt? Nachbarn? Überbrücken Sie unüberbrückbare Differenzen. Und vergessen Sie den Spaß nicht! Reißen Sie diese Kolumne aus dem Heft, legen Sie sie in eine Feuerschale und zünden Sie sie an. Schon ein kleiner Fön kann eine Windmaschine sein. Tanzen Sie zum „Earth Song“. Und widerstehen Sie in jedem Fall dem Drang, ein Video davon aufnehmen zu wollen …
Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 3/2025.