Ulrich Seidl im Interview: „Es ist eigenartig, dass sich Leute durch das Töten näherkommen“
Ulrich Seidl ist einer der aufregendsten Regisseure Europas. Gerade weil seine Filme anstrengend sind, manchmal wütend machen. Und trotzdem immer zum Lachen bringen. Aktuell begleitet er Jäger auf Safari in Afrika.
Und mal wieder kommt man wütend und voller Welthass aus dem Kino. Ulrich Seidl hat Jäger aus Österreich bei ihrem Jagdurlaub begleitet. Filmt das Töten und Schlachten von Zebras und Giraffen, dazu die Rechtfertigungsversuche der Jäger. Es sei gar kein Töten, behauptet eine schwer bewaffnete Dame, eher ein Erlegen. Seit Donnerstag ist die schmerzhafte „Safari“ in den Kinos zu sehen.
Der Österreicher Seidl hält einfach mit der Kamera drauf, inszeniert seine Protagonisten immer ein wenig. Filmt das echte Leben, gibt aber ein paar Anweisungen. Das brachte ihm zuletzt Kritik ein. Andererseits gibt es nicht nur im deutschsprachigen Raum eine große Anhängerschaft des Regisseurs. Nachdem er mit seiner „Paradies“-Trilogie auf den wichtigsten Filmfestivals Europas vertreten war, konzentriert er sich auf aktuell auf Dokumentationen. „Im Keller“ zeigt uns einen Nazi-Kult, SM-Spielchen und eine Frau, die mit den zahlreichen Kinderpuppen in ihrem Keller spricht. Ein Skandal entstand dadurch, dass zwei der von Seidl gefilmten Hitler-Fans etwas später zu Gemeinderäten im Burgenland wurden.
Erstaunlich ist, dass Seidl immer wieder Protagonisten findet, die sich mutig vor seine Kamera stellen. Den Jägern aus „Safari“ dürfte klar gewesen sein, dass sie sich mit ihren Aussagen über Tier und Leben eher wenige Freunde machen würden. Zur Premiere kamen sie trotzdem, obwohl der Regisseur eindringliche Warnungen ausgesprochen hatte. Vielleicht vertrauen die vermeintlichen Außenseiter dem Regisseur, weil er sie eben nicht als solche sieht. Und zumindest versucht, für die vermeintlichen Freaks so viel Verständnis wie möglich aufzubringen.
me.Movies: „Safari“ kann wirklich wütend machen. Am schlimmsten ist vielleicht die Szene, in der sich das Jäger-Paar vor der sterbenden Giraffe küsst.
Ulrich Seidl: Ich wollte einen Film über den Zustand der Menschheit machen, wenn Sie so wollen. Und der Film steht auch symbolhaft dafür, wie der Mensch mit seiner Umwelt umgeht. Mit seiner Tierwelt, mit seinen Ressourcen. Die Protagonisten sind Beispiele dafür. Es gibt Leute, die haben diesen Jagdinstinkt und finden ihr Handeln richtig. Und das hinterfragt Safari. Ich mache ihn nicht, um mir eine Meinung einzuholen, die ich bereits vorher hatte. Das wäre mir zu banal.
Was Sie gerade gesagt haben, dieser Moment, indem sich beide um den Hals fallen. So etwas kannte ich vorher auch nicht, ich finde es äußerst eigenartig, dass man sich durch das Töten eines Tieres näher kommt. Das ist aber offensichtlich in der Menschheit angelegt.
Sind das denn Leute, die Ihrer Meinung nach wirklich die Gesellschaft repräsentieren?
Wer repräsentiert denn die Gesellschaft? Die Gesellschaft ist vielfältig. Niemand repräsentiert die. Aber auf der Welt gibt es Millionen Menschen die jagen.
Aber Jagd hat doch unterschiedliche Motive. Und ursprünglich war das – Sie können mich gern verbessern – Ernährung.
Ich weiß, was Sie meinen. Aber heute ist es eben ein Geschäft. Jäger würden heute auch noch behaupten, die Jagd dient der Ernährung. Wir brauchen es aber nicht mehr, wir essen Tiere, die wir züchten. Aber wenn man gegen Jagd ist, dann muss man auch gegen Massentierhaltung sein, die im großen Stil in unserer Gesellschaft stattfindet. Das ist ein ganz großes Verbrechen.
Die Bewegung dagegen ist ja schon da.
Am Rande gibt es Tierschützer, denen das bewusst ist. Deren Reaktion ist es dann, kein Fleisch zu essen. Es ist eine Frage der Würde: Wenn man einem Tier ein würdiges Leben ermöglicht, kann man es auch eines Tages schlachten.
Was denken Sie sich denn, wenn Sie so mit der Kamera vor der verendenden Giraffe stehen. Denken Sie nicht „Jetzt schieß endlich die scheiß zweite Kugel rein und erlöse das Tier!“?
Es geht nicht darum, was ich denke. Ich mache den Film, ich muss das aushalten. Ich bin kein Moralist, ich kann mich nicht hinstellen und sagen „Das geht nicht!“. Ich mache den Film, damit ich ihn an ein Publikum weitergeben kann, das sich dann emotional damit auseinandersetzen kann.
Aber fällt Ihnen so ein Dreh überhaupt noch schwer? Sie haben ja schon in viele vermeintliche Abgründe geblickt.
Natürlich ist es nicht leicht. Es ist eine Szene, die mich genauso bewegt wie später das Publikum. Ich bin ja der erste Zuschauer, das gilt für alle meine Filme. Ich habe in meinem Filmen mit vielen Menschen zu tun, die in Nöten sind. Die schrecklich einsam sind, die missbraucht sind. Da bin ich ja genauso betroffen und erschrocken. Ich bin aber auch kein Sozialarbeiter und kann nicht das Leben der Protagonisten ändern. Die Familie aus Safari war mittlerweile übrigens wieder in Afrika – jeder von ihnen hat eine Giraffe geschossen.
Sehen Sie auch Schönheit in Ihren Themen? Wenn Sie zum Beispiel für „Im Keller“ Leute bei SM-Spielchen oder dem Gespräch mit leblosen Puppen filmen? Ihre Filme wirken sehr zynisch, als würden Sie die Welt nicht wirklich mögen.
Dann würde ich keine Filme machen. Würde ich nur zynisch auf die Welt schauen, dann hätten meine Filme auch nicht den Erfolg, den sie haben. Als Zuschauer muss man sich selbst fragen, wie man etwas beurteilt, was man bei mir sieht. Es ist immer ein Spiegel für einen selbst. Wenn man sagt: „Das sind alles Verrückte oder Idioten“, dann muss man sich selber fragen, wo man steht – beim Kellerfilm zum Beispiel. Das sind ja eigene Abgründe, die jeder hat. Niemand ist frei von rassistischen oder sexuellen Abgründen. Und meine Filme sind nicht dazu da, irgendwelche Leute festzumachen. Diese Leute sind ein Teil unserer Gesellschaft.
Und trotzdem suchen Sie sich ganz bewusst immer die krassesten Außenseiter als Protagonisten.
Was sind Außenseiter? Beim Nazi aus „Im Keller“ waren wir über mehrere Monate. Und natürlich ist klar, dass ich nicht unterstütze, was der da tut. Aber es ist eben ambivalent. Der ist nicht nur Nazi, der ist auch noch was anderes. Das Schlimme ist, dass eben alle in seinem Ort wissen, dass er ein Nazi ist und er geduldet wird. Einer der Jäger aus „Safari“ ist im wahren Leben Rechtsanwalt. So viel zu der These, ich würde nur marginale Leute zeigen.
Haben Sie für jeden einzelnen Ihrer Protagonisten Verständnis?
Ich versuche es. Ich versuche zu ergründen, was die Leute dazu antreibt zu tun, was sie eben tun. Ich sehe in vielen meiner Protagonisten auch mich selbst zum Teil. Auch bei meinen Spielfilmen ist es so, wenn man Figuren kreiert.
Wenn sich ein Zuschauer „Im Keller“ anschaut und sich mit niemandem von den gezeigten Personen identifizieren kann, hat er dann was falsch gemacht?
Ich glaube schon.
Was denn?
Dann schaut man nicht auf sich selber. Man ist nicht frei von einer Sexualität, die man vielleicht für abgründig hält. Oder einem Gewaltpotenzial oder Rassismus.
Passiert es Ihnen oft, dass Zuschauer den Lebensentwurf Ihrer Protagonisten nicht gut finden und die Kritik daran dann auf Sie projizieren?
Dann ist das Denken von gewissen Zuschauern eben zu kurz. Die Leute, die bei „Im Keller“ mitgemacht haben, genauso wie die Jäger in „Safari“, sind sogar bei den Weltpremiere oder der Österreichpremiere dabei gewesen. Sie stehen dazu, was sie gemacht haben und was meine Filme über sie zeigen.
Es gibt Leute, die ihre Filme scharf kritisieren. Weil sie die drastischen Szenen völlig unkommentiert dokumentieren, auch wenn gerade Verwerfliches geschieht.
Seien Sie mir nicht böse, aber das ist ja ganz blöd. Ich finde es ist ganz falsch, wenn Dinge, weil sie nicht sein sollen, auch nicht gezeigt werden. Das passiert sozusagen im politisch Korrekten: Weil es nicht sein soll, dass Frauen vergewaltigt werden, darf man auch nicht zeigen, dass Frauen vergewaltigt werden. Und das ist ein völliger Trugschluss. Man muss es zeigen, damit Bewusstsein darüber besteht und Diskussion und Auseinandersetzung darüber entsteht.