U2: No Line On The Horizon
Wie erwartet sind U2 mit ihrem neuen Album NO LINE ON THE HORIZON auch in Deutschland auf Platz 1 in die Charts eingestiegen. Zurecht? ME-Leser Peter Wolfgang Dörrhöfer hat sich die Platte angehört, um herauszu- finden, ob U2 den Mut zum letzten Schritt zurück nach vorne haben.
U2 sind zurück in der Manege. Ein neues Album ist draußen. (Titel siehe Überschrift). 53 Minuten. 11 Stücke. Ein Grund zum freuen, oder gar zum feiern? Die alte Tante U2. Die Rolling Stones der Neuzeit. Irlands wichtigster Wirtschaftsfaktor (125 Millionen verkaufte Tonträger, 700 Millionen Euro Vermögen). Die Band von Leadsänger Bono (Paul David Hewson), dem Gitarristen The Edge (David Howell Evans), dem Bassisten Adam Clayton und dem Drummer Larry Mullen Jr. ist wieder da.Ein überlebender Dinosaurier aus den späten 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, als sie als optimistische Joy Division- Variante ihren Siegeszug in den Himmel des Pop begannen – um in den 80ern die Charts zu erobern. Jeder kennt die Platten, jeder kennt die Songs („With Or Without You“ / „Where The Streets Have No Name“ / „Pride“).In den 90ern waren sie unbestritten und zumindest kurzzeitig während ihrer Berlinphase die coolste Band des Planeten. Ihr ACHTUNG BABY von 1991 ist und bleibt ihr Magnus Epos und verband die Idee von elektronischer Musik mit der Direktheit von Rock’n’Roll. Sie waren der Zeitgeist. Die Postmoderne im Pop. Aus den Hansa-Studios, Berlin Kreuzberg, wehte die Hoffnung und die Coolheit der Nachrevolutionszeit. Einer Zeit, in der man dachte, dass (insbesondere auch musikalisch, zumindest für U2) alles möglich sein wird. Auch die Platten ZOOROPA (1993) und POP (1997) spielten mit den Metaphern von ACHTUNG BABY. Zum unverwechselbaren U2-Stil hat sicherlich auch das von Anton Corbijn designte optische Gesamtkonzept, einem expressionistischen 20er-Jahre-Look, der sich später mit aktuellen Rave-Stills verband, beigetragen.Die Live-Performance in dieser Zeit diente ihrer Positionierung als State of the Art der Musikszene. Dafür standen Bonos entweder (selbst)ironisch/zeitkritische (denn es zeichnete sich in den 90ern ab, je weiter man in Richtung des neuen Jahrtausends lebte, dass fast alle Hoffnungen und Träume von 1989 unausgelebt verglühten), manchmal fast zynische (Live- Telefonate auf der Bühne mit dem amerikanischen Präsidenten) und fast immer bewusst überhöhte, übertriebene (Selbst)- Inszenierungen als Mephisto, Mahner, Erlöser, und das alles in einer personifizierten Verkörperung des LasVegas-Elvis. Das war die Neunziger-Jahre-U2-Rockstar-Show.Also die 90er. Das goldene U2-Zeitalter. Der Höhe- und Wendepunkt. Sie verbrannten regelrecht auf der Höhe ihrer Möglichkeiten.Im neuen Millennium spukte das U2-Unternehmen überaus kommerziell erfolgreiche, aber eher mediokre Albenproduktionen in die Popwelt (ALL THAT YOU CAN’T LEAVE BEHIND 2000, HOW TO DISMANTLE AN ATOMIC BOMB 2004 und zwei (!) Best Of-, oder Greatest Hits-Sammlungen im Jahr 2002 und 2006). Bono war ja auch mit anderem beschäftigt, als sich um das Projekt U2 zu kümmern. Seine Ambitionen für den Weltfrieden sind hinreichend bekannt. Ebenso seine Versuche in Hollywood Fuß zu fassen (erwähnt sei das mit Kumpel Wim Wenders entstandene Werk „Million Dollar Hotel“, das zwar seine guten Momente hat, aber letztendlich nicht überzeugt). Vor der Weltfinanzkrise, im Herbst 2008, hörte man noch davon, dass in Dublin demnächst die Bauarbeiten für den U2-Tower, dem dann höchsten Gebäude Irlands beginnen sollten (Investor sollte die U2 Inc. sein). Bonos aus den 90ern bekannte bewusste Inszenierung wird immer mehr zur Pose, vielleicht zur Posse. Selbst der selbsternannte Gutmensch Bob Geldof argwöhnt bei Bonos Versuchen, durch ein Gespräch mit George Bush im White House einen Schuldenerlass für die Dritte Welt zu erreichen.Und jetzt: NO LINE ON THE HORIZON.Warum bin ich wie ein Teenager mit pochenden Herzen am Tag der Veröffentlichung, dem 27. Februar, zum Saturn-Multimedia- Shoppingcenter gegangen, um ganz antiquiert einen klassischen CD-Tonträger zu erwerben, Geld für Musik zu bezahlen, auf den Rückweg das Booklet mit den Texten zu lesen, die Bandpics und Artfiles zu goutieren, sich auf das Abspielen auf der heimischen Stereoanlage zu freuen… Ich höre jetzt seit vier Stunden die Platte. Mit jedem Mal wird sie cooler. Ob sie den Test der Zeit bestehen wird, kann ich nicht sagen, aber den Test des Augenblicks hat sie bestanden. Es lebt der Hang zu flankierender Soundspielerei an allen Ecken und Enden wieder auf. „Re-start and re-boot yourself, you’re free to go“, heißt es in „Unknown Caller“. Aber es ist keine Erneuerung bis zu den Fundamenten des U2-(Sound)-Gebäudes. Es wird keine Regierung gestürzt, keine neue Weltordnung ausgerufen, und leider zu viele Gefangene gemacht. Aber trotzdem: Man staunt über elektronische Zuckungen zu Beginn einiger Songs, oder über einen arabisch anmutenden Ethno-Touch vom Stück „Fez – Being Born“. Dann wieder ein typisches The Edge-Riff ™ – also ein klassischer U2-Moment. „Get On Your Boots“ klingt anfangs vernebelt, ähnlich wie es sich bei den Jungs um Josh Homme (Queens of the Stone Age) anfühlt, wenn sie selbsvergessen loslegen. Bei „Stand Up Comedy“ hört man einen zarten, wie in einigen Interviews versprochen, Led-Zeppelin- Einfluss heraus. Aufgenommen in drei Monaten in Fez, Marokko.Eine Revolution im Hause U2 wäre möglich gewesen. Aber der Teufel namens Statussicherung hat deren Vollendung wohl letztendlich verhindert. Seltsam. Eigentlich müssten Musiker vom Schlage U2 doch über den (kommerziellen) Dingen und Erwartungen stehen. Warum fehlte ihnen der Mut zum letzten Schritt zurück nach vorne?Trotz aller Kritik, die vor allem darin begründet ist, weil mehr möglich gewesen wäre. Trotz allem. Let’s go. U2 sind zurück in der Manege.
Peter Wolfgang Dörrhöfer – 16.03.2009