U2
Manhattan steht mal wieder kurz vor dem Verkehrsinfarkt. U2 jedoch wirken wie die Ruhe in Person. Völlig relaxt lauschen Bono, Adam Clayton und The Edge den Ausführungen des Galeristen und Kunstmäzens Tony Shafrazi. Thema des eigens für die Bono Brothers anberaumten Privatvortrags: die New Yorker Kunstszene. Jetzt, nach getaner Studioarbeit, haben die erfolgreichen Iren auch wieder für anderes Zeit als nur für ihre Musik. ‚Pop‘, die neue Platte, ist endlich im Kasten. Und so können U2 sich hier, im Herzen von New York, entspannt zurücklehnen. Jarvis Cocker, als Primus von Pulp ebenfalls eine Größe des Pop, im Vergleich zu Bono und dessen Bruderschaft aber eher ein kleines Licht, hilft ihnen dabei. Jarvis Cocker? „Yeah, unser neuer Sänger,“ grinst Adam Clayton. Ein kleiner Scherz – natürlich. In Wahrheit ist Cocker „nur zufällig da“ und putzt sich die Brille, während insbesondere Bono und The Edge an den Lippen von Tony Shafrazi hängen. Shafrazi hat sie alle gekannt: die Warhols und die Hockneys, die Lichtensteins und die Basquiats. Heute aber referiert der adrette Herr mit den silbergrauen Locken über „die Interaktion von Musik und Malerei“. Für U2-Drummer Larry Müllen ein Thema von eher mäßigem Interesse. Er verbringt seine Zeit lieber mit ein paar New Yorker Freunden. Auch Jarvis Cocker hat sich in einem unbeobachteten Moment verdrückt. Derweil signalisiert Bassist Adam Clayton, daß auch er „noch etwas vor“ habe. Bono und The Edge aber bleiben, können von der New Yorker Kunst kaum genug kriegen. Eigentlich herrscht in Shafrazis Galerie striktes Rauchverbot. Bloß nicht für Bono, Das Warten hat ein Ende. Am 3. März erscheint ‚Pop‘, die neue CD von U2. Darauf benutzen Bono und seine Blutsbrüder die Musik erneut als Mittel zur Metamorphose. Diesmal möchten sie am liebsten schwarze Musiker sein – mit einem Sound für Herz und Hintern.
dessen Aschenbecher die Kippen kaum noch aufnehmen kann. Würde er Zigarren rauchen, könnte man Bono so, wie er da sitzt (braune Cord-Jeans, schwarzer Strickpullover, Stoppelfrisur), glatt für die untersetzte Ausgabe von Bert Brecht halten. Als es dann aber um die neue Platte geht, wirkt der Megastar so bodenständig wie der nette Mensch von nebenan. So schüttelt er sich vor Lachen, als es um die diversen Titelvorschläge für die neue Platte geht, die Il2-Fans via Internet verbreitet hatten, bevor dem klingenden Kind mit ‚Pop‘ endlich ein Name gegeben wurde. ‚Even Better Than The Spiee Girls‘ beispielsweise, ‚Ideotheque‘ oder auch, in Anlehnung an ‚Achtung Baby‘, ‚Vollgeil Liebling‘. Am besten gefällt Bono ‚It Could Have Taken Even Longer‘ (‚Es hätte sogar noch länger dauern können‘). Logisch, denn rückblickend traf dieser Vorschlag ins Schwarze. Immerhin dauerte es von den ersten Aufnahmesessions in den Dubliner Windmill Lane Studios bis hin zum finalen Mix in New York ein gutes Jahr, bis ‚Pop‘ endlich auf Platte war. Eine langwierige Angelegenheit? „Nicht unbedingt“, meint Bono und kontert mit einer Erkenntnis seines Freundes Brian Eno: „Auch die japanischen Kalligraphen haben mitunter ein ganzes Jahr gebraucht, um ihre Tusche zu mischen. Für die Buchstaben aber, die sie dann mit dieser Tusche gezeichnet haben, benötigten sie nur ein paar Augenblicke.“ Und auf die neuen Songs bezogen: „Auch uns sind die Zeichnungen flott von der Hand gegangen. Aber es hat lange gedauert, bis alles vorbereitet war.“ Wohi wahr. Von Nebenprojekten wie den Passengers und ‚Mission: Impossible‘ mal abgesehen, stammt die letzte reguläre U2-Veröffentlichung (‚Zooropa‘) aus dem ]ahr 1993. Warum, ja warum nur mußten Millionen von Fans bis März ’97 warten, ehe das neue Album des irischen Vierers das Licht der Welt erblickte? „Im Rock’n’Roll gab es lange Zeit keine Überraschungen“, versucht Bono die lange Pause zwischen ‚Zooropa‘ und ‚Pop‘ zu erklären und blickt dabei zurück bis hinein in die seligen Sixties: „Einen Sound wie den von Jimi Hendrix hatte zuvor noch niemand gehört“, meint der U2-Sänger und hat dabei mit Blick auf die Entstehung von ‚Pop‘ eigene Ambitionen im Kopf:
„Wir haben versucht, ganz von vorn anzufangen, etwas Neues, etwas Frisches zu schaffen.“ Und tatsächlich: Wie schon ‚Achtung Baby‘ und ‚Zooropa‘ klingt auch U2S jüngste Platte erfreulich anders als das Gros der Popmusik. Klar, auch mit seinem aktuellen Album hat das Quartett aus Dublin den Rock’n’Roll nicht neuerfunden. Eine erfolgreiche Frischzellenkur jedoch haben Bono und seine Bande dem alten Genre mit Hilfe von Triphop-Anleihen, Drum-Loops und Jungle-Beats auf jeden Fall verpaßt. Keine Frage: Auch für ‚Pop‘ (siehe Besprechung auf Seite 53) benutzten U2 wieder beides: Kreativität und Köpfchen. Für ihren Mut, seit ‚Achtung Baby‘ immer wieder neue Wege zu gehen, werden die vier Iren von vielen, auch jüngeren Musikern bewundert. So zum Beispiel von Smashing Pumpkins-Kopf Billy Corgan: „Bands wie U2 besitzen für mich geradezu Modellcharakter. Trotz ihrer immensen Popularität scheuen sie sich nicht, ihre Musik immer wieder zu verändern.“ Wobei das eigentliche Phänomen von U2 weniger in ihrem Willen zur Wandlung wurzelt, sondern viel mehr in der Tatsache, daß Millionen von Fans die musikalischen Metamorphosen mitvollziehen. Ein Anpassungsprozeß, der nicht selbstverständlich ist. Immerhin haben U2, die einst so biedere Bruderschaft um den braven Bono, spätestens seit ihrem Album ‚Achtung Baby‘ (1991) ihren Fans einiges abverlangt. Nicht nur, daß die Musik der Dubliner plötzlich discothekentauglich daherkam. Auch inhaltlich veränderte sich vieles. So mutierte Bono im Laufe der Jahre vom passionierten Prediger zum zynisch wirkenden Glamourstar im silbernen Pailletten-Jäckchen. Dennoch (titel) Text: Stefan Woldach
füllten U2 bei ihren Tourneen die größten Arenen der Welt und setzten Millionen von Platten ab. Apropos Platten: „Wir waren selbst überrascht, daß wir so viel von ‚Zooropa‘ verkaufen konnten“, wundert sich The Edge noch heute: „Immerhin war es ein sehr experimentell angelegtes Album mit einer komplett chaotischen Atmosphäre. Zudem war bei den Aufnahmen eine Menge Philosophie in die Platte eingeflossen, viele Verrenkungen, viel Ungewißheit. Wenn ich ‚Zooropa‘ rückblickend kritisieren müßte, dann würde ich sagen, daß die Platte viel zu kopflastig war.“
Die neuen Songs im Ohr, braucht The Edge sich mit derlei düsteren Gedanken nicht zu plagen. Denn ‚Pop‘ ist eher was für Bauch und Beine, ist die rhythmusbetonteste Platte, die U2 jemals aufgenommen haben. Ist das der Tribut, den man ‚Mission: Impossible‘ zollt, jenem Werk, mit dem die L)2-Rhythmiker Larry Müllen (Drums) und Adam Clayton (Bass) aus dem Schatten von Bono und The Edge traten? Ja, die beiden haben das Steuer übernommen,“ nickt Bono halb amüsiert, halb bestätigend. „Adam und Larry sind die Stars auf ‚Pop‘. Auf ‚Rattle And Hum‘ sind wir zum schwarzen Rhythm and Blues zurückgekehrt, zum Sex in der Rockmusik. Dort knüpfen wir jetzt an. Und zwar deshalb, weil der weiße Aufruhr keine Hüften hat“, grinst der LJ2-Lautsprecher. Daß schwarzen Sex-Appeal tatsächlich aber nur jene in ihre Musik zaubern können, die ihn von Hause aus besitzen, ist Bono dabei durchaus bewußt: „Nimm nur allein die HipHopper. Obwohl sie jede Menge Wut im Bauch haben, zeigen sie immer auch Hüfte. Es gibt also viel, was wir von der schwarzen Musik lernen können. Trotzdem bleiben Bands wie wir immer nur weiß – oder vielleicht bestenfalls rosa.“
Um mehr Farbe ins Klangbild zu kriegen, baten Bono und The Edge, Larry Müllen und Adam Clayton bei den Aufnahmen für ‚Pop‘ den Soundbastler Howie B. ins Studio – mit guten Ergebnissen. Der Vorzeigekünstler des Kultlabels MoWax brachte die hüftlahmen Iren auf Trab und veranlaßte sie dazu, über den eigenen musikalischen Tellerrand hinauszublicken. So schleppte Howie, der Meister der Langsamkeit, kurzerhand seine Plattensammlung zu den Aufnahmesessions und beschallte Bonos Bande kontinuierlich mit Jazz und TripHop, mit Rap und MotownTönen. Sogar französische Musique Concrete oder rumänische und ungarische Folklore fiedelte der Soundfreak Howie B. im Studio, um den Hörhorizont seiner vier irischen Freunde zu erweitern. The Edge erinnert sich: „Howie fummelte die ganze Zeit an irgendwelchen Tapedecks herum und führte uns völlig abgedrehte Beats und Stimmungen vor. Zum Teil klangen diese Sachen ziemlich furchtbar. Zum Teil inspirierten sie uns aber auch zu neuen Ideen. Im Grunde genommen war Howie für uns so etwas wie ein Agent provocateur.“
Einen weiteren Sound-Berater fanden Bonos musikalische Bluts-brüder im Umfeld von Massive Attack. Produzenten-Koryphäe Nellee Hooper brachte die neuen Klangkonserven von U2 mittels Mix auf den aktuellen Stand der Londoner Danceund TripHop-Szene. So nahm neben U2S Chef- und Hausproduzent Flood auch Hooper bisweilen den Platz am Mischpult ein. Doch so sehr sich Bono und die Seinen um aktuelle Töne im vertrauten Klangbild auch bemühten: Vorbehaltlos triphopkompatibel mochte man im Hause U2 allen Trends zum Trotz denn doch nicht sein. „Es gibt da eine Menge großartiger Experimente. Besonders
wenn man hört, was Leute wie Tricky so treiben“, würdigt Bono die jungen Mitbewerber auf dem Musikmarkt, „aber viel von dem, was man Trip-Hop nennt, läßt mich schlichtweg einschlafen. Auch wenn ein paar Ambient-Momente den Weg auf unsere neue Platte gefunden haben – das generelle Feeling von ‚Pop‘ ist Hochspannung.“ Unter ebenjener Hochspannung scheint Band-Boss Bono auch noch hier, bei unserem Gespräch in der New Yorker Kunstgalerie, zu stehen. Ginge es nach seinem äußerst rasanten Zigarettenkonsum, müßte er gelb sein vom Kopf bis hinunter zu den Zehen.
Ein guter Geist kämpft sich tapfer seinen Weg durch den blauen Dunst und serviert mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen dampfenden Kaffee. „Für mich koffeinfrei“, bittet Bono, „ich werd‘ sonst so nervös.“ Bei so viel Rücksicht auf das eigene Wohlbefinden kann Bonos Kumpel Edge nur noch schmunzeln. Er kennt seinen geistigen Bruder bestens und weiß: Bono steht auch ohne stimulierende Substanzen ständig unter Strom. Besonders beeindruckend ist die immer noch vorhandene Begeisterungsfähigkeit des Superstars. So ist Bono beispielsweise dann bester Laune, wenn es darum geht, in stundenlange philosophische Exkursionen einzutreten: über die Kraft des Rock’n’Roll etwa, über seine Faszination und die Energie, die von dieser Musik ausgeht, über den emotionalen Unterbau und den vom Kopf zu erfassenden „Spirit.“ Und wenn dann davon die Rede ist, daß vieles im Rock’n’Roll kalkulierbar weil hitsicher geworden ist, kann Bono sogar richtig böse werden: „Eine Band wie Nirvana hat die ganze Problematik des Genres deutlich gemacht. Alles, was danach kam, war langweilige, uralte Bar-Musik.“
Und was, bitte schön, ist dann Pop? Bono zögert nicht einen Augenblick: „Pop ist das Gefühl eines Moments“, läßt er uns wissen. Und mit Blick auf die neue Platte: „Dieses Album ist unsere Version von Pop, Rock’n’Roll, wie er heute klingen sollte.“ Und wie ist bei Bonos Bemerkungen über die Hipness der Hüfte die Bedeutung des Kopfes zu bewerten, des Verstandes also, der bei den Aufnahmen zu ‚Pop‘ völlig fraglos eine wichtige Rolle spielte? „War es nicht George Clinton, der sagte, ‚befreie deinen Arsch, und dein Kopf wird folgen‘? Was mich betrifft: Ich glaube an die Befreiung durch den Groove. Trotzdem wollten wie nie ‚geile Musik‘ im wörtlichen Sinne machen. Auf der anderen Seite mußt du dir nicht zwangsläufig den Kopf abschrauben, damit deine Musik sexy wird.“ Und weil wir schon mal beim Thema „Kopf und Köpfchen“ sind, möchte Bono auch dies noch zum besten geben: „Ich nehme natürlich gerne an, daß die Leute, die unsere Platten kaufen, etwas heller im Kopf sind als andere. Die brauchen uns nicht, um mit ihrem Leben klarzukommen. Aber wir können ihnen beschreiben, wie wir leben, was wir fühlen und was wir denken. Ich kann unseren Erfolg nur genießen, wenn ich versuche, etwas Positives damit zu schaffen.“
Keine Frage: An dieser Stelle unseres Gesprächs spricht aus Bono wieder das soziale Gewissen von U2. Eine Stimme, die in mahnender Manier auf den Zustand der Welt verweist und gleichzeitig auf das Eingreifen eines Gottes hofft, der sich von seiner eigenen Schöpfung längst abgewandt hat. Im Text von ‚Wake Up Dead Man‘ mündet Bonos offenkundige Betroffenheit in eine Bitte, die er ihrer Dringlichkeit entsprechend direkt an Jesus richtet: „Jesus help me / l’m alone in this world / and a fucked up world it’s too / teil me the story / the one about eternity and the way it’s gonna be / wake up dead man.“
Mit derlei Dichtung wolle er Denkanstöße geben, gibt Bono zu Protokoll. Genau wie bei einem denkwürdigen MTV-Spektakel in Paris, das der U2-Sänger als Forum für einen Seitenhieb auf Frankreichs Atomversuche nutzte: „What a city, what a night, what a bomb!“ Ein Volltreffer vor Millionen von Fernsehzuschauern. „Irgendjemand mußte damals doch was sagen“, meint Bono rückblickend mit einem Anflug von Stolz auf dem Gesicht, „und ich habe nun mal die größte Klappe. Außerdem hatte ich mir vor dem besagten Satz ein paar Drinks genehmigt, wodurch meine Zunge etwas gelöst war.“
Dennoch: Verbale Seitenhiebe sind keine Seltenheit, wenn Bono erst mal zu Form aufläuft. Erst kürzlich noch war Michael Jackson die Zielscheibe seines Spotts. Es sei besser, kein Englisch zu verstehen, wenn man höre, was sich Jacko so zusammensinge, ließ die Lästerlippe aus Irland verlauten. Wenig später aber tat Bono diese Äußerung schon wieder leid: „Vielleicht war ich ja doch etwas zu gemein, als ich das über Michael sagte.“
Bono, so viel ist sicher, lebt mit dem Widerspruch – als Verfechter eines drogenfreien Daseins, der bisweilen selbst zu tief ins Glas guckt, als Perfektionist, der so ziemlich alles verliert, was nicht direkt an seinem Körper befestigt ist, als Lästermaul, dem die Schlagzeilen über die eigenen Entgleisungen zutiefst zuwider sind, und nicht zuletzt als Christ, der den Lebenswandel eines Rockstars mit den Prinzipien des Glaubens für unvereinbar hält.
Ihren optischen Niederschlag fand diese Widersprüchlichkeit während L)2S großer Zoo-TV-Tournee. Man erinnere sich: Bono, der gute Mensch vom Dienst, verkörpert faustisch fies den teuflischen Macphisto. „Das war der einzige Weg, mich selbst zu schützen“, erklärt der U2-Frontmann heute sein Rollenspiel von einst. „Wenn du Kurt Co bain gesehen hast und das ganze Leid, in dem er lebte, dann seinen verzweifelten Versuch, damit klarzukommen – einfach furchtbar.“ Bono, man bemerkt es, leidet mit: „Auch ich fühlte mich lange Zeit ungeschützt, wie ein blanker Nerv. Also mußte ich einen Weg finden, mich zu schützen.“ Mittels dunkler Augengläser zum Beispiel: „Nur wenn ich meine Sonnenbrille aufhatte, konnte ich den ganzen Bullshit um mich herum noch aushalten.“ Später dann, mit etwas mehr Abstand zum riesigen Rummel um seine eigene Person, habe sich Bono „einen Weg durch die Menge gelacht“, wie er erklärt.
„Humor ist eine großartige Waffe“, weiß Bono, „und ein guter Weg, um ernste Ansichten ins Publikum zu transportieren.“ Seine Sonnenbrille setzt er heute nur noch auf, wenn das Wetter es gebietet. Denn mit den Unbilden des Daseins hat er sich inzwischen arrangiert: „Es gibt eine Menge Scheiße da draußen. Doch heute denke ich, daß man besser darauf herumschlittern sollte,f als darin herumzuschwimmen.“