Trau keinem unter Fünfzig
Trau keinem über 30? Guter Witz. Ich will sterben, bevor ich alt werde? Selten so gelacht. Die vollmundigen Versprechungen der ersten Pop-Generation sind heute nur noch hohle Phrasen. Die Realität sieht anders aus: Von McCartney zu Paul Simon, von Brian Wilson zu Jerry Garcia — die Männer, die damals Popgeschichte schrieben, schreiten 1992 würdevoll ins sechste Lebensjahrzehnt. ME/Sounds-Mitarbeiter Steve Lake (42) hält die Laudatio.
„Jeder Mann über 40 ist ein Schurke“, sagte George Bernard Shaw vor langer Zeit. Auf dem Höhepunkt der Jugendbewegung in den 60er Jahren wurde daraus „Trau keinem über 30“, und Roger Daltrey sang „Hoffentlich sterbe ich, bevor ich alt werde“— ein Anliegen, dem von höherer Seite, wie man weiß, nicht naehgekommen wurde. Als man die 70er einläutete, wurden die Charts von Sängern dominiert, die den Stimmbruch noch vor sich halten: Little Jimmy Osmond und Michael von den Jackson Five. Und am Ende des Jahrzehnts machte sich der Punk daran, die Welt ein für alle mal von den boring oldfans, den langweiligen alten Fürzen, zu befreien.
In den 80ern zeigte sich, daß er sich damit etwas überschätzt hatte, und heute erscheint die ganze Punk-Philosophie irgendwie verschroben und sentimental. Seine Vertreter haben den Löffel abgegeben, shampoonieren wieder Autos in der Waschstraße oder machen Dauerurlaub, so wie Johnny Rotten. Diejenigen jedoch, gegen die sie zu Felde zogen, weilen immer noch unter uns.
Vielleicht wird es allmählich Zeit, die weiße Flagge zu hissen und das Feuer einzustellen.
Schauen wir uns die Fakten an. Amerikas erfolgreichste Tourband 1991 war. wie eh und je. Grateful Dead. Gründungsmitglied Phil Lesh ist mittlerweile 52, Frontmann und Bandsprecher Jerry Garcia hat kürzlich die 50 erreicht. Nächstes Jahr werden alle Rolling Stones — mit Ausnahme von Ron Wood — 50 oder darüber sein (Bassist Wyman ist bereits 56). Auch Paul McCartney befindet sich, ebenso wie Ehefrau Linda, im sechsten Lebensjahrzehnl (Ringo hat ihnen sogar schon ein paar Jährchen voraus), und zu den weiteren Jubilaren in diesem Jahr gehören unter anderem Paul Simon und Art Garfunkel, Roger McGuinn, Ex-Police-Gitarrist Andy Summers, die Beach Boys Brian Wilson und AI Jardine. John Cale, Ian Dury, Graham Nash (David Crosby wurde letztes Jahr 50), Taj Mahal, Aretha Franklin und Country Joe McDonald.
Einige weniger bekannte Persönlichkeiten, die nun ebenfalls im „besten Alter“ stehen, sind Dave Clark (ehemals Boß der Dave Clark Five), Gerry Marsden von den Beatles-Rivalen Gerry and ¿
the Pacemakers, Ex-Monkee Michael Nesmith. Alan Price (Animals) und Pete York, früher Drummer bei der Spencer Davis Group. Hätten sie ein geordneteres Leben geführt, könnten auch Jimi Hendrix. Brian Jones und Paul Butterfield dieses Jahr die Sektkorken knallen lassen.
Zumindest in der Welt des Pop — einer Musik, die vom Image lebt — wird mit grimmiger Faszination registriert, wie sich Falten auf vertrauten Gesichtern ausbreiten. Haaransätze zurückgehen, während der Taillenumfang zunimmt, und die wunderbare Kinnvermehrung unaufhaltsam fortschreitet. Die Erkenntnis, daß Zeit und Schwerkraft auch vor den Körpern der Stars nicht haltmachen, verschafft uns Normalsterblichen gewissen Trost — zumindest in diesem Punkt können wir ganz gut mithalten.
Einige von ihnen schaffen es jedoch, mit trockenem Humor und einer gewissen Grandezza auf das Rentenalter zuzusteuern. Sicherlich, es ist ein bißchen albern, als 50jähriger Beach Boy immer noch Loblieder auf kalifornische Madchen zu singen, und Mick Jagger, gerade Großvater geworden, könnte mittlerweile andere Lebensziele anstreben als .Just Another Night With You“ oder die „Satisfaction“, die sich seit 27 Jahren nicht einstellen will. (,M’u 30 werde ich ,Satisfaaion’garantiert nicht mehr singen“, hat er mal versprochen.) Die Grateful Dead, nach einem Blick in den Spiegel zu der Erkenntnis gelangt, daß „ein bißchen grau dir sowieso gut steht“, schneiden dagegen besser ab. In zähem Ringen gegen die harte Hand des Schicksals — im Laufe ihrer Geschichte sind ihnen schon drei Keyboarder weggestorben — sind sie zu einer Art stoischen Würde gelangt, die selbst Kritiker anerkennen, und Garcias von jeher etwas verdrossen klingende Stimme paßt zu einem gestandenen 50jährigen allemal besser als zu einem unreifen Bürschchen von 20. Glamour konnte man den Deads noch nie vorwerfen, und weil sie nie versucht haben, sich auf Basis eines vergänglichen Sex-Appeals zu verkaufen, gelingt es ihnen besser als jeder anderen Band ihrer Generation, in Ehren alt zu werden.
Paul Simon ist ein ähnlicher Fall, auch er war nie wirklich jung. Ein Gutteil seiner Songs aus der Zeit vor Simon and Garfunkel triefen vor Nostalgie (man denke nur an „Homeward Bound“). Auch John Cale machte in der Velvet-Underground-Ära nur ein einziges Mal den Versuch, den Teenager-Markt zu erobern, als er mit „Do The Ostritch“ einen neuen Modetanz einführen wollte (Textprobe: „You put vour head in the ground I and move vour ass around“):
in den Jahren danach hat er sich nie sehr weit von der bewährten Velvet Underground-Formel — Poesie plus Experimentalmusik — entfernt.
Andy Summers Geburtsjahr war zu den Zeiten, als sich Police noch in Punk-Gefilden tummelten, ein sorgfältig gehütetes Geheimnis. Der Altersunterschied zu seinen Bandkollegen wurde mit Blondiercreme und Gesichtspuder zwar äußerlich eliminiert, verriet sich jedoch in Summers‘ „erwachsenem“ Gitarrenspiel: Raffinierte Soli und Jazz-Harmonien veredelten selbst die seichstesten Pop-Liedchen. Summers wird zweifellos Musik machen, bis er umfällt, doch seine Chancen, jemals wieder ein Massenpublikum zu erreichen, sind erschreckend gering.
Überlegungen wie diese führen unausweichlich zu der Frage: Wer war es denn nun, der uns einbleute. Pop sei „junge“ Musik und ausschließlich Spielwiese knackiger, gutaussehender Männer? Ein wenig ernsthafte Forschungsarbeit würde rasch zutage bringen, daß dies vor allem das Werk einer Schar homosexueller Manager in den 50er, 60er und frühen 70er Jahren war, die — verständlicherweise — gern hübsche, frische Gesichter um sich sahen. Und natürlich die Rockkritiker, laut Leonard Cohen (58) „Kofferträger der Planenindustrie“, die solange auf dem Klischee „ein junges Publikum will junge Bands“ herumritten, bis es in Journalistenkreisen zur Gewohnheit wurde, jeden lächerlich zu machen, der nicht mehr in der ersten Jugendblüte steht.
Das vergangene Jahrzehnt hat jedoch gezeigt, daß der angeblich so entscheidende Faktor Alter innerhalb des Business sehr viel mehr Bedeutung hat als außerhalb. Während beispielsweise die englische Rockpresse unermüdlich vorgestern gegründet eric clapton unplugged stflBErfmrwlSisis ANFANG 1992 PRODUZIERTE KONZERT ALS HÖHEPUNKT DER »M7V-UNPLUGGED«-REIHE. ERIC CLAPTON UND SEINE HOCHKARÄTIGE BAND MIT NATHAN EAST, STEVE FERRONE, RAY COOPER, CHUCK LEAVE0 U.A. SPIELEN REIN AKUSTISCHE VERSIONEN VON HITS (tUffT TEARS IN HEAVEN) BLUES-STAN-DARDS (ROLLIN’AND TUMBUN‘) UND REPERTOIRE-KLASSIKERN (RUNNING ON FAITH). EINE GITARREN-LEGENDE STELLT SICH IN VÖLLIG NEUEM LICHT VOR. EIN MEILENSTEIN IN DER KARRIERE VON ERIC CLAPTON
te Bands auf die Titelseiten hievt (garantiert jung!), geht das Publikum achselzuckend weiterhin in Konzerte von Tina Turner (53), Bob Dylan (51) oder den Rolling Stones (zusammen 250).
Wer sich, irgendwo auf der Welt, unter eine Gruppe minderjähriger Tramper mischt, kann ziemlich sicher sein, daß aus ihren Cassettenrecordern das Standardprogramm schallt: Beatles, Stones, Doors. Elton, Clapton und. als wahrscheinlich „modernster“ Beitrag, ein bißchen Dire Straits. Mindestens einer hat eine akustische Gitarre dabei und präsentiert, mit stimmlicher Unterstützung der anderen Rucksackträger, beim abendlichen Singalong um das Lagerfeuer sein Repertoire aus Dylan. Crosby, Stills & Nash und dem obligatorischen „Me And Bobby McGhee“ (aus der Feder von Kris Kristofferson. 55).
Die älteren Semester unter uns, die in den“.glorreichen“ 60ern aufgewachsen sind und Haschpfeife und Schlafsack schon vor längerer Zeit an den Nagel gehangt haben, mögen solche Erscheinungen vielleicht als Symptome allgemeiner Phantasielosigkeit abtun, aber die Leidenschaft, mit der sich viele Teenager heute einer Musik hingeben, die schon vor ihrer Geburt entstand, kann nur als verzweifelte, romantische Sehnsucht nach einer Zeit verstanden werden, in der Rock und Pop Fundament eines Gemeinschaftsgefühls waren, einer Zeit, in der ein Song noch etwas bedeutete.
Wer heutzutage nicht schwarz ist und im Ghetto lebt (in diesem Fall sorgt der Rap für die musikalische Aufarbeitung deiner wenig erquicklichen Lebensumstände). muß sich damit abfinden, daß Popmusik im Normalfall etwa ebensoviel Substanz wie eine Regierungserklärung hat. MTV beweist uns dies jeden Tag aufs neue, ebenso wie der unaufhörliche Aufmarsch (und Abgang) neuer Bands. Nach Gehrauch wegwerfen, verkündet uns die Plattenindustrie. Die Popgruppe der 90er ist das musikalische Äquivalent eines Tempo-Taschentuchs.
Natürlich gibt es hin und wieder auch Neulinge, die ein bißchen energischer auftreten und tatsächlich etwas bewegen. Bands wie die Sex Pistols oder KLF passen gut zu Neil Youngs Philosophie, die da sagt, daß es besser ist auszubrennen, als Rost anzusetzen. Doch selbst Neil (mit 47 geradezu ein junger Hupfer) hält sich nicht länger an seine eigenen Grundsätze, denn in Wahrheit ist es einfacher, sich schnell zu verausgaben, als jahraus, jahrein die Fahne hochzuhalten.
Man muß also, wenn auch vielleicht widerwillig, vor denen den Hut ziehen, die bei der Stange geblieben sind. Der Titel von Eric Claptons Biografie „Survivor“ (Der Überlebende) mag etwas melodramatisch geraten sein, aber es gehört tatsächlich eine gute Portion Durchhaltevermögen dazu, um nicht nur mit den bekannten Fallstricken des Tourlebens fertigzuwerden (schlechte Drogen, unsicherer Sex, defekte Hubschrauber), sondern auch die wechselhaften Moden zu überleben, von denen sich die Industrie regieren läßt.
Und warum machen sie weiter, ziehen Jahr für Jahr aufs neue durch die Lande?
„Was für eine dämliche Frage“, sagt Bob Dylan. „Frag mal Marion Brando, warum er noch einen Film dreht. Es ist wirklich nicht das Geld. Es ist nun mal das einzige, was wir können. „
An alle Musiker, die dieses Jahr das halbe Jahrhundert vollmachen und damit die Gesetze des Musikgeschäfts auf den Kopf stellen: Happy Birthday!