TOCOTRONIC
Livepremiere der neuen Songs im Club: Tocotronic haben sich im Griff wie nie zuvor – und die Wut wiedergefunden.
Zu Beginn grüßt die Hochkultur: ein Stück von Karlheinz Stockhausen ertönt als Intro, „Gesang der Jünglinge“, Avantgarde-Electronica, 1956 uraufgeführt. Arne Zank, mit neuem Bart Thom Yorke nicht unähnlich, schleicht als Erster über die Bühne. Er bekommt, wie später bei der Bandvorstellung, den größten Applaus. Hat sich hier ein Insidergag wie bei Charlie Watts eingeschlichen? Der Drummer als automatischer Abonnent für den größten Publikumszuspruch? Aber auch die anderen müssen sich für das ihnen entgegengebrachte Klatschvolumen nicht schämen.
Dirk von Lowtzow grüßt gerührt – selbstverständlich ist der Club rammelvoll – und entschuldigt sich vorab für eventuelle Premierenpatzer; man feiert das Livedebüt des neuen Albums WIE WIR LEBEN WOLLEN. Schon versagt seine Gitarre. Zwangspause. Die Band amüsiert sich. Dann spannen Tocotronic einen weiten Bogen: Nach den beiden neuen Songs „Im Keller“ und „Ich will für dich nüchtern bleiben“ spielen sie ihre allererste Single „Meine Freundin und ihr Freund“, von 1994. Die vier überraschen mit kompaktem Klangbild. Bis weit in die Nullerjahre rumpelten sie oft noch hintereinander her, was den Fan freilich nie störte und der Band ein gewisses Maß an Punk bewahrte. Heute lässt es sich an diese Zeiten aber nur noch erinnern. Auch daran, dass der tocotronische Zorn der Anfangsjahre längst verflogen war, hatte man sich gewöhnt. An diesem Abend kehrt er zurück. Erbost über einen Artikel im „Spiegel“, der die Band „Staatsdichter“ nannte, prügeln sie vor einem durchgekreuzten Bundesadler, dem Logo von Bassist Jan Müllers Zweitband Das Bierbeben, „Aber hier leben, nein Danke“ ins Publikum. Das reagiert angemessen und springt aufeinander zu.
Mit kämpferischer Faust in der Luft verabschiedet sich von Lowtzow nach „Kapitulation“. Er grinst, aber die Geste ist ernst gemeint. Das wird klar, als er sie nach dem Slowcore-Closer von K.O.O.K., „17“, wiederholt. Tocotronic haben mit ihren letzten Alben die Gelassenheit gefeiert, das Müssen abgeschafft. Manchmal driftet diese Loslösung immer noch in Abgehobenheit ab – etwa, wenn von Lowtzow im Outro von „Freiburg“ theatralisch Freejazz-Größe Albert Ayler zitiert: „Music is the healing force of the universe“. Da grüßt sie wieder, die Hochkultur, diesmal zum Abschied. Doch gegen Nationalitätsschmarrn hilft kein Achselzucken, da wird die Faust gereckt. Wenn es darauf ankommt, war und ist auf diese Band stets Verlass.
SETLIST
Im Keller Ich will für dich nüchtern bleiben Meine Freundin und ihr Freund Vulgäre Verse This Boy Is Tocotronic Verschwör dich gegen dich Sag alles ab Aber hier leben, nein Danke Warte auf mich auf dem Grund des Swimmingpools Abschaffen Alles wird in Flammen stehen Auf dem Pfad der Dämmerung Chloroform Exil Jackpot Hi Freaks Bitte oszillieren Sie Wie wir leben wollen
Freiburg Drüben auf dem Hügel Kapitulation
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