Thom Yorke


Der Dover Street Markt im Londoner Edelquartier Mayfair ist eine Sammelstelle für die neuesten Designer-Talente im Modegeschäft. Thom Yorke erregt in keiner Weise Aufmerksamkeit, als er an der Seite seiner Managerin ins Café tritt. Eingehüllt in wollenes Winterzeug samt dicker Wollkappe ist er zu unauffällig in der Umgebung der multikulturellen Fashionistas, die rundum am Macchiato nippen. Yorke ist gekommen, um über AMOK zu reden, das Debütalbum seiner zweiten „Band“ Atoms For Peace. Dazu gehören Radioheads Stammproduzent Nigel Godrich, Red-Hot-Chili-Peppers-Bassist Flea, Session-Drummer Joey Waronker (Beck, R. E.M.) und -Perkussionist Mauro Refosco (David Byrne). Unser Interview kam ziemlich spontan zustande. Wie lang wir denn Zeit miteinander hätten, möchte ich wissen. „Na ja, eine Stunde wird schon gehen“, sagt Yorke. Seine Managerin sei auf der Suche nach einem bestimmten Paar Schuhen. Für einen Video-Clip, sagt der Künstler lachend: „Frag mich nicht warum. Es ist kompliziert „

Steht hinter Atoms For Peace die Absicht, die interessantesten Musiker außerhalb von Radiohead um dich zu scharen, denen du während zwanzig Jahren auf Tour begegnet bist?

Die Absicht bestand in nichts weiter, als eine Gruppe von Musikern zu finden, von denen ich mir erhoffte, dass sie mein Solo-Album THE ERASER auf die Bühne bringen könnten. THE ERASER gab es zwar im Laden zu kaufen, man konnte es zu Hause anhören, aber so richtig existierte das Album für mich irgendwie nicht, denn ich hatte die Lieder nie wirklich gespielt. Wenn mal etwas im Sequencer gespeichert ist, vergisst man rasch, wie es geht, es spielt sich wie von allein. Als ich dann auf einem Festival allein auftreten sollte, musste ich die Songs erst wieder einstudieren. Da erwachten sie für mich zu neuem Leben. Mich reizte der Gedanke, zu sehen, was herauskäme, wenn andere Musiker beteiligt wären. Ein Experiment. Ich hatte ja immer nur mit Radiohead gespielt. Am Ende der ersten Show verspürten wir einen derart massiven Buzz, dass wir einfach weitermachen wollten. So einfach war das.

Es ging also darum, aus der virtuellen Musik analoge Musik zu machen?

Virtuell nur in dem Sinn, dass ich die Songs nie in ihrer endgültigen Form live aufgeführt hatte. Im Kern waren es ja immer noch konventionelle Songs. Außerdem musste ich einen Weg finden, sie analog spielen zu können, um dazu die Texte zu schreiben. Das geht für mich am Sequencer nicht. Dafür muss ich mich an ein Instrument setzen, so wie ich es seit meinem zwölften Lebensjahr mache. Dennoch war es ein gewaltiger Sprung zur Live-Interpretation von THE ERASER durch eine Band mit irre versierten Musikern. Mir gefällt die verquere Ästhetik, wenn Menschen versuchen, Computer zu imitieren statt umgekehrt.

Ich erinnere mich lebhaft an den Schock, als ich vor Jahren das Drum-&-Bass-Kollektiv Reprazent mit Roni Size live erlebte und sah, dass diese verrückten Beats von einem Drummer aus Fleisch und Blut gespielt wurden. Die Dynamik war atemberaubend.

Ja! Dieser Schlagzeuger war Clive Deamer, der seit der „The King Of Limbs“-Tour zu Radiohead gehört. Auch wir begegneten ihm zum ersten Mal mit Roni Size. Mit THE KING OF LIMBS waren unsere Rhythmen zu komplex geworden für einen Schlagzeuger allein. Dank Clive genießt auch Phil (Selway, Hauptschlagzeuger von Radiohead – Anm. d. A.) nun größere Freiheiten. Vorher war es für ihn manchmal frustrierend, weil er sich immer auf den Backbeat konzentrieren musste. Wir konnten ihm nur Platz verschaffen, indem wir mit Drum-Maschinen arbeiteten. Ein zweiter Drummer gibt ihm und uns ganz neue Möglichkeiten.

Mit THE ERASER wolltest du herausfinden, wie es ist, Musik zu machen, ohne sich an die Komitee-Beschlüsse einer Band halten zu müssen. Nun hast du dir damit ironischerweise ein zweites Komitee aufgehalst …

Oh nein, so ist das nicht. Ganz und gar nicht! (lacht) Atoms For Peace bestehen im Kern aus Nigel und mir. Von Flea weiß ich, dass er gern dabei ist, weil hier nicht der Druck auf ihm lastet, Konzepte zu formulieren wie bei den Chilis. Er kann spielen, was ihm einfällt, und wir sagen Ja oder Nein. Danach setzen Nigel und ich die Stücke wie mit Bauklötzen zusammen. Das Schreiben ist das Redigieren ist das Schreiben. Das ist eher die Methode von Dance-Produzenten. Man verlangt von den Musikern nicht das perfekte Stück. Man braucht nur Fragmente, die man dann weiterspinnt.

Wann und wie sind diese Fragmente eingefangen worden?

Nach den ersten und bisher einzigen acht Auftritten im April 2010 begaben wir uns ein paar Tage ins Studio und spielten uns die Seele aus dem Leib. Wir fingen mit ganz wenig an, mit einer rhythmischen Idee vielleicht, die ich auf dem Laptop hatte. Im Grunde war es eine einzige lange Jam-Session. Die Energie war toll, es kam eine Menge Material dabei heraus. Darauf folgte der langwierige Prozess, daraus mal allein, mal mit Nigel Stücke zu formen.

Eine neue Arbeitsweise für dich?

Es war insofern ungewohnt, als ich normalerweise nie in ein Studio gegangen bin, ohne wenigstens ein paar Akkordfolgen und Textzeilen in der Tasche zu haben. Planlos im Studio zu erscheinen, das hätte mir früher nicht behagt. Irgendwie fand ich das unauthentisch. Heute habe ich keine solchen Bedenken mehr. Ich vermute, es war ein Kater aus der EMI-Zeit, wo die Plattenfirma das Studio bezahlte. Da musste man wissen, was man wollte, sonst hätte man die Zeit und das Geld von jemand anderem verschwendet. Heute ist das anders. Wir haben alle unsere eigenen Studios und können tun und lassen, was wir wollen. Das Studio ist Teil des Arbeitsprozesses geworden.

Besteht da nicht die Gefahr des Ausuferns, des Verzettelns?

Ganz bestimmt! (lacht vergnügt) Aber mir wegen so was Sorgen zu machen, das habe ich mir um 1999 herum abgewöhnt. Man darf sich nur nicht zu lange mit einem Detail aufh alten, mit einem bestimmten Drum-Sound etwa. Nigel könnte das eh nicht. Er arbeitet viel schneller als ich. Ich muss ihm die ganze Zeit hinterherhecheln. Wenn ich allein bin, kommt alles ins Stocken. Ich verrenne mich, muss die Sache abbrechen, aus der Distanz betrachten, noch mal anfangen. Von Nigel bekommt man eine Ohrfeige, wenn man den Fokus verliert.

Der Mann mit der Peitsche?

Auf seine Art schon. Ab und zu bastele ich als Gefallen für einen Freund Soundtracks für seine New Yorker Modenschauen. Als ich zusagte, versprach ich mir davon eine vergnügliche Abwechslung. War es auch, beim ersten Mal, als Nigel dabei war. Das nächste Mal war ich allein. Ich musste schnell erfahren, dass ich zwar Ideen habe, sie aber nicht zusammenfügen kann. Ich kann nicht kreieren und zur gleichen Zeit erkennen, was ich kreiert habe. Eine nützliche Erkenntnis. Darin liegt wohl der Grund, dass Menschen in Teams arbeiten.

Wie kommunizieren Atoms For Peace?

Gerade haben Flea und ich über E-Mails Musik ausgetauscht. Aber die vielen anderen Skizzen, die sich bei mir angesammelt haben, will ich den anderen persönlich überreichen. Es ist eine ungewöhnliche Situation. Wir haben uns kaum gesehen, seit wir damals im Studio waren. Das ganze Projekt ist sehr vage. Ich würde Atoms nicht einmal als Band bezeichnen. Wir machen zwar zusammen Musik, haben mächtig Spaß daran und wollen damit auf die Bühne gehen. Aber es ist nicht das, was ich früher unter einer Band verstanden hätte. Befreiend für uns alle, irgendwie. Aber nicht „befreiend“ in dem Sinn, dass es ein Bedürfnis in mir befriedigen müsste, irgendwelche Fesseln abzuwerfen. Die Situation gefällt mir gerade darum so gut, weil ich keine Ahnung habe, was ich hier zu erreichen versuche.

Wie ist die Besetzung von Atoms For Peace zustande gekommen?

Von dem Moment an, wo ich die Möglichkeit in Erwägung zog, THE ERASER auf die Bühne zu übersetzen, wusste ich, dass ich das nur tun würde, wenn Joey und Flea mit von der Partie wären. Flea kannte ich persönlich ein bisschen, weil ich ihm bei mehreren Chili-Peppers-Shows begegnet war. Joey lernte ich durch Nigel kennen, mit dem er befreundet war. Da hatte er bei R. E.M. gerade Bill Berry ersetzt. Mauro wiederum lernte ich über Joey und David Byrne kennen. Er und Joey teilen eine Begeisterung für ungewöhnliche Perkussionsinstrumente. Mauro geht buchstäblich in den DIY-Shop und kauft sich Dinge zusammen, aus denen er ein neues Instrument baut. Ich wusste, dass ihnen die Herausforderung, elektronische Beats mit Instrumenten nachzuempfinden, gefallen würde.

Heißt das etwa, dass AMOK komplett mit organischen Instrumenten erzeugt wurde?

Nein, ganz und gar nicht! Aber wir haben es extra so gemacht, dass man nicht recht weiß, was nun elektronisch ist und was nicht.

Was ist Fleas Rolle bei euch?

Auf THE ERASER spielt der Bass eine Hauptrolle. Völlig ausgeschlossen, dass ich auf der Bühne gleichzeitig singen und ein Lead-Instrument spiele – abgesehen davon, dass meine Hände zu klein sind, live Bass zu spielen. Ich könnte mir niemand anderen an dem Instrument vorstellen als ihn; ich wusste, dass er den Groove verstehen würde.

Wie fühlt es sich an, nach all den Jahren mit Radiohead bald eine längere Tour mit einer anderen Band zu unternehmen?

Die ganze Sache ist schräg, alles daran.

Ein bisschen wie eine Affäre?

Vielleicht NEIN! Erstens gibt es keine Schuldgefühle, und zweitens wissen beide Seiten, was los ist. Aber eigenartig ist es schon. Allerdings wüsste ich nicht, was ich tun könnte außer einfach mitzumachen. Das Album war fertig, es gefiel mir, so fuck it – schauen wir, was damit passiert. Das Gleiche gilt für die Tour. Keine Ahnung, was ich da auf mich nehme – fuck it, let’s do it. Schauen wir mal, ob es uns danach immer noch gefällt.

Schreibst du für Atoms For Peace andere Texte als für Radiohead?

Das Schreiben der Texte ist jedes Mal anders. Leicht ist es nie. Ich habe sogar erkennen müssen, dass die Qualität der Lyrics nicht eben toll ist, wenn ich das Gefühl habe, es sei mir leicht gefallen. Wenn ich schwitzen und mit mir ringen muss, kommt es besser heraus.

Die Jack Kerouac’sche Methode des spontanen Hinwerfens ist also nicht dein Fall?

Glaub mir, das ist nur allzu oft die Methode, auf die ich zurückgreifen muss, und zwar aus reiner Verzweiflung! (lacht) Aber das Hinwerfen ist weniger wichtig als das Redigieren. Alles hängt vom Redigieren ab. Es ist die alte Maxime aus der Kunstschule: Es ist einfach, etwas zu kreieren – alles andere als einfach ist es hingegen, zu verstehen, was man geschaffen hat und die Entschlüsse zu fällen, die daraus ein komplettes, abgerundetes Ganzes machen.

Viele Künstler hüten sich davor, Musik anderer zu hören oder Bücher zu lesen, wenn sie in einer kreativen Phase stecken, weil sie Angst haben, beeinflusst zu werden. Wie ist das bei dir, der du ständig etwas in Arbeit hast?

Darin sehe ich absolut keine Gefahr. Ich bin massiv beeinflusst von allem, was ich höre und lese. Ich finde es jedes Mal super aufregend, wenn ich etwas Neues für mich entdecke. Danach renne ich aber nicht gleich ins Studio, weil ich das Bedürfnis hätte, etwas Ähnliches zu produzieren. Könnte ich auch gar nicht. Sich nicht mehr für die Musik anderer zu interessieren oder sich davon beeinflussen zu lassen, das bedeutet in meinen Augen den Tod eines Musikers. Ich beobachte häufig, dass Leute gerade in meinem Alter – Nicht-Musiker wohl öfter als Musiker -ihr Interesse an neuer Musik verlieren und sich an ihre alten Sachen halten. Vielleicht fehlt ihnen schlicht die Energie, sich umzuhören und sich die Zeit zu nehmen, sich mit Unvertrautem vertraut zu machen. Bei mir hat sich nichts verändert. Ich finde es fast unmöglich, Hintergrundmusik zu ignorieren. Wenn es irgendwo Musik gibt, muss ich hinhören. Ich finde es keine schlechte Sache, für Neues offen zu sein und diese Einflüsse in sich aufzunehmen. Wie schon John Lennon sagte, es ist nicht wichtig, ob du stiehlst, es ist wichtig, wie du stiehlst.

Ich bin immer wieder schockiert, wenn mir Leute – manchmal sogar Kollegen – weismachen wollen, es sei in der Musik seit zehn Jahren nichts Bedeutendes mehr passiert.

So geht ’s mir auch. Ich verstehe zum Beispiel nie, warum so viele Leute sich bedroht fühlen, sobald man mit Dance und Electronica kommt. Ich verstehe, dass eine menschliche Stimme, die Verse und Refrains singt, hilft, eine emotionale Brücke zwischen Hörer und Musik zu schaffen. Ich bin ja im Grunde auch immer noch ein Songschreiber, der sich über das Medium Stimme mitteilen will. Aber ich sehe nicht ein, dass die Stimme die einzige solche Brücke sein muss. Ich gebe zu, dass 95 Prozent aller Dance Music komplett hoffnungslose Scheiße ist. Die restlichen fünf Prozent aber, die sind wirklich aufregend, kühn und innovativ. Ich verstehe den Reiz der menschlichen Stimme. Darum will ich mit den Atoms weiterhin auch singen. Um ehrlich zu sein wünschte ich mir, es gäbe mehr elektronische Musik, die sich bemüht, Gesang auf interessante Weise zu integrieren. Aber ich werde nie verstehen, warum gewisse Leute Musik nicht akzeptieren können, wenn sie aus dem Computer kommt. In dem Bereich geschieht derzeit ja so viel. Weil man nie im Radio gespielt wird und niemand in den Medien darüber berichtet, genießt diese Szene die totale Freiheit. Und jeder kann sie finden, im Internet.

Bist du ein Tänzer?

Allerdings. Erst gestern Nacht im Studio ist es mir wieder passiert. Ich spielte mit den Knöpfen und Schaltern und es klang verdammt gut, was da aus den Boxen kam, und plötzlich hüpfte ich durchs ganze Studio.

Kannst du absehen, ob du von Atoms For Peace schon etwas gelernt hast, was sich auf Radiohead auswirken könnte?

Atoms sind sehr rhythmisch, sehr kinetisch, das ist ihre Essenz. Die Musik von Radiohead, auch die Dynamik innerhalb der Band, ist völlig anders gelagert. Ich habe aber festgestellt, dass ich in der Abwesenheit von Radiohead eines sehr vermisse, nämlich die viele Zeit, die wir mit Radiohead ganz verspielt damit verbringen, verrückte Sounds zu erzeugen. Allein kann ich das nicht. Aber Jonny Greenwood und Ed O’Brien sind echte Zauberer in diesem Bereich. Dazu Colin Greenwood und seine Fähigkeit, einen Haufen alte Analog-Maschinen zu kaufen, und innerhalb von einer Woche zu begreifen, wie sie funktionieren -das könnte ich nie. Diese Art von Studioarbeit und das, was ich mit Atoms mache, sind zwei grundverschiedene Ansätze. Auch das gefällt mir aber an der Situation. Weil die beiden Welten so verschieden sind, ergeben sich aus dem Nebeneinander keine Probleme.

Stimmt das Gerücht, dass Radiohead voriges Jahr mit Jack White im Studio waren?

Jack lud uns nach Nashville ein, um uns sein Studio zu zeigen. Wir sagten: „Wunderbar, gern, aber warum bringen wir nicht gleich die Instrumente mit und nehmen etwas auf?“ Wir hatten zwei neue Lieder und brannten darauf, sie festzuhalten. Zwei tolle Tage waren das. Ach, Blödsinn, nur einer! Nashville, eine verrückte Stadt. Obwohl wir diesmal nur das Haus von Jack und das Hotel sahen.

Wann können wir die Aufnahmen hören?

Sie sitzen immer noch hier auf meinem Laptop. Noch etwas, das ich endlich abschließen sollte. Das, und all das andere Zeug Aargh!

Die letzten beiden Radiohead-Alben wurden vor allem als Downloads über die Band-Homepage vertrieben. Welches Fazit ziehst du nach diesem Experiment?

Die Methode erschien uns sinnvoll. Und weil man doch gern noch einen physischen Tonträger zur Auswahl hat, haben wir diesen über das Indie-Label XL herausgegeben. Es ist gut, sich mit Partnern austauschen zu können, deren Arbeit man bewundert.

Ich finde das ein großartiges Konzept, zum Download die quasi bibliophilen Ausgaben mit all diesen zusätzlichen Aufnahmen, Broschüren und Fotos anzubieten, die nicht digital kopiert werden können. Ein Schnippchen, das man da dem Download-Zeitalter schlägt.

Schon in unserer EMI-Zeit freuten wir uns immer darauf, Spezialausgaben zu entwerfen. Stanley (Donwood alias Dan Rickwood, Hof-Designer von Radiohead – Anm.) und ich haben das immer genossen. Die Zeitung für THE KING OF LIMBS zusammenzustellen machte riesig Spaß. Stanley baut auch jedes Jahr eine Zeitung fürs Glastonbury-Festival. Nächstes Mal will er die Lettern wie früher mit Blei gießen.

Was liest du gerade?

„Wolf Solent“ von John Cowper Powys. Einer von diesen Fällen, wo einem ein Freund ein Buch in die Hand drückt und sagt, dass du das lesen musst. Übrigens sind Stanley und ich vor Kurzem gefragt worden, ob wir die Umschläge für eine Serie von J.-G.-Ballard-Büchern gestalten wollten. Wäre großartig, wenn das klappen würde. Seine Romane „Super-Cannes“ und „Cocaine Nights“ übten während der IN RAINBOWS-Zeit großen Einfluss auf uns aus.

Beides sind höchst unterhaltsame Romane mit politischer Botschaft – eine Kombination, die dir am Herzen liegt. Auch bei AMOK?

Während der Arbeit am Album verbrachten wir viel Zeit im Haus von Joey. Stanley war auch da und machte sich an den Linolschnitten für den Umschlag des Albums zu schaffen, eine Art bildliche Fortsetzung vom Umschlag von THE ERASER. Darin werden all diese politischen Fragen widergespiegelt. Ich habe das Gefühl, dass wir alle tief in einem Traum stecken, wobei Traum nicht das richtige Wort ist, aber es fällt mir kein besseres ein. Wir finden jedenfalls keinen Weg, aus diesem Traum auszubrechen. Wir sind in einen endlosen Sog hineingeraten. Das kapitalistische System ist gescheitert, aber wir glauben noch immer daran, dass es uns retten wird. Komplettes Armageddon und rundum feiern alle: „Wahey! Party!“ Am besten steigt man wohl auf den nächsten Berg hinauf und bleibt dort. (lacht ausgiebig)

Platte des Monats ME 3/13

Fragen Sie Doktor Yorke

Die Soundlandschaften, die AMOK von Atoms For Peace durchziehen, haben ihre Wurzeln im modernen UK Bass. Aber was können heutige Elektronikmusiker wiederum daraus lernen? Wir geben 14 der innovationsfreudigsten Künstler der nachwachsenden Generation die Gelegenheit, Antworten auf ihre brennenden Fragen zu finden. Dozent des Seminars: Thom Yorke.

PEARSON SOUND

Ist beim Auflegen die Interaktion mit dem Auditorium intensiver als bei Großkonzerten?

THOM YORKE: Ich habe ja mit dem Auflegen angefangen, um alles etwas zurückzufahren. Aber auch, weil ich ausgehen wollte. Ständig treten dann Leute an mich heran und erzählen mir irgendwelchen Mist. Wenn ich hinter den Plattentellern stehe, können sie das nicht. Es ist ein Weg, unter Menschen zu sein, ohne mit ihnen reden zu müssen. Es ist auch ein Weg, Musik zu testen. Wenn etwas nicht funktioniert, kannst du sofort reagieren und etwas verändern. Das finde ich komplett faszinierend.

CARIBOU

Sobald ich still sitze, fühle ich mich schrecklich. Wie gut bist du darin, nichts zu tun?

YORKE: Ich bin dann nicht zu gebrauchen. Nach der Heimkehr von unserer letzten Tour genehmigte ich mir eine studiofreie Woche und das war’s. Das höchste der Gefühle. Ich schummelte ständig und arbeitete heimlich am Laptop. Ich bin süchtig danach, etwas Wichtiges zu tun. Ich bin pausenlos auf der Suche nach einem Sound oder einem Takt, der mich voranbringt und über den ich sagen kann: „Yeah! Das ist es!“ Da hab ich jetzt endlich all diese kleinen Kästchen für mein Studio und ahne noch nicht mal zur Hälfte, was ich damit alles anstellen könnte, freue mich aber schon darauf, wieder am Klavier zu sitzen und zu dichten. Ich beginne gerade, das Interesse an Drum-Maschinen zu verlieren. Was noch ziemlich ungewohnt für mich ist.

THE GASLAMP KILLER

Welcher Musiker hat dich bisher am meisten beeinflusst?

YORKE: Ich würde immer noch sagen: Das war der gute, alte Richard D. James! Er wirft auf mich einen gewaltigen Schatten. Als ich an der Uni anfing aufzulegen, war es das Aufregendste, wenn eine neue Warp-Platte herauskam. Die erweckte jedes Soundsystem zum Leben. Aphex eröffnete mir eine Welt, in der meine blöde E-Gitarre nicht vorkam. Bei Warp war man auf einem eigenen Planeten. Ich hasste damals die ganze Musik um Radiohead herum. Die war vollkommen bedeutungslos. Ich hasste Britpop und alles, was in Amerika passierte. Aber von Aphex fand ich einfach alles voll schön, und dann war er auch noch einer in meinem Alter!

ACTRESS

Gehst du noch dreimal wöchentlich ins Fitnessstudio wie bei OK COMPUTER?

YORKE: Ich mache täglich mindestens eine Stunde Yoga. Für gewöhnlich anderthalb. Ich laufe auch und treibe alles Mögliche, fast jeden Tag. Ist mehr ein mentales Ding. Beim Touren beugt es dem Adrenalin-Schock vor. Es ist auch gut gegen Depressionen, es bewahrt mich vor dem Absturz. Meditation, Yoga und Training helfen mir mehr als alles andere.

GATEKEEPER

Was ist dein Sternzeichen, und welche Auswirkung hat es auf deine Art, Musik zu machen?

YORKE: Verdammte Hippies! (lacht) Okay. Ich bin Waage. Nehmen wir an, das beeinflusse in irgendeiner Weise meine Musik: Die Waage ist sich der Dinge um sie herum sehr bewusst. Sie weiß, was richtig ist. Einerseits wäre das für mich ideal, andererseits wäre es alles andere als ideal. Weil ich sehr schlecht darin bin, Entscheidungen zu treffen. Wenn es eine wichtige Entscheidung ist, kein Problem. Aber es sind die Kleinigkeiten, die mir Kummer bereiten.

FATIMA AL QADIRI

Ist AMOK ein Kompromiss, ein Dance-Album mit Gesang?

YORKE: Oh Gott, nein. Es hat sich einfach richtig angefühlt. So war das. Wären die Stücke nur instrumental, würde ihnen etwas fehlen. Instrumentales muss ich mir hart erarbeiten. Vielleicht weil es nicht meinen anerkannten Fertigkeiten und meiner Perspektive entspricht. Keine Ahnung. Aber ganz ehrlich: Mein Laptop ist voll davon. Ich finde es auch schwierig, Remixes anzufertigen. Ich frage mich tatsächlich, ob auch das mit meiner Schwäche für Gesang zu tun hat. Kann sein, dass ich letztlich doch bloß ein Gitarrenschrammler bin, der für ein Stück nicht mehr als drei simple Ideen braucht. Ich hoffe, nicht.

LAPALUX

Ist es für dich inspirierend oder hinderlich, beim Musikmachen andere Musik zu hören?

YORKE: Du solltest dabei Musik hören, die möglichst weit von dem entfernt ist, womit du selbst gerade befasst bist. Musik, die dich geradezu reinigt. Als wir mit OK COMPUTER beschäftigt waren, hörten wir ein extremes Stück von Coltrane. Eines, das angeblich Syd Barrett auf LSD in den Irrsinn getrieben hat. Wirklich heftig. 20 Minuten frei flottierender Jazz, es war wie duschen. Da waren so viele Noten. Nachdem ich das gehört hatte, fühlte ich mich wie durchgeprügelt und war zu allem bereit. Danach klang alles wundervoll. (lacht)

PANGAEA

Hast du dich je als Teil einer Bewegung gefühlt?

YORKE: Nun, ich habe definitiv nie zum Britpop gehört. Ich denke, der Umstand, dass die Szene aus der du kommst, einflussreicher ist als irgendeine Bewegung, ist für jeden eigenständigen Künstler gut. Es ist großartig, wenn es einen gesunden Wettbewerb zwischen Künstlern gibt, die alle zusammen abhängen. Als wir als Band begannen, hatte dafür niemand etwas übrig. Es gab nur Kämpfe und Bösartigkeiten. Es war grauenvoll. Die Dance-Kultur kam mir nie so widerlich vor. Ich bin mir sicher: All den Mist gibt es dort auch. Aber glaub mir, ich hatte damit nie etwas zu tun. Musikern tut es gut, wenn sie zusammenhalten.

MACHINE-DRUM

Es ist cool, dass du keine Noten lesen kannst. Ich kann das auch nicht. Du hast mich zum Musizieren ermuntert. Findest du es wichtig, das Gehör zu schulen, wenn man seine musikalischen Fähigkeiten entwickelt?

YORKE: Angeblich kannst du jetzt auch an der Julliard’s Musikschule in New York aufgenommen werden, ohne Noten lesen zu können. Du wirst es dort lernen müssen, aber es ist keine Voraussetzung mehr. Ohne Noten würde es so viel großartige Musik nicht geben. Aber heutzutage ist es einfach nicht mehr notwendig. Wenn wir mit Orchestern arbeiten, sind die sogar rhythmisch mittlerweile ziemlich flexibel. Das Rhythmische ist klassisch trainierten Musikern ja eher fremd, der Swing und so. Aber wenn du mit Jazzmusikern oder jemandem wie Flea zusammenarbeitest, dann haben die das. Sie alle können inzwischen Musik lesen. Aber sie haben als Musiker nicht mit Noten angefangen, sondern mit den Ohren. Für mich ist es unnötig, Musik aufzuschreiben. Allerdings sind deine Arbeiten sehr verschlungen, dicht und kompliziert. Daher solltest du den Laptop durchaus für Partituren benutzen.

FALTYDL

Wie gehst du mit Schreibblockaden um?

YORKE: Mach es nicht so kompliziert. Komm runter. Halt es simpel. Tu es einfach, eins nach dem anderen. Sobald ich eine Schreibblockade habe, zwinge ich mich, überhaupt nichts zu tun. Zwinge dich aber nicht zu sehr! Die Dinge laufen einfach weiter, aber du verlierst die Sorge, dass am Ende nichts Gescheites herauskommt. Wenn du dich dann wieder ranmachst, hat das etwas Befreiendes. Du spürst wieder das Gefühl dafür, auserwählt zu sein, um etwas zu erschaffen.

Erst wenn du dieses Gefühl einmal verloren hattest, stellst du fest, wie glücklich du dich schätzen kannst – und wie einfach manchmal alles ist. Meine Angetraute sagt dann zu mir: „Konzentriere deine Energie für einen Augenblick auf etwas Unwichtiges.“ Das funktioniert wirklich! Und manchmal, wenn du glaubst, du hättest eine Schreibblockade gehabt, war es möglicherweise das Beste, was dir je gelungen ist. Aber du merkst es nicht, weil dein Gehirn gerade nicht an seinem Platz ist.

RYAT

Wer ist für dich die beste Künstlerin aller Zeiten?

YORKE: Ich habe zwei: Es sind immer noch Björk und Polly (PJ Harvey). Das ist meine Generation. Ich bin noch immer besessen von Pollys WHITE CHALK. Ihre Platten haben mein Leben verändert. Ich kann nicht erklären, wie und warum. Sie schwingen auf meinem Gefühlslevel.

FLYING LOTUS

Ich war ja immer schon neugierig: Wer oder was hat den „Pyramid Song“ inspiriert?

YORKE: Du bist aber hartnäckig! Wir waren in Kopenhagen und hatten gerade wieder mit den Aufnahmen angefangen, nach OK COMPUTER. Wir waren alle daneben, insbesondere ich. Und dann war da diese Ausstellung. Mit einer ägyptischen Abteilung, in der es um religiöse Vorstellungen ging und lauter so Zeugs. Sie hatten diese Figuren in diesen winzigen Booten, und wir hatten eine wirklich beschissene Session hinter uns. Aber am Morgen danach setzten wir uns hin, spielten ein paar Akkorde, und ich sagte: „Das ist aber schön.“ Ich notierte mir alles und schrieb einen Text. Dann ging alles sehr schnell. Als wir das Schlagzeug aufnahmen, klang es plötzlich irgendwie nach Charlie Mingus. Das sind diese verrückten Sachen, die passieren, wenn du eine Platte aufnimmst. Für uns war das dann der Durchbruch in einer beschissenen Zeit. Aber ich hatte nie erwartet, dass der Song so populär werden würde. Schon als wir anfingen, ihn live zu spielen, flippten die Leute aus, und wir so: „Hä?“

HOLLY HERNDON

Was kann man tun, um den Laptop in ein Instrument zu verwandeln, das die Intimität einer Aufnahme auch im Konzert rüberbringt?

YORKE: Das wüsste ich auch gern. Atoms For Peace gibt es auch deshalb, weil ich nicht glücklich damit war, auf der Bühne allein mit ein paar Maschinen zu singen. Damit habe ich mich immer schwergetan. Aber was soll man machen? Es gibt all diese visuellen Interfaces, für mich wirkt das alles eher wie Star Trek. Ich war immer fasziniert von dem Gedanken, dass ein Laptop etwas Intimes ist. Aber er ist auch sehr komplex, weil du deine Ideen mit niemandem teilst. Sie sind alle da drin. Alles fließt aus dir heraus, direkt in deine Maschine. Aber sobald du es dann echten Musikern zum Spielen überlässt, kriegt es eine neue Form, und der Kreis schließt sich.

ARCA

Wer ist dein Lieblingsrapper?

YORKE: DOOM. Letztlich ist das für mich aber kein Rappen, sondern Dichtung. Die Art, wie er seine Verse frei formt und alles zusammenrührt – ich glaube, niemand außer ihm macht das so. Ich habe sonst nicht viel übrig für unnötig viele Beats, aber DOOM ist wirklich unglaublich. „Guv’nor“ war meine Single 2012. Einfach genial, das Stück.