The White Stripes: London, Alexandra Palace


Elephant wurde nicht nur vom ME zur Platte des Jahres 2003 gekührt. Auch in Großbritannien führte die hochexplosive Blues-Konserve die Jahreslisten der Musikmagazine an. Solcher Starruhm macht gemeinhin träge. Oder?

Im neuen Film von Tim Burton, „Big Fish“, blickt Evan Mc-Gregor auf ein surreal idyllisches Ami-Nest hinunter, wo gerade alle „Männer des Hauses“ synchron den Rasen mähen. Jedem männlichen Betrachter, der in der Provinz aufgewachsen ist, steigen bei dem Anblick unweigerlich die giftigen Dämpfe altbekannter Kastrationsängste hoch (die geneigten Damen mögen sich die passende Angst hier selber aussuchen). Ja, genau so ist es da draußen! Mit der kleinen Busby-Berkeley-Inszenierung hat Burton das bösartige Innere der „Idylle“ brutal nach außen gekehrt. Den gleichen Spaß leisten sich die White Stripes. Am Tag nach ihrem Konzert sehen Nachbarn alle eine Spur verrückter aus. Ehrlich.

Das viele Geld ist Jack und Meg noch nicht in den Kopf gestiegen, nur die Hallen werden größer. Das Bühnendekor ist minimal wie eh und je. Links das Schlagzeug, in der Mitte das Mikrophon, rechts die vorsynthflutliche Orgel und alles schön eingerahmt mit vier Ständern mit je einem halbem Dutzend Lampen. Mal leuchten sie rot, mal leuchten sie weifi. Dahinter ein roter Vorhang und – das sehen nur die, die zuvorderst stehen – unter den Füßen ein roter Teppich. Selbstverständlich sind die Band-Klamotten perfekt darauf abgestimmt: rote Shirts, schwarze Hosen mit einem rotem Streifen auf der Seite. Simpel. Stilvoll. Klasse. Loslegen tun sie mit „Black Math“, der beschwingten RockabiUynummervon elephant. Jack steckt hier schon mal alle Ecken des Gebiets ab, das er mit seiner Stimme heute beackern will. Es erstreckt sich von Jeffrey Lee „Gun Club“ Pierce bis Gordon „Violent Femmes“ Gano, von Captain Beefheart über Arthur „Fire“ Brown bis hin zu Screamin‘ Jay Hawkins. Die gute Meg, deren Schlagzeugtechnik rein visuell an den Bewegungsablauf von Rollstuhlsprintern bei der Behindertenolympiade erinnert, kommt schon jetzt ganz schön ins Rotieren. Aber noch schimmert das Gefühl durch, dasswires hier mit einer „Performance“ zu tun haben – einer bis ins letzte Detail hinein ausgeklügelten Theaterinszenierung. Der Eindruck bleibt nicht lange bestehen. Bereits beim nächsten Stück, „Dead Leaves And The Dirty Ground“, ist Jacks Geschrei, Geflüster und Gewieher der organische Urschrei eines Mannes geworden, der sich und die Welt, in der die Lipbe so schwer geworden ist, nur allzu gut versteht. Danach folgt eine gute Stunde Emotionsdrama pur. Derweil sich Meg abrackert, springt Jack mit seiner Gitarre von Krise zu Krise und von Euphorie zu Euphorie, als hätte es die Schwerkraft nie gegeben. Ein großartiges „Ball And Biscuit“ landet plötzlich bei Robert Johnson und „Cool Drink Of Water Blues“. „Hotel Yorba‘ wirkt wie ein Stromschlag. „I Just Don’t Know What To Do With Myself‘ ist ein Instant-Klassiker. Je länger sie spielen, desto intensiver wirkt die Magie, die entsteht aus dem Zusammenspiel von Jack Whites atemberaubend virtuoser Gitarre und Meg Whites neandertalhaftem Trommeln. Dieser Gegensatz erst kreiert den Freiraum, in welchem Jack „fliegen“ kann. Wäre Meg nur ein kleines bisschen „besser“, müsste sich Jacks Gitarre auch um ihr Ego kümmern, und dann wären seine Flügel gestutzt. Das Programm setzt sich zu gleichen Teilen aus Liedern von white blood cells und elephant zusammen sowie aus Folk-Evergreens, die einem irgendwie bekannt vorkommen, ohne dass man den Titeln nennen könnte. Im Gegensatz zum Vorabend in Liverpool gibt’s aber weder „Jolene“ noch „Boll Weavel“. Zwischen den Songs sagt Jack praktisch nichts – außer dass es schön sei für ihn und seine „Schwester“, sich von London in eine liebevolle Umarmung schließen zu lassen. Dann gibt’s als Zugabe noch ein gewaltiges „Seven Nation Army“. Absolut brillant,