The Smiths: Wie die wichtigste Band der 80er zerbrach
Vor 30 Jahren spielten The Smiths ihr letztes offizielles Konzert – was zu diesem Zeitpunkt noch niemand wusste. Die endgültige Demontage der Band, die die Indie-Szene der 80er-Jahre wie kaum eine andere Band prägte, kam erst Monate später. Szenen einer Trennung.
So banal es klingt, es beginnt und endet mit einem Türklopfen. Battersea, April 1987. Auf der Südseite der Themse wollen die Smiths ein Video für ihre nächste Single drehen. „Sheila Take A Bow“ heißt der Song, der ein paar Wochen später Platz zehn der britischen Single-Charts erreichen wird. Die höchste Platzierung für die Band seit ihrer Gründung. Auf der anderen Seite des Atlantiks steht MTV kurz vor seinem fünften Geburtstag, und das dazugehörige Video soll vor allem das Profil der Band aus Manchester auf dem US-Markt schärfen.
Profil schärfen, amerikanischer Absatzmarkt – Vokabeln aus dem kleinen Marketinghandbuch, die dem belesenen, wortgewandten Morrissey offensichtlich nicht passen an diesem Apriltag. Die ganze Band ist pünktlich am vereinbarten Drehort eingetroffen, nur der Sänger fehlt. Bassist Andy Rourke, Drummer Mike Joyce, Gitarrist Johnny Marr und die Filmcrew warten. Und warten, und warten.
Eine kleine Delegation überquert den Fluss und fährt zu Morrisseys Wohnung. Überspitzt gesagt sind diese vier Kilometer Luftlinie von Battersea nach Knightsbridge die letzten Momente, in denen The Smiths noch als intakte Band existieren.
Johnny Marr ging mit ihr zu Morrisseys Tür, erinnert sich die Video-Regisseurin Tamra Davis in Tony Fletchers Bandbiografie „A Light That Never Goes Out“. Marrs Faust schnellt gegen das Holz. Jeder weitere Türklopfer des Gitarristen ist wie das Einhämmern eines Sargnargels. „Ich weiß noch ganz genau“, erzählt Davis in dem Buch, „ich hatte keine Ahnung, ob Morrissey hinter der Tür stand und uns auslachte, so wie wir da standen und versuchten, ihn zu überzeugen, doch noch rauszukommen. Oder ob er da stand und weinte.“
Es ist nicht das erste Mal, dass es Ärger gibt. Bei den Smiths waren die Business-Arrangements schon immer zweitrangig gegenüber den Song-Arrangements. Was am Ende zur Trennung der Band führen wird. Die Videodreh-Anekdote ist lediglich das Ende einer Verkettung von schlechten Deals, Selbstzerfleischung, Nicht-Auftritten und persönlichen Streitereien. Einer hat ganz klar: genug. Morrissey regt sich nicht. Also macht Marr den entscheidenden Schritt. „Johnny guckte uns an“, erzählt Tamra Davis, „und sagte nur: ,Das war’s, mir reicht’s. Die Band ist durch …‘“
Um zu verstehen, was da in jenem Moment in die Brüche geht, muss man erst einmal ein bisschen in der Zeit zurückgehen und herauszoomen aus dem Kosmos der Band.
Die damals größten Industrienationen USA und Japan erholten sich relativ schnell von der weltweiten Rezession Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre. Im Vereinigten Königreich allerdings hatte sich die Arbeitslosigkeit seit den 60er-Jahren hochgeschraubt. Im sogenannten „Winter of Discontent“ 1978/79, als mehrere Einrichtungen im öffentlichen Sektor die Arbeit für Streiks niederlegten, lag die Inflationsrate auf der Insel bei rund zehn Prozent, die Arbeitslosenzahlen hatten ein neues Rekordniveau erreicht.
Im Mai 1979 gewannen die Conservatives die Wahlen. Mit Margaret Thatcher zog nicht nur die erste Premierministerin in 10 Downing Street ein, sondern auch eine Reihe von neoliberalen Politikern. Deren ökonomische Maßnahmen für die schwindende Wirtschaft sollten die Inflationsrate senken und das Wachstum ankurbeln. Was kurzfristig gelang, aber Großbritanniens Arbeitslosenquote weiter in die Höhe schnellen ließ.
In diese triste, von Kürzungen und Massenentlassungen geprägte Zeit Anfang der 80er fielen die Smiths so schnell wie ein Apfel vom Baum. Innerhalb von etwas mehr als einem Jahr nach der Gründung trat die Band im November 1983 zum ersten Mal bei „Top Of The Pops“ auf, der damals prestigeträchtigsten Musiksendung der BBC.
Das, was Morrissey da beschrieb in den Thatcher-Jahren, fing das elende Schicksal des urbanen Niedergangs in Großbritannien ein
The Clash hatten zuvor abgelehnt, in der Show zu spielen. Kurz stand die Frage im Raum, ob es nicht vielleicht uncool sei, dort die zweite Single „This Charming Man“ vorzustellen. Aber 1983 galten plötzlich andere Regeln. Punk hatte sich so lange gehalten, wie die Songs kurz waren. Nach dem verfrühten Tod wurde das Genre abgelöst von New Wave und Postpunk, Bands wie The Cure, Gang of Four, Bauhaus, und Joy Division gründeten sich. In Manchester und London bestimmten die beiden Plattenfirmen Factory und Rough Trade die neuflorierende Indie-Szene. Der Sound der Smiths, Johnny Marrs klingelnde Gitarren zu Morrisseys selbstironisch-mitleidigen Texten, wirkte wie das Aufstoßen eines Fensters in einem muffigen Raum.
Das, was Morrissey da beschrieb in den politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich und künstlerisch bleiernen Thatcher-Jahren, fing das elende Schicksal des urbanen Niedergangs in Großbritannien ein. Das post-industrielle Zeitalter auf der Insel ist nicht der zupackende Sound eines Hammers, der auf Stahl niederfährt. Im Gegenteil: Fabriken werden geschlossen, Zechen abgebaut. Die Industriebrachen dienen als kleine Erinnerungsstützen dafür, dass die Umstrukturierung da draußen menschliches Leid verursacht.
So sehr, dass selbst der Klassenkampf nicht vor der Umkehrung der Verhältnisse verschont bleibt, als Mitte der 80er sich plötzlich Arbeiterklasse (streikende Bergarbeiter) und Arbeiterklasse (Polizei) in ausartenden, gewalttätigen Demonstrationen gegenüberstehen. Morrisseys Skizzen aus persönlicher Scham und unverschuldetem Elend treffen in dieser depressiven Stimmung einen Nerv bei vielen verängstigten Jugendlichen. Vor allem junge Männer reagieren beinahe hysterisch auf die Songs der Smiths, deren Texte beschreiben, was sonst niemand für sie vorher in Worte gepackt hat. Ähnlich wie die Beatlemania 20 Jahre vorher etwas in den jungen Mädchen entfesselt hat, spiegelt sich in den 80er-Jahren in der Reaktion auf die Smiths ein Freiheitsdrang der Jugend wider, bei der das einsame Herz gehörig klopft.
Die Smiths sind eine Gruppe, die die Bildhaftigkeit einer konservativen Rockband mit der Haltung des Punk und der Schwülstigkeit des Glam vermischt
Wie durch einen Sonnenaufgang der Offenbarung aufgeweckt, rücken diese Songs die sensiblen Smiths-Fans plötzlich aus dem grauen Alltag in ein Licht aus intellektueller Aufladung, literarischen Zitaten und kulturellen Referenzen. Morrissey, der sonst so schüchterne Oscar- Wilde-Fanboy, steht also im November 1983 auf der „Top Of The Pops“-Bühne, schwingt einen Strauß Gladiolen über seiner hochfrisierten Haartolle und darf plötzlich seinen Weltschmerz an ein Millionenpublikum vor den Bildschirmen hinausjodeln. Die Blumendekoration um die Indie-Band auf der Bühne wirkt ikonoklastisch, besonders gemessen an der durchgestylten Popästhetik eines Paul Young, der vor der Band auftritt. „Ich wusste, wie gewaltig die visuelle Komponente bei ‚Top Of The Pops‘ ist,“ sagte Johnny Marr Jahre später in einem Interview mit dem „Guardian“, „ich habe als Kind T.Rex dort spielen sehen. Die Blumen machten die Bühne rutschig, sonderlich praktisch war es nicht, aber sie waren unglaublich sinnbildlich für das, was wir verkörperten.“
Morrissey, mit seinem übergroßen, weit ausgeschnittenen Hemd, ist der glitzernde Fixstern. Marr und Rourke rechts und links neben ihm in den schwarzen Sweatshirts und schwarzen Jeans, sehen aus wie eine musizierende Straßengang. Cool, selbstbewusst, breitbeinig, ohne machohaft zu sein. Trotz des ultraklassischen Line-ups (Gitarre, Bass, Schlagzeug) haben die vier etwas eigenartig Artrockhaftes an sich. Die Smiths sind eine Gruppe, die die Bildhaftigkeit einer konservativen Rockband mit der Haltung des Punk und der Schwülstigkeit des Glam vermischt.
Paul Young singt sein Cover von „Love Of The Common People“, eine alte Folkballade der frühen 70er über Armut und „free food tickets“. Wenn seine tanzbare Synthesizerversion nicht poliert klingt, dann zumindest wie alter Wein in alten Schläuchen. In Großbritannien werden die Schlangen vor den Arbeitsämtern immer länger, und Paul Young reibt es den Menschen noch einmal unter die Nase, untermalt mit gefälligem Mainstreamsound. Morrissey dagegen erzählt in „This Charming Man“ von einem kaum codierten Flirt zweier Männer, die sich anziehend finden, aber nicht zusammenfinden, weil der Ich-Erzähler sein ängstliches Zögern nicht überwinden kann. Lieber schiebt er vor, nichts zum Anziehen zu haben: „I would go out tonight, but I haven’t got a stitch to wear.“
„Nach Paul Young und einem Tina-Turner-Video hatte Morrisseys Text etwas Aufrüttelndes. Für eine Radiosession mit John Peel brauchten wir noch einen Song. Ich bin morgens aufgestanden und habe das Lied geschrieben“, so Marr über die Entstehung von „This Charming Man“. „Mir schwebte ein Song vor, der nicht nach klassischem Rock klang, aber meiner Persönlichkeit entsprach. Ich stand damals auf Phil Spector und die Girl Groups der 60er, aber wir wollten eine moderne Version davon, was uns von den ganzen Bands unterschied, die zu der Zeit alle Keyboards benutzten.“
„Normalerweise nahmen wir zuerst eine Demoversion im Studio auf, Morrissey ging dann mit einem Kassettenrekorder in ein anderes Zimmer oder nach Hause, um an den Texten zu arbeiten“, erzählte Bassist Andy Rourke einmal dem „Daily Telegraph“ in einem Interview. „In der Zwischenzeit spielten wir eine fertige Version des Songs ein, Morrissey kam wieder mit dem Text. Wir hatten keinen blassen Schimmer, worüber Morrissey singen würde. Es war jedes Mal aufregend, zu sehen, was er sich dieses Mal ausgedacht hatte.“
Dass seine Texte zu ambivalent sind, fand Morrissey nicht, wie er in einem Interview mit dem Magazin „Sounds“ im November 1983 schilderte: „Die Verse, die ich schreibe, sind nur in dem Maße verschleiert, als dass sie sich nicht an irgendwelche Lyrik-Regeln halten, weshalb ich auch niemals ‚oh baby, baby yeah‘ singen werde. Das Einzige, was mir wichtig ist, ist die Tatsache, dass die Zeilen und Wörter, die ich gebrauche, in der Art unerhört sind.“