The Smiths: The World will listen


1982, ein schwarzes Pop-Jahr: Die Hypes des Tages hießen Bucks Fizz, Shakin' Stevens und Musical Youth. Dann traten The Smiths auf den Plan, und plötzlich war alles ganz anders.

Am 14. Oktober 1982 versammelten sich einige vom Schicksal begnadete Zeitgenossen im Hotel Ritz in Manchester – zu einer Modenschau, beschallt von der Gruppe Blue Rondo a la Turk. Im Vorprogramm hatte eine neue Band ihren ersten Auftritt, der vereinbart worden war, als es noch nicht mal eine Rhythmusgruppe gab,sondern nur das Duo von Sänger Steven Patrick Morrissey und Gitarrist Johnny Maher.

Die beiden kannten sich erst ein paar Wochen. Maher hatte nach erfolglosen Versuchen mit verschiedenen Bands den Jeanshändler Joe Moss kennengelernt, einen Blues-Enthusiasten. Er spielte Johnny, der nebenan bei „X Clothes“ jobbte, in den Mittagspausen alte Blues-Platten vor, brachte ihm Songs seines Idols Little Walter bei und unterstützte den Teenager in der Entwicklung seiner musikalischen Vorstellungen. Ein Video-Interview mit den Sixties-Songwritern Mike Stoller und Jerry Leiber brachte Johnny auf die Idee, keine feste Band, sondern zuerst einen Songwriting-Partner zu suchen. Vier Jahre zuvor hatte ihm ein Freund einen Text von einem gewissen Steven Morrissey gezeigt, ihn aber gewarnt, Morrissey sei ein seltsamer Mensch, dem man sich mit Vorsicht nähern müsse. Eines Vormittags stand ein vor Nervosität zitternder Johnny vor Morrisseys Tür in der Kings Road 384 und fürchtete, seine Haartolle und Fifties-Klamotten könnten dem Besuchten so missfallen, daß alles zu Ende wäre, ehe es begonnen hatte. Aber Morrissey erwies sich als ebenbürtig: James Dean und Elvis Presley zierten die Wand seines Schlafzimmers, und Johnnys einleitende Bemerkung („Leiber und Stoller haben sich genauso kennengelernt!“) entrang ihm ein Lächeln. Das Gespräch verlief einseitig: Johnny redete auf den amüsiert schweigenden Steven ein wie ein Wasserfall. Schließlich stellte Morrissey die entscheidende Frage: „Auf welche Musik stehst du?“ und da Maher intuitiv darauf verzichtete, Wörter wie „Funk“ und „Rory Gallagher“ zu erwähnen, war der Sänger überzeugt und von Johnnys enzyklopädischer Kenntnis der Popgeschichte so begeistert, dass er in die Partnerschaft einwilligte, ohne ihn einen Ton spielen gehört zu haben. Beide waren Kinder irischer Einwanderer, verehrten Patti Smith, T. Rex und The Fall, zudem hieß Johnnys Freundin Angie – wie Morrisseys vergangene große Liebe. Morrisseys Ungeduld hatte Gründe: Seine Pop-Besessenheit und Liebe zu obskuren Figuren wie Cilla Black, Twinkle und den New York Dolls waren so maßlos wie sein Verlangen, selbst im Rampenlicht zu stehen und die Ausgeburten eines wertlosen Mainstreams hinwegzufegen. 1959 geboren und vier Jahre älter als Maher, hatte er die Punk-Revolte als entscheidenden Einschnitt in seine Jugend erlebt und in dem verzweifelten Bemühen um Anschluss das Angebot angenommen, den notorischen Wahnsinnigen Ed Banger bei den Nosebleeds zu ersetzen – ein Experiment, das nach zwei Auftritten ebenso schnell endete wie der folgende Versuch mit Slaughter & The Dogs. Statt ein Star zu werden, saß Steven in seinem Zimmer und versank in Depressionen.

Kaum ein paar Tage nach ihrer ersten Begegnung hatten die beiden einen kleinen Haufen von Songs fertig, darunter die Horror-Ballade „Suffer Little Children“ über die „Moor-Mörder“ Myra Hindley und Ian Brady, deren Taten Morrissey schon während seiner Kindheit (und weiterhin) beschäftigten, weil er sich nicht zu Unrecht als potentielles Opfer fühlte.

Während zum ersten Mal seit 450 Jahren ein Papst England besuchte und die britische Presse nach einer kurzen Kriegs-Farce in Falkland-Heroismus schwelgte, nahmen Morrissey und Maher in einem Achtspur-Studio ihre ersten Demo-Songs auf: „Suffer Little Children“ und „The Hand That Rocks The Cradle“. Das fertige Band überzeugte nicht nur Maher von dem außergewöhnlichen Talent seines neuen Partners; auch Joe Moss und ehemalige Mitmusiker, denen er die Songs vorspielte, waren sprachlos. Es war ein Leichtes, den Veranstaltern der Ritz-Modenschau einen Support-Gig abzuringen; allerdings fehlte ein entscheidender Faktor: die Rhythmusgruppe. Studio-Trommler Simon Wolstencroft hatte mehr Lust auf Funk; Morrisseys Schulfreund Gary Farrell half bei der Auswahl des Bandnamens, nachdem ihm Morrissey einen Zettel mit drei Vorschlägen gezeigt hatte („Smithdom“, „Smiths“ und „Smiths Family“), war aber auch nicht zum Mitmachen zu bewegen. Endlich gab ein Freund Maher den Tip, es mit dem 19jährigen Mike Joyce von der Hardcore-Punkband Victim zu versuchen. Joyce war nach einer Session zum Einstieg bereit, nicht nur weil sein Idol, Buzzcocks-Trommler John Maher, denselben Namen trug wie Johnny. Als Bassist wurde Toningenieur Dale rekrutiert.

Der Auftritt im Ritz war eine problematische Prozedur. Schon beim ersten von drei Songs schlug Joyce sein Snare-Fell ein und musste die Trommel umdrehen, die nun kaum mehr zu hören war, woraufhin der übernervöse Johnny, um das Missgeschick zu übertönen, auf seine Gitarre eindrosch, als wollte er sie ebenfalls in Schrott verwandeln. Morrissey hatte seinen Kumpel John Maker, ein veritables James-Dean-Double, als Tänzer engagiert, was nicht nur Joe Moss befremdete: „Ich war verblüfft, wie gut die Band war“, erzählte er später, „hatte aber keine Ahnung, wofür Maker gut sein sollte.“

Der Tänzer blieb einstweilen, Johnny (der nun den Künstlernamen Marr annahm) überredete Moss, die Band zu managen, und holte seinen alten Kumpel Andy Rourke am Bass ins Boot. Wie perfekt die personelle Mischung funktionierte, zeigte sich bei Demoaufnahmen, die die EMI finanzierte. Da die Firma aber kein weiteres Interesse zeigte, weil die Band viel zu weit vom gerade angesagten Leichtgewicht-Synth-Pop entfernt war, blieben The Smiths vorläufig noch ohne Vertrag und mussten sich live durchschlagen. Der harte Weg erwies sich als glückliche Fügung: Als das neue Line-up am 6. Januar 1983 im „Manhattan“ debütierte und am 4. Februar im In-Club „Hacienda“ die Band 52nd Street Supporten durfte, war eine Schar von Insidern und Freunden von den außergewöhnlichen Songs, der Brillanz der Band und Morrisseys Idee, in Anlehnung an sein Vorbild Oscar Wilde Blumen ans Publikum zu verteilen, so hingerissen, dass sich der NME genötigt sah, eine erste Konzertkritik zu drucken, in der Jim Shelley prophezeite: „The Smiths werden sehr bald die höchsten Höhen erreichen.“

Da kein Label anbeißen wollte, schoss Joe Moss 213 Pfund für die Debütsingle „Hand In Glove“ vor. Schließlich marschierten Marr und Rourke nach ihrem ersten Londoner Auftritt am 23. März ins Büro des Rough-Trade-Gründers Geoff Travis und drückten ihm ein Tape in die Hand: „Hör dir das an – wir sind nicht nur irgend so eine Band!“ Travis ließ sich überzeugen; im Mai erschien die Single. Sie schaffte es in die Independent-Charts und fand in Radio-DJ John Peel einen Fan, der die Band zu einer seiner berühmten Sessions einlud, die am 31. Mai ausgestrahlt und in den eineinhalb Jahren danach unglaubliche fünf Mal wiederholt wurde. Bei den folgenden Auftritten kam es zu ersten Anzeichen von Hysterie, Fans stürmten die Bühne, um Morrissey zu umarmen, Plattenfirmen überboten sich plötzlich mit ungeheuren Summen, doch The Smiths beschlossen, dem Independent-Gedanken treu zu bleiben. Im November erschien „This Charming Man“ wieder bei Rough Trade, erreichte Platz 25 und brachte der Band die erste Einladung zu „Top of the Pops“ ein, womit der Smiths-Funke landesweit zündete: „What Difference Does It Make“ schoss im Januar 1984 auf Platz 12, das Debütalbum im Februar sogar auf Platz 2.

Doch mit dem „Top of the Pops“-Auftritt am 24. November 1983 endete auch die Zeit der ungetrübten Harmonie. Sofort nach der Aufzeichnung fuhren die Smiths mit dem Zug nach Manchester zurück, wo sie am selben Abend in der ausverkauften „Hacienda“ spielten. Als Joe Moss inmitten kreischender Teenager „seiner“ Band zusah, beschloss er, seine Aufgabe als Manager sei erfüllt: „Es war das beste, auf dem absoluten Höhepunkt auszusteigen. Ich rannte nach dem Auftritt die Straße runter und schrie: Es ist zu spät, die Smiths noch aufzuhalten!“

Es war auch zu spät, einige frühe Fehler im Bandgefüge zu korrigieren. Das Debütalbum zeigte neben allen Stärken auch Problemquellen: Johnny Marrs genial gewobene Gitarrenfiguren ließen Morrisseys Stimme kaum Platz; der etwas ratlos wirkende Dreitonschritt wurde sein Markenzeichen. Zudem fanden die Smiths nach Joe Moss nie mehr einen richtigen Manager und rieben sich an derzusätzlichen Belastung mit vertraglichem und finanziellem Chaos förmlich auf. Andy Rourkes zwischenzeitliche Heroinsucht warf einen Schatten auf das straighte Gruppen-Image und führte zu erheblichen Turbulenzen. Der vielleicht entscheidende Faktor, der die Band schließlich zerstören sollte, war jedoch, dass sich zwar alle vier als Freunde empfanden, Rourke und Joyce jedoch nie einen Vertrag erhielten, was nach dem Ende der Band zu endlosen juristischen Kämpfen führen sollte.

Aber der Jubel, der The Smiths Ende 1983 umgab, überstrahlte alle düsteren Vorzeichen. „Die wichtigste britische Band seit den Beatles“ war geboren, die Popmusik wieder einmal gerettet, Johnny Marr als neuer Gitarrengott entdeckt, und Morrissey hatte nach einhelligem Urteil der Meinungsführer das Zeug, der größte Superstar seit David Bowie zu werden. Der Rest ist eine andere Geschichte…