Ein Besuch bei The National: Tut uns leid, Michael Stipe!
Für ihre Fans klingt es nach einer offensichtlichen Frage, für die Band könnte sie kaum egaler sein: Warum sind The National eigentlich keine Weltstars? Weil sie sich nicht für Popsongs interessieren. Sie arbeiten lieber daran, ihre Musik für sich selbst interessant zu halten. So auch auf ihrer neuen, hervorragenden Platte. Ein Besuch bei der Albumpremiere im Haus der ehemaligen Bassistin von Hole. Weit draußen vor New York. Dort, wo die Sterne leuchten.
Formell ist Aaron Dessner, wie sein Bruder Bryce, Gitarrist bei The National. Was reine Untertreibung ist: Die Dessners schreiben einen Großteil der Musik für die Band, SLEEP WELL BEAST wurde in Aarons Studio im Hudson Valley von ihm und seinem Bruder co-produziert. The National gäbe es ohne die beiden nicht oder ganz anders, als wir sie kennen.
Das Gerangel zwischen den Dessners und Textschreiber Matt Berninger um die Songs und deren einzelne Bausteine über die Jahre und sechs Vorgängeralben ist vielfach dokumentiert. Ihre Musik, seine Texte – und dann ein Tauziehen um die Arrangements und musikalischen Details. Am Ende bzw. Anfang sind es jedoch die Dessners, die das Boot zu Wasser lassen: ohne ihre Musik keine Texte, keine Songs.
Und die Dessners haben eigentlich immer weniger Interesse, mit ihrer Band einfach nur Rockmusik aufzunehmen. Geschweige denn eingängige Popsongs. „Ich glaube nicht“, erklärt Bryce Dessner, der, ganz in Schwarz gekleidet, zwischendurch an seiner Teetasse nippt, „dass wir als Band weiterexistieren könnten, wenn wir uns nicht ständig verbessern würden. Vielleicht ist das unsere besondere Familiendynamik. Aaron und ich sind sehr … ehrgeizig ist nicht das richtige Wort, aber definitiv nicht zufrieden, wenn wir zweimal das Gleiche machen.“
Experimente, statt Gitarren
Die Brüder haben, gerade in den vier Jahren seit der letzten National-Platte, eine Reihe von recht unterschiedlichen Nebenprojekten durchgeführt. Sie haben Filmsoundtracks geschrieben („The Revenant“, „Big Sur“), Alben für andere Bands produziert (Local Natives, Luluc, The Kit), Musikfestivals kuratiert (Eaux Claires, Boston Calling), klassische Musik für das New Yorker Stadtballett komponiert und zuletzt das Grateful-Dead-Benefiz-und-Tribute-Album DAY OF THE DEAD zusammen mit 60 anderen Künstlern initiiert.
Man könnte auch denken, dass eine Rückkehr zu gut gemachtem The-National-Indie-Rock auch eine gewisse Befriedigung hätte mit sich bringen können, nein? Bryce Dessner schüttelt den Kopf. „Auf diesem Album musste die Band“, – er korrigiert sich mitten im Satz – „mussten wir neues Territorium betreten, andernfalls hätte ich einfach das Interesse verloren. Das ist keine Kritik an der Musik an sich. Gewisse Dinge reizen sich einfach schnell aus. An einem Nachmittag hätte ich nur Gitarrenparts einspielen sollen. ,Nein‘, habe ich gesagt: ,Ich spiele jetzt überhaupt keine Gitarre, ich probiere etwas anderes aus und wir schauen mal, wie das dann klingt.‘“
Die Dessners haben immer weniger Interesse, mit ihrer Band einfach nur Rockmusik aufzunehmen. Geschweige denn eingängige Popsongs.
Dieser Vorwärtsdrang und ihre Hartnäckigkeit zahlten sich auf jeden Fall aus. Die neuen Songs sind nicht nur länger, was mehr Raum für Experimente lässt, sondern auch – obwohl sie das Etikett „Indie-Rock“ durchaus noch tragen können – musikalisch ambitionierter. Manche Details, ein kleines Streicher-Arrangement, ein Bläsersatz weit hinten aus den Kulissen oder irgendwelche elektronische Sounds fallen einem erst beim dritten oder vierten Hören auf.
„Von jedem Projekt, das wir nebenher machen, nehmen wir etwas mit, das sich in The National wiederfindet“, sagt Bryce Dessner. „Das kann eine neue Technologie sein, ein neuer Synthesizer, oder etwas Tiefergehendes, wie eine bestimmte Harmoniefolge, die die Komposition eines Songs verändert. All diese Dinge lernen wir dadurch, dass wir mit anderen Künstlern zusammenarbeiten.“
Hauptsache, Networken
Ein besonders interessanter Workshop fand im Herbst vergangenen Jahres in Berlin statt. Im „Funkhaus“, dem ehemaligen Gebäude des DDR-Rundfunks, trafen die Dessners auf eine ganze Reihe von Künstlern wie Bon Ivers Justin Vernon, Nils Frahm, Erlend Øye, Boys Noize, Damien Rice und Woodkid, mit denen sie musizierten, experimentierten und konzertierten. „Wenn es nach mir ginge, würden wir solche Experimente viel öfter machen. Da wurden Grenzen eingerissen zwischen Bands, Künstlern, Ländern“, sagt Aaron Dessner. „Ein Beispiel: An einem Nachmittag spielten wir auf unseren Gitarren, als dieser 18 Jahre junge Technomusiker in den Raum kam und vollkommen fasziniert war von diesen Klängen, die er sofort für seine eigene Musik verwenden wollte. Und auf einmal tut sich dieses Spannungsfeld zwischen den verschiedensten Stilrichtungen auf, das ist aufregend!“