The More You Ignore Me, The Closer I Get


Er war ein hoffnungsloses, depressives Kind der Arbeiterklasse. Kurz vor seinem 50. Geburtstag ist Morrissey der einzige und letzte echte Star der britischen Popmusik und ihr größtes Rätsel. Der Schlüssel zu seinem Erfolg, seinem Scheitern, seiner Zerrissenheit könnte in seiner Kindheit und Jugend liegen.

1959-1962 „Irish Blood, English Heart“

Der 22. Mai ist für Katholiken der Tag der heiligen Humihty, deren Name Demut und Bescheidenheit bedeutet. Was soll man erwarten von einem Kind, das an diesem Tag 1959 zur Welt kommt, als Sohn inscher Einwanderer in Manchester, hineingeboren in die Hoffnungslosigkeit der britischen Arbeiterklasse? Peter Mornssey ist 23, Lagerarbeiter, seit zwei Jahren verheiratet mit der 22-jährigen Betty. 1955 schlössen sie sich dem I xodus irischer Arbeitsloser in englische Industriegebiete an, wo man billige Arbeitswillige gut brauchen kann und zugleich verachtet und diskriminiert. Aber Peter Morrissey schien eine Chance zu haben, dem Elend der „Working Poor“ wenigstens zeitweise zu entfliehen. Er spielt Fußball, ist ein begnadeter Stürmer, hat ein Probetraining beim Zweithgisten Bury absolviert; Freunde drängen ihn, es bei ManU als Profi zu versuchen, aber er traut sich den Sprung die erste Mannschaft nicht zu, auch nicht, nachdem am 6. Februar 1958 bei einem Flugzeugabsturz über München acht Spieler ums Leben kommen – sein Sohn wird später einen Song darüber schreiben. Die Familie ist wichtiger; mit Steven sind die Morrisseys vier, Tochter Jacqueline ist ein Jahr älter. Steven, laut Auskunft seines Babysitters ein außerordentlich stilles Kind, verbringt die ersten Jahre in familiärer Harmonie (auch wenn er später behaupten wird, der glücklichste Tag seines Lebens sei der 21. Mai 1959 gewesen).

1965-1965 „Sutfer Little Children“

Mit dem extrem kalten Winter 1962/63 bricht ein neues Zeitalter an: die „Swinging Sixties“. Die Stimmen von Martin Luther King und John F. Kennedy erreichen auch Manchester, aber die Ermordung des US-Präsidenten am 22. November wird dunkel überstrahlt vom Verschwinden eines Jungen am selben Tag. Er ist nicht das erste vermisste Kind in der Stadt und bleibt nichtdas letzte. Während Restgroßbritannien die Beatles feiert, sich über die Profumo-Affäre erregt und von einer bunten Zukunft träumt, sperren Eltern in Manchester ihre Kinder ein und kümmern sich wenig darum, dass Herman’s Hermits als erste Band der Stadt einen Nummer-eins-Hit landen. Da geht Steven seit zwei Wochen zur Schule und hört mehr, viel mehr Popmusik als seine Klassenkameraden. Zu seinen Favoriten gehören Cilla Black, Sandle Shaw und die Two-Hit-Wonder-Dame Twinkle. Sein Interesse reicht aber über die eigene Zeit hinaus in die Vergangenheit. Frühreif ist er auch, sieht als Zweitklässler im Kino James Dean und lässt sich von den Eltern die erste Platte kaufen: „Come And Stay With Me“ von Marianne Faithfull. In Manchester verschwindet als fünftes „Kind“ der 17-jährige Edward Evans. Tags darauf, am 7. Oktober 1965, wird seine Leiche gefunden, im Haus von Myra Hindley und Ian Brady, die verhaftet und zu mehrfach lebenslänglicher Haft verurteilt werden. Einer der ersten Songs, die Steven schreibt, erzählt ihre Geschichte: „Suffer Little Children“. Es wird einer der schönsten, einfühlsamsten, erschreckendsten Songs aller Zeiten.

1966-1971 „The Headmaster Ritual“

In der Schule gibt Steven kaum Hinweise auf späteres Genie. Er zählt zum Durchschnitt, hat ein paar Freunde, fällt durch sein freches Mundwerk auf. Seine Leistungen leiden unter der Erkenntnis, dass Bildung in Arbeiterklasseschulen die Heranzüchtung von Futter für die Fabriken bedeutet. Er hat das Fußalltalent seines Vaters geerbt, ist der beste Leichtathlet der Schule – wenn er mal Lust hat, hat er aber selten, Ehrgeiz schon gar nicht. Ein wacher, zur Melancholie neigender Geist kommt unter solchen Umständen schnell darauf, dass ihn niemand gefragt hat, ob er geboren werden will. In unglücklichen Fällen kommt hinzu, dass die einzige Instanz, die einen hätte fragen können, nicht (mehr) existiert: Die Ehe von Morrisseys Eltern zerbricht unaufhaltsam; immer öfter kommt es in der als liberal und modern, aber verschworen geltenden Familie zu heftigen Auseinandersetzungen. In solchen Situationen gab es Anfang der 70er, vor DSL, Funsport und Komasaufen für den Nachwuchs nur ein Mittel: Popmusik. Indersindneue Zeiten angebrochen: Steven ist ein glühender Fan von T.Rex, hebt David Bowie, zeichnet ihre Gesichter in Schulhefte, schwänzt die Schule, um Konzerte zu besuchen, träumt sich selbst zum Star, nicht ahnend, dass die Ära, in der Pop keine Begleiterscheinung des Lebens, sondern das ganze Leben selbst war, unweigerlich zu Ende geht und er die Grabrede halten wird. In scharfem Kontrast zu seiner zunehmenden Zurückgezogenheit steht Stevens optisches Auftreten: Laut Auskunft von Klassenkameraden „sehr gut aussehend“, wirft er sich Glammäßig in Schale, kauft sich eine Bolan-Samtjacke, färbt sich blondeSträhneninsHaar,stakst in glitzernden Glockenhosen auf Turmabsätzen durch Schule und Welt, die er dabei vollkommen ausblendet nicht nur weil er seine Brille nicht aufsetzt. „Er war da, aber man bemerkte ihn nicht mehr“, erinnerte sich sein Englischlehrer, der das literarische Interesse des Jungen weckte. „Er verschwand völlig im Hintergrund und war offenbar zufrieden damit.“ Das gilt sogar in sexueller Hinsicht: Steven erstaunt Freunde durch problemlosen Zugang zum anderen Geschlecht, schleppt die schärfsten Mädels ab und will dann aber immer nur reden, über Pop, Comics, Filme, Literatur. Vor allem über Pop. 1971 gewinnt er bei einem Preisausschreiben eine Reise nach Marokko, die er als 12-Jähriger nicht antreten darf.

Die Enttäuschung macht es noch schwerer, die Disziplinierung und Entwürdigung an der Schule zu ertragen. „Kaum hatten wir morgens das Klassenzimmer betreten, wurde jemand verprügelt“, erzählt er später. „Alles, was ich dort lernte, war, kein Selbstbewusstsein zu haben und sich zu schämen, ohne zu wissen, warum.“

1972-1975 „Please, Please, Please, LetMeGetWhatlWant“

Das Lebenselixier des frustrierten, depressiven Jungen ist Glamrock. Er begeistert sich für neue Bands wie Alice Cooper, Roxy Music und, ähem, Chicory Tip, muss aber feststellen, dass die exaltierte, bunt schäumende Musikwellc 1973 abebbt. T.Rex und Mott The Hoople geht die Luft aus, David Bowie beerdigt „Ziggy Stardust“. Die Rettung kommt im November, als die New York Dolls bei „The Old Grey Whistle Test“ auftreten. Auch sie haben ihre große Zeit hinter sich, ohne jedoch Superstars geworden zu sein, was sie für Steven zu idealen neuen Helden macht: Wie jeder Dolls-Fan hat er das Gefühl, der einzige Mensch zu sein, der erkennt, wie gut und wichtig die Band ist. „1973 waren die Dolls totale Außenseiter“, sagt er später. „Niemand, der seine Sinne beieinander hatte, nahm ihren Namen in den Mund.“ Von der rüpelhaften Eleganz der Dolls, ihrem aggressiv-verletzlichen Auftreten, ihrer überdrehten Freude an exaltierter Kleidung und Make-up lernt er einiges über das Spiel mit Geschlechterrollcn, das in diesem Fall viel weniger mit Trans- oder Homosexualität oder ernsthafter Beschäftigung damit zu tun hat: Es geht um Verwirrung und darum, die eigene Einmaligkeit zu demonstrieren. Dieses Gefühl der Einmaligkeit, über das er später sagt, es liege „eine perverse, bittere Freude darin, für die du teuer bezahlst“, führt zu neuen Kontakten: Über Anzeigen in Musikzeitungen findet er Brieffreunde und -freundinnen, mit denen er sich auch über seine zweite neue Liebe austauscht, die eine Woche nach den Dolls das britische Fernsehen mit buntem Krawall füllt: die Sparks. Stevens Begeisterung ist so groß, dass er nicht mehr nur am Rande dabei sein will. Im Juni 1974 erlebt er seine erste Veröffentlichung, als der „New Musical Express“ einen Leserbrief von ihm abdruckt, in dem er das Sparks-Album KIMONO MV HOlISK zur „Platte des Jahres“ ernennt. Kurz darauf beschließt er, selbst Musiker zu werden. Klassenkamerad Jim Verrechia, der in der Schülerband The CJs spielt, soll ihm

das Gitarrespielen beibringen, scheitert aber. „Er hatte keine Geduld und brachte es nicht weit“, beschreibt er später seinen Schüler. Also kauft sich Steven, David Bowie nacheifernd, ein Saxophon (dem er keinen Ton entlocken kann), versucht sich am Klavier (das er weiß anstreicht, auf dem er aber auch nur herumklimpert), möchte dann noch Schlagzeuger werden und gründet eine Band, kann seine Mitspieler aber nicht überzeugen, dass Attitüde wichtiger ist als instrumentale Fähigkeiten. Er erlebt dasselbe quälende Dilemma wie viele Popmenschen der Jahrgänge 1959 bis 1965: die unglaubliche Intensität, mit der Glamrock (und später Punk) in die Welt explodiert ist, voll mitzukriegen, aber nicht aktiv daran teilhaben zu können, sondern hilflos auf den Tag warten zu müssen, an dem man alt genug ist, in der Gewissheit, dass dann alles – auch die Popmusik selbst, die mit Glam und Punk auf ein scheinbar unausweichliches Ende zuläuft — vorbei ist. So zieht die Zeit dahin, Steven wird introvertierter, schreibt Gedichte (eines davon darf er im Unterricht vorlesen und wird von der Lehrerin gelobt), leidet an der Schule, bis er im Juli 1975 das letzte Mal die verhasste Bank gedrückt hat und ein freier Mann ist – der keinerlei Ahnung hat, was er mit seinem Leben anfangen soll.

1975-1976 „Reader Meet Author“

Der Arbeitsmarkt, für den Absolventen einer Schule wie der, die Steven Morrissey besucht hat, vorgesehen sind, entspricht im Sommer 1975 den Vorstellungen der auf Machtübernahme lauernden Marktradikalen um Margaret Thatcher: Über eine Million Arbeitslose, so viele wie seit Kriegsbeginn nicht mehr, drängen in nicht vorhandene Jobs, werden zunehmend unter Druck gesetzt, sind aber mangels Repressalien noch nicht bereit, sich um jeden Preis ausbeuten zu lassen.

Stattdessen flieht man in individuelle Ideen, gründet Bands, bastelt an Traumkarrieren. Die Mehrheit derer, die in den folgenden zwei Jahrzehnten die UK-Popkultur prägen, kommt aus der „Gammelei“ – was den Furor derer, die nach Unterhaltskürzungen und Zwangsarbeit rufen, verstärkt, weil die Popmusik gleichzeitig explosionsartig unverschämt, böse, laut und anarchistisch wird. Steven, der sich für ein Aufbaustudium an der Technikerschule Stretford eingeschrieben hat, sieht die Punk-Revolte skeptisch. In Briefen an Zeitungen und Radio-DJs (etwa Tony Wilson, der die neue Sendung „So It Goes“ moderiert und später Factory Records gründet) singt er weiterhin das Loblied der Ende 1975 implodierten New York Dolls, deren prägenden Einfluss auf die Sex Pistols er in einem Leserbrief an den NME unterstreicht {„Ich hoffe, die Pistols schaffen es, damit sie sich neue Klamotten leisten können, die nicht aussehen, als hätten sie drin geschlafen“), nachdem er den Auftritt der vermeintlichen Revoluzzer in der Lesser Free Trade Hall am 4. Juni (vor 32 Zuschauern!) gesehen hat. Seine Meinung druckt auch der Melodv Maker: „Ich glaube nicht, dass sie sich mit ihren verwegenen Texten und der disharmonischen Musik halten können, wenn ihre Fans die Lust auf zerrissene Pullis und Sicherheitsnadeln verlieren.“

Vielleicht ist Steven sauer, weil plötzlich jedem gelingt, was er zwei Jahre zuvor vergeblich wollte: Popstar werden, ohne ein Instrument spielen zu können. Die neue Welle, die im Sommer 1976 über die Musik hinaus zum sozialen Phänomen wird, kriegt er nur aus der Ferne mit, weil er derweil bei seiner Tante Mary in New York Urlaub macht, wo er seine Zeit mit Sonnenbaden und Motorradfahren verbringt und eine neue Heldin entdeckt: Patti Smith, die den 17-Jährigen mit einer Verschmelzung von Dichtung und Musik begeistert. Nach seiner Rückkehr verschickt er deren „Piss Factory“-Songtext an Brieffreunde und schafft es, zwei Leserbriefe in einer einzigen Ausgabe von „Sounds“ unterzubringen: eine Hymne auf Smiths Album HORSES und eine weitere Verteidigung der New York Dolls gegen „untalentierte Kerle“ wie die Sex Pistols und die Ramones.

1976-1977 „Barbarism Begins At Home“

Nun offiziell arbeitslos, sitzt er „manchmal tagelang“ inseinem Zimmer, dessen Wände mit James-Dcan-Fotos und ausgeschnittenen Zitaten tapeziert sind (“ Das wohl wichtigste war von Goethe: ,Leben und Kunst sind zweierlei, deshalb heißt das eine Leben und das andere Kunst'“), an der Schreibmaschine, vertrödelt seine Zeit mit weiter auf Seite W

Träumereien, schreibt Unmengen Briefe und ein paar Songs („mitnebulösen Melodien, weil ich kein Instrument spielen konnte“), liest regalweise Bücher („so viel, dasss ich es aufzugeben versuchte, weil ich gar nicht mehr richtig lebte; ich saß einfach 20 Stunden am Tag auf einem Stuhl“), hauptsächlich zu seinem neuen Lieblingsthema Feminismus, und lässt sich, um eine neue Reise nach New York zu finanzieren, für zwei Wochen auf einen Job im Staatsdienst ein, was ihm hinterher eine Kürzung seiner Bezüge einbringt und seine Wut auf Institutionen, Monarchie und Kirche neu befeuert. Das Weihnachtsfest 1976 wird zur kathartischen Katastrophe: Vater Peter Morrissey verlässt die Familie am Tag vor Heiligabend. Sohn Steven, der kurz zuvor eine an Leukämie erkrankte Brieffreundin im Krankenhaus besucht hat, ist niedergeschmettert, beschließt, nie zu heiraten („Will Never Marry“ heißt später ein Song), weicht seiner Mutter über den Jahreswechsel hinweg nicht von der Seite – sie wird auch in Zukunft seine wichtigste Vertraute bleiben, über die er einmal sagt: “ Sie hat mich künstlerisch immer unterstützt, auch als andere um sie herum sagten, sie sei wahnsinnig, mir zu erlauben, dass ich daheim sitze und schreibe, weil das die übliche Vorstellung in der Arbeiterklasse ist: Du bist zum Arbeiten geboren, wenn du also nicht arbeitest, bist du wertlosfür die Menschheit.“ Am 9. Dezember hat er zum zweiten Mal die Sex Pistols live gesehen, jetzr packt ihn das durch Punk ausgelöste Do-it-yourself-Fieber von Neuem. Zwei Tage danach inseriert er in „Sounds“: „Dolls/Patti-Fans für Punkband in Manchester gesucht“. Wieder kommt nichts zustande, also hat er eine ganz neue Idee, bewirbt sich um eine Au-pair-Stelle in den USA, was ebenfalls abgelehnt wird. Dann erfährt er, dass die immer noch Kneipen und Arbeiterclubs beschallenden CJs einen Bassisten suchen, fällt aber beim Vorspielen durch und wechselt erneut das „Berufsziel“: Seine an Tennessee Williams angelehnte Kurzgeschichte „Sie transit gloria mundi“ bleibt jedoch ebenso unveröffentlicht wie weitere literarische Versuche. Frustriert und von Depressionen der Vergeblichkeit geplagt verdingt er sich als Schreibkraft beim Finanzamt, träumt vom Auswandern nach Australien oder in die Alpen und vergräbt sich in seiner Freizeit in Bücher (zum Feminismus kommen als neue Interessengebiete Rassismus und die US-Bürgerrechtsbewegung hinzu). „Ich habe es satt, das unentdeckte Genie zu sein, ich will jetzt berühmt werden, nicht wenn ich tot bin“, schreibt er an einen Freund.

1977-1979 „Ambitious Outsiders“

Freunde hat er bei aller Zurückgezogenheit und Isolation einige, nicht nur solche, mit denen sich der körperliche Umgang auf Briefkästen beschränkt; aber es bleibt ungewiss, was sie ihm bedeuten. Einerseits gilt er Leuten, die er respektiert, als solidarisch und hilfsbereit bis zur Aufopferung, andererseits weist er seine besten Kumpels an der Tür ab, wenn sie unangemeldet auftauchen, „als hätten die da eine Leiche versteckt gehabt“, wie sich einer erinnert. Auch seine sexuelle Orientieru ng bleibt ungewiss. “ Ich habe nicht viel Sex“, behauptet er, „ich kann fast mitzählen.“ Als seine Brieffreundin Ann-Marie McVeigh auf ein Schreiben nicht antwortet, stellt er jahrelang Nachforschungen über ihren Verbleib an, die durchaus romantische Züge haben. Andererseits empört er sich über Gewalt gegen Frauen, solidarisiert sich mit Homosexuellen (trägt sogar mal einen „Lesbian Liberation“-Button) und stellt fest: „Nackte Körper ziehen mich einfach nicht an. Ich bin ¿weder für noch gegen Sex. Er existiert nicht, das ist alles.“

Das klingt widersprüchlich? Na gut, Steven ist jetzt auch ein Punk, zumindest ein bisschen; „God SaveThe Queen“ und der situationistische Aufruhr der Sex Pistols rund um dasThronjubiläum der Queen haben ihn überzeugt. Schriftsteller ist er auch — fast: Kaum voll)ähng geworden, macht er sich an eine Art Roman mit dem Arbeitstitel „When Will Miss Muffet Fight Back“, kommt aber nicht über die witzigen Kapitelüberschriften hinaus. Dafür scheint es mit der Musik endlich was werden zu können: Ende 1977 lernt er Phil Fletcher kennen, der seit Langem seine furiosen Leserbriefe in Musikzeitschriften verfolgt

und ihn mit ein paar weiteren New-York-Dolls-Fans bekannt macht, unter anderem Billy Duffy (der sich vergeblich als Bassist bei Glen Matlocks neuer Band Rieh Kids beworben hat) und Stephen Pomfret. Mit zwei weiteren Freunden gründen sie eine Band, die sich The Tee Shirts nennt und ein paar Gigs spielt, jedoch ohne Steven und Billy, die schon ein neues Angebot haben: Eddie Garrity, der manisch-verrückte Frontmann von Ed Banger & The Nosebleeds, hat seine Truppe aufgelöst. Bassist Pete Crookes und Drummer Toby Tolman gründen sie neu und brauchen dafür noch einen Gitarristen und einen Sänger. Mornssey zögert nicht lange. Im Winter fängt er an, nebenbei kleine Artikel für das Fanzine „Kids Stuff“ zu schreiben, für das er sogar zu einer Pressekonferenz mit Patti Smith nach London darf. Dann kündigt er nach einer Auseinandersetzung mit einem Vorgesetzten seinen Job beim Finanzamt und wird Bandmitglied. Der erste Auftrittsoll am 15. April lmCavendish House stattfinden. In der Woche zuvor wird Steven von derart dauerhaftem Schluckauf geplagt, dass er einen Arzt aufsucht, der ihn gerade noch rechtzeitig kuriert. Das Konzert ist ein Festival mit lokalen Punk-Heroen wie Slam-Dichter John Cooper Clarke und Slaughter & The Dogs; die neuen Nosebleeds müssen als Erste auf die Bühne. „Wir waren monströs gut“, schwärmt Steven später. Alle alten Songs sind aus dem Set geflogen, die neuen (mit Titeln wie „I Get Nervous“ und „(I Think) I’m Ready For The Electric Chair“) stammen von Steven und Duffy. Ein zweiter Gig am 8. Mai im Ritz (als Vorprogramm von Magazine, wobei der langhaarige „Stevie“, wie sich Steven jetzt nennt, Bonbons ins Publikum wirft) schafft es in die Presse: Paul Morley, der spätere Mitgründer von Art of Noise und ZTT Records, lobt im NME das „Charisma“ des neuen Sängers „Steve Mornsson“, nennt ihn eine „kleine lokale Legende“ (was nicht ganz falsch ist: Buzcocks-Manager Richard Boon sagt später, „jeder“ habe „ihn gemocht und gewusst, dass er mal was Großes wird“) und stellt fest, er wisse zumindest.

„dass es beim Rock’n’Roll um Magie und Inspiration geht“.

Trotzdem ist der Traum damit wieder zu Ende; kurz nach Stevens 19. Geburtstag lösen sich die Nosebleeds auf. Billy Duffy findet einen neuen Job bei Slaughter & The Dogs, die auch gerade ihren Sänger Wayne Barrett verloren haben und New-York-Dolls-Fans sind. Also wird Duffys ehemaliger Sänger im Herbst 1978 zum Vorsingen eingeladen und ist dabei. Aber wiederum nicht lange: Am 22. Oktober reist die Band nach London, zu einem Privatkonzert für Plattenfirmenmenschen. Die allgemeine Ablehnung wird (auch) dem neuen Vokalisten zugeschrieben. Eine Woche darauf zieht der Slaughter-Rest nach London und benennt sich um, und Steven fliegt zur Erholung in die USA, wo er Colorado und Georgia durchstreift und von der Ode der Kleinstädte zu Tode gelangweilt wird. „Esgibt keinen Sex in Colorado“, hält weiter auf Seile 60

er als Resümee fest, kehrt nach Hause zurück, nimmt einen Job in einem Plattenladen an. Dann folgt er einer Einladung nach London und haust ein paar Wochen in Bermondsey, einem ehemals berüchtigten Slumviertel, in dem Tommy Steele aufgewachsen ist. Zu seinem 20. Geburtstag ist er wieder in Manchester. Und das Land ein anderes, da seit Anfang Mai Margaret Thatcher regiert.

1979-1981 „Nobodv Loves Us“

Aber die Politik ist höchstens ein unangenehmes Nebengeräusch in der Welt, die Steven bewohnt. Er verbringt seine Zeit mit Musik und Büchern, verlässt sein Zimmer nur, um ins Kino zu gehen, schreibt bitterböse Leserbriefe, in denen er die Schande beklagt, dass The Cramps im Vorprogramm von Police spielen müssen (deren Musik er für „einen hingeschlunzten Haufen Manschpampe“ hält). Zu seinen neuen Favoriten zählt die feministische Schock-Avantgardegruppe Ludus, mit deren Sängerin Linder Mulvey er sich anfreundet und endlose Spaziergänge durch Manchesterunternimmt, nicht selten auf Friedhöfen. Später verewigt er diese Nachmittage in „Cemetry Gates“. Als Konzertkritiker darf er für den „Record Mirror“ schreiben, ein nicht mehr sehr angesehenes Magazin, das seit 1953 erscheint. Silvester 1979 verbringt er allein zu Hause mit einem Jane-Austen-Buch. Dann beschließt er mal wieder, sein Leben zu ändern, und nimmt einen Job als Krankenpfleger an, den er aber nur zwei Wochen durchhält, weil die Arbeit hauptsächlich daraus besteht, Blut- und Fleischreste von Operationstischen und -kittein zu waschen. Dass Steven in jener Zeit zwei seltsame Begegnungen hat, könnte man dem isolierten Leben in der Abgeschiedenheit seines Zimmers zuschreiben, aber erstens trügt das Bild, schließlich verbringt er fast jeden Abend auf irgendeinem Konzert, unternimmt Kurzreisen nach London und war im Frühjahr 1979 sogar in Paris, um an Oscar Wildes Grab von einem Leben als verfemter Dichter im Exil zu träumen. Zweitens hat er beide Male Zeugen: Der Geist, dessen Rumoren ihn eines Abends im leeren Haus erschreckt, ist auch seiner Mutter schon begegnet, und als er in der Nacht des 9. März 1980 zehn Minuten lang den Flug einer ganzen Flotte von Ufos beobachtet, ist ein Freund dabei. Vielleicht tragen die Erlebnisse dazu bei, dass Steven das Schreiben im Frühjahr 1980 ernsthafter angeht. Tony Wilson erinnert sich an ein Theaterstück, von dem er ein paar Seiten las und sehr gut fand. John Muir, Inhaber des Ein-Mann-Verlags Babylon, lässt sich überreden, ein Büchlein in Auftrag zu geben: einen klugen, witzigen, nicht übermäßig wissenschaftlichen Essay über (na klar!) die New York Dolls, 24 Seiten „dick“, der sich in zwei Auflagen gut 3.000 Mal verkauft – erstaunlich für ein so unzeitgemäßes Thema. Steven macht sich gleich an ein neues Werk über James Dean, aber als er das dritte Skript mit dem Titel „Exit Smihng“ abgeliefert hat, bleibt es unveröf fenthcht. Sein Verleger rät ihm, es mit was anderem als Schreiben zu versuchen, weil es schon zu viele Autoren mit kleinem Leserkreis gebe. Wieder sitzt der 21-Jährige da und weiß nicht, was er tun soll, hat auch keine Lust mehr, als Kommentator in der zweiten Reihe zu stehen. Seine Karriere beim „Record Mirror“ endet mit einer Lobeshymne auf Ludus. „Die wilde Sehnsucht, etwas aus meinem Leben zu machen, war das Einzige, was mich am Leben hielt“.

sagt er später. Manchmal spielen auch Zufall und Schicksal tragende Rollen…

1982-1984 „At Last I Am Born“

1982 ist kein gutes Jahr für Popliebhaber mit speziellem Geschmack. Das Aufbrausen des Postpunk endet in einem Scherbenhaufen gescheiterter Bands, in den Charts dominieren Popperpuppen mit elektronischen Zickereien, die Konzertsäle füllt die „New Wave of British Heavy Metal“. Ein schreckliches Jahr für Steven Morrissey, der außer Friedhofspaziergängen mit Freundin Linder nichts zu tun hat und nicht ahnt, dass sein alter Kumpel Billy Duffy einem Freund interessante Dinge zu lesen gegeben hat. Der Freund heißt Johnny Mäher, ist viereinhalb Jahre jünger als Steven und sucht einen Sänger. Mäher hatte nach einer Odyssee durch erfolglose Bands wie Adolf & The Tangerines, The Paris Valentinos, White Dice und The Freak Party den Jeanshändler Joe Moss kennengelernt, einen Blues-Enthusiasten, seit den frühen Sechzigern in der Manchester-Szene verwurzelt, der das Talent des 18-jähngen Gitarristen erkannte, ihn förderte und ihm im Rahmen seines „Unterrichts“ ein Videointerview mit den Sixties-Songwntern Mike Stoller und Jerry Leiber vorspielte, das Johnny auf die Idee brachte, keine feste Band, sondern einen Songwritingpartner zu suchen, der mit Texten und Melodien so brillant und eigenwillig umgehen könnte wie er mit sechs Saiten. Vier Jahre zuvor hat ihm Billy Duffy einen Text von den Nosebleeds gezeigt, der ihm gefallen hat. Duffys Warnung, dieser Morrissey sei ein seltsamer

Mensch, dem man sich mit Vorsicht nähern müsse, klingt Mäher noch im Ohr, deshalb geht er strategisch vor, engagiert erst mal Stevens Freund Stephen Pomfret als Gitarristen für ein neues Projekt und nutzt ihn als Mittelsmann. Eines Vormittags stehen die beiden vor Morrisseys Haus in der Kings Road 384, und der nervöse Johnny hofft, mit Haartolle und Fifties-Klamotten nicht in den falschen Stilschrank gegriffen zu haben. Die Sorge ist unnötig, Steven steht auf so was. Zum Gespräch trägt er nicht viel bei; Johnny redet wie ein Wasserfall über Bands, während Steven lauscht und Pomfret den Plan und seine Rolle dann langsam durchschaut. Am Ende ist Steven von Johnnys pophistorischem Hintergrundwissen so begeistert, dass er zusagt, Sänger zu werden, ohne dass ein gemeinsamer Ton erklungen wäre. Einig sind sich die beiden, dass alles schnell gehen muss, bevor emand anderer die Chance des 1982er Vakuums nutzt. Ein paar Tage nach dem ersten Treffen gibt es schon ein paar Songs, darunter die elegische Horror-Ballade „Suffer Little Children“ über die „Moors Murders“, Stevens Kindheitstrauma (oder eines von vielen). Während zum ersten Mal seit450Jahren ein Papst England besucht und die britische Presse nach einer kurzen Kriegsfarce in Falkland-Heroismus schwelgt, nahmen Steven und Johnny in einem Achtspurstudio ihre ersten Demos auf: „Suffer Little Children“ und „The Hand That Rocks The Cradle“. Johnnys Mentor Joe Moss und einige Exmitmusiker, denen er die Songs vorspielt, staunen über das ungewöhnliche Talent seines neuen Partners. Der erste Auftritt ist bereits gebucht, noch ehe die beiden, die jetzt The Smiths heißen, in Anspielung auf den typisch englischen Durchschnittsnamen (The-Fall-Sänger Mark E. Smith, Patti Smith und Myra Hindleys Schwager David Smith, der die Mörder bei der Polizei angezeigt hat), eine Rhythmusgruppe haben. Ein Freund empfiehlt den 19jährigen Mike Joyce von der irischen Hardcorepunkband Victim, der nach einer Probesession einsteigt (auch weil sein Idol, Buzzcocks-Trommler John Mäher, denselben Namen trägt wie Johnny, ihn aber aus demselben Grund nun ablegt und sich Marr nennt). Bass spielt vorläufig Demo-Toningenieur Dale Hibbert. Am 4. Oktober 1982 versammeln sich ein paar Handvoll Neugierige im Hotel Ricz in Manchester — neugierig auf eine Modenschau, beschallt von der Gruppe Blue Rondo a la Turk, in deren Vorprogramm die Smiths erstmals die Bühne betreten. Da geht viel daneben: Gleich beim ersten von drei Songs schlägt Mike Joyce sein Snarefell ein und muss die Trommel umdrehen, die kaum mehr zu hören ist, während Johnny, um das Missgeschick zu übertönen, wie ein Irrer auf seine Gitarre eindrischt. Steven hat seinen Freund John Maker als „Conferencier“ und Tänzer engagiert, was Joe Moss befremdet: „Ich -war erstaunt, wie gut die Band war“, sagt er später. „Aber ich hatte keine Ahnung, wofür das mit Maker gut sein sollte.“ Dennoch verspricht Moss, die Band zu managen, kurz darauf findet sich mit Andy Rourke, den Johnny von ihrer gemeinsamen Zeit bei The Paris Valentinos kennt, ein fester Bassist.

Ein Punkschlagzeuger, ein Soulpopbassist, ein Gitarrist, der alles kann (und eine Vorliebe für Rory Gallagher hat, die er tunlichst für sich behält), und ein Sänger, der alles will — eine prekäre Mischung, die erstaunlich gut funktioniert. Vor allem kennt Johnny Gott und die Welt, u.a. einen neuen A-&-R-Mann bei der EMI, die der Band Demoaufnahmen finanziert, dann aber absagt und lieber weiter dem alten Synth-Pop-Trend hinterherläuft. Ein typischer Fall von Kurzsichtigkeit, wie sich bald zeigt. Als die neue Smiths-Besetzung am 6. Januar 1983 im „Manhattan“ debütiert und am 4. Februar in dem von Tony Wilson finanzierten ehemaligen Bolweiler auf Seile 62

lywood-Kino „The Hacienda“ die Band 52nd S:reet supportet, ist eine wachsende Schar von Neugierigen und Freunden nicht nur von Stevens Idee, in Anlehnung an sein Vorbild Oscar Wilde Blumen ans Publikum zu verteilen, so hingerissen, dass zwei Monate später auch der NME prophezeit:

„The Smiths werden bald die höchsten Höhen erreichen.“

Die Produktion der ersten Single bezahlt Joe Moss, 213 Pfund für eine Jahrhundertplatte: „Hand In Glove“, laut Steven „der wichtigste Song der Welt“. Im März, nach dem ersten Auftritt in London, besuchen Marr und Rourke das Büro des Rough-Trade-Gründers Geoff Travis, spielen ihm eine Kassette vor und haben ein Label gefunden. Im Mai erscheint „Hand In Glove“ im ganzen Land. Radio-DJ John Peel lädt die Band zu einer seiner legendären Sessions, die am 31. Mai läuft und in den folgenden eineinhalb Jahren fünfmal (!) wiederholt wird. Nun bricht die Hysterie los, beim Publikum wie bei den gerade noch muffligen Majorlabels, die plötzlich ungeheure Summen bieten, aber ihrerseits auf Ablehnung stoßen. Im November folgt die Single „This Charrmng Man“, die es in die Top 30 schafft und The Smiths erstmals zu „Top of the Pops“ bringt, womit sich für Steven (der nun nur noch Morrissey heißt) ein Jugendtraum erfüllt und der Funke landes weit zündet: „What Difference Does It Make“ landet im Januar 1984 auf Platz 12 der UK-Charts, das Debütalbuni im Februar auf Platz 2. Als Joe Moss am 24. Novemberinder „Hacienda“ in einem Meer kreischender Teenager steht, beschließt er, sein Job als Manager sei getan: „Es war das Beste, auf einem absoluten Höhepunkt auszusteigen. Nach dem Auftritt rannte ich die Straße runter und schrie: Es ist zu spät, die Smiths noch aufzuhalten!“

1985-1987 „Break Up The Familv“

Nach Moss finden die Smiths nie mehr einen „echten“ Manager und reiben sich an der zusätzlichen Belastung mit vertraglichem und finanziellem Chaos auf. Andy Rourkes Heroinsucht wirft einen Schatten auf das straighte Image der Band und führt zu Turbulenzen. Zudem empfinden sich zwar alle vier als Kollektiv von Freunden, Rourke und Joyce bekommen jedoch nie einen Vertrag angeboten, was nach dem Ende zu jahrelangen juristischen Kämpfen führen wird. Ende 1983 ist von all dem nichts zu ahnen. Die Musikpresse bejubelt „die wichtigste britische Band seit den Beatles“, ernennt Johnny Marr zum „legitimen Erben von Eric Clapton und Keith Richards“, sieht in Morrissey den größten Superstar seit Bowie. Ebenso wie bei den Beatles bemerkt man rückblickend erstaunt, wie wenig Zeit die Smiths brauchten, um die Welt zu verändern. Sechs Alben (davon zwei Compilations) in dreieinhalb Jahren – als das letzte im September 1987 erscheint, ist die Band bereits zerbröselt. Ende Mai hat Johnny Marr seine letzte Gitarrenspur eingespielt und ein Flugzeug in die USA bestiegen, es wird Jahre dauern, bis er Morrissey wiedersieht. Derweil muss Morrissey daheim in England durch die Promotionmühle für die Platte und Split-Gerüchte dementieren. Dem NME erklärt er:

„Wer auch immer behauptet, die Smiths hätten sich getrennt, wird von mir mit einem nassen Turnschuh ausgepeitscht“, aber die Schlagzeile der Geschichte am 1. August 1987 ist eindeutig: „Smiths to split!“ immerhin: ein „to“ zu viel für vollendete Tatsachen, was aber jeder durchschaut. „Der NME hat alles ruiniert“, sagt Morrissey später. “ Ich war wütend darüber. Die haben den Sarg ausgestellt, als die Leiche noch nicht kalt war, und plötzlich wurde das Gerücht zur Realität. Hätten alle stillgehalten, hätten wir die Probleme privat lösen können. „

1988-1993 „That’s How People Grow Up“

Statt die Sache einfach hinzuschmeißen, versuchen Morrissey, Joyce und Rourke, die Smiths am Leben zu erhalten. Roddy Frame (Aztec Camera) und Morrisseys Jugendfreund Ivor Perrv sind als neue Gitarristen im Gespräch, Perry geht sogar mit der Band und Produzent Stephen Street ins Studio und nimmt zwei Songs auf, aber Morrissey bricht die Session nach zwei Tagen ab und ist die nächsten Tage nicht zu erreichen. Nach einigen vergeblichen Anrufen sieht auch Joyce ein, dass die Sache aussichtslos ist und verkündet seinen Ausstieg. Mitte September erklärt Morrissey das Kapitel The Smiths für beendet, ernennt Stephen Street zum Songwritingpartner für sein erstes Soloalbum und holt Ex-Nosebleeds-Mann Vini Reilly als Gitarristen dazu. Dass das keine leichte Übung wird, ist klar. Um so erstaunlicher, wie schnell es geht: Keine sechs Monate nach STRANCEWAYS, HERR WE COMK steht VIVA HATE in den Läden – und auf Platz eins. Ein Triumph, der, ebenso wie vier Top-Ten-Singles, die Tücken der Soloarbeit nur kurzzeitig überdeckt. „Er hat, ohne es zu wollen, viele Leute eingeschüchtert“, beschreibt Reilly später die Situation. „Alle um ihn herum gaben sich Mühe, nett zu ihm zu sein, als wäre er kein menschliches Wesen. Niemand war ehrlich. Außerweiter auf Seite 64

dem hatte er bis dahin außer den Smiths nichts gemacht. Er wusste wohl selbst nicht recht, wo das alles hinführt.“

Wirklich funktionieren kann Morrisseys Genie nur in einer Gang. Deshalb besteht seine Band bald nach deren Auflösung – bei seinem Livedebüt am 22. Dezember 1988 – schon wieder aus vier Fünfteln der Smiths (Mike Joyce, Craig Gannon und Andy Rourke, dem er wegen seiner Heroineskapaden kurz nach Fertigstellung von THE QUEEN IS DEAD einen Zettel unter den Scheibenwischer geklemmt hatte: „Andy, du hast The Smiths verlassen. Viel Glück, mach’s gut, Morrissey“). Die Magie ist jedoch nicht zu rekonstruieren, schon gar nicht ohne Marr, über den Morrissey einmal sagte: „Ich lebe wie ein Heiliger, er -wie der Teufel. Die Kombination ist wundervoll, perfekt.“ Wenn die Musiker fehlen, müssen es die Produzenten richten, aber mit Stephen Street überwirft er sich bald; und Produzenten sind eben nur Produzenten, weshalb selbst Morrisseys Jugendidol Mick Ronson ihm kein Meisterwerk zaubern kann, solange die Chemie in der Band nicht stimmt, wobei die Gitarristen immer die Hauptrolle spielen. Das gilt auch umgekehrt: Ohne Morrissey wäre Johnny Marr heute sicher ein respektierter Session- und Studiomusiker, ebenso wie Boz Boorer und Alain Whyte, aber ob ihre eigenen Werke auch nur annähernd die Qualität der gemeinsamen erreicht hätten, ist fraglich. Dass er eine Gang braucht, hat nicht nur mit der notorischen Zerbrechlichkeit seines Selbstvertrauens zu tun – die sollte man nicht überschätzen, schließlich hat er die jahrelange Verleumdungskampagne des NME ebenso überstanden wie die Zeit, als ihn keine Plattenfirma mit Asbesthandschuhen anfassen wollte. Es ist wohl wirklich die kreative Sicherheit kongenialer Begleitung, die nötig ist, damit er musikalisch erblüht und sich persönlich so sicher fühlt, dass er den Fettnäpfchen, die auf einen Menschen, der sich den Regeln des Showbusiness nicht unterwerfen will, allenthalben lauern.

1994-2009 „At Last I Am Born“

Und so ist Morrisseys Solokarriere in den folgenden zehn Jahren eine Achterbahnfahrt zwischen Höhepunkten und Katastrophen, die oft zusammenhängen. Als er 1994 den Tod von Mick Ronson und zwei weiteren engen Vertrauten verarbeiten muss, tut er das auf VAUXHALL & 1 so beeindruckend, dass viele das Album für das beste halten, das er je gemacht hat. Der Nachfolger S01TH-PAW GRAMMAR ist ein weiteres Meisterwerk, aber so kompromisslos und aufs erste Hören schwer verdaulich, dass nun wieder Kritiker und Schinäher rebellierten, die sich immer besonders freuen, wenn der kommerzielle Misserfolg einer Morrissey-Platte ihre Einschätzung bestätigt. Dem quälenden Prozess um die Aufteilung der Smiths-Gelder folgte 1997 der (relative) Flop MALADJUSTED, dann lief mal wieder ein Vertrag aus, und diesmal fand sich in der bröckelnden, sich selbst demontierenden Industrie niemand mehr, der Geduld und Mut gehabt hätte, einen akzeptablen neuen anzubieten. Also saß die vermeintliche Diva vermeintlich in der Schmollecke, ließ sich in südamerikanischen Stadien und Großhallen feiern und deutete immer mal wieder höflich, aber unaufdringlich an, es gebe genug neue Songs, falls jemand interessiert sein sollte. Erst als die zur Liebhaberei neigende Firma Sanctuary beim Einsammeln vom Trendwahn übergangener Altstars auch auf Morrissey stieß, wurde was draus. Da durfte er mal wieder ein altes Label neu beleben (Attack Records), holte sich mit Jerry Finn einen angesagten Produzenten ins Studio, machte mit ihm ein durchwachsenes Album, das sein bis dahin größter Erfolg wurde, und kümmerte sich, anstatt den Idioten in den Chefetagen der Majorkonzerne die Zunge rauszustrecken, lieber um andere, Helden seiner Jugend, denen es ebenso ergangen war wie ihm: Nancy Sinatra, die New York Dolls, die Sparks. Musikalisch ließ das Comeback noch zu wünschen übrig; erst als 2005 im verschworenen Kreis seiner Band so gut wie alles stimmte und der bewunderte Bowie- und T.Rex-Produzent Tony Visconti am Mischpult saß, waren die beflügelnde Atmosphäre von Rom, das orchestrale Abenteuer mit Ennio Morricone und eine (kolportierte) Liebesaffäre nur noch zusätzliche Katalysatoren, die zu einem Meisterwerk beitrugen: RING1.EADER 0F THE TORMENTORS ist von den schweren Bombastklängen in „I Will See You In Far Off Places“ bis zum triumphalnüchternen Ausklang „At Last I Am Born“ die Summe von Morrisseys Kunst. Wer erwartet hatte, er werde sich nach diesem „Spätwerk“ ausruhen, erfuhr mit Staunen, dass im Sommer 2008 schon wieder ein neues Album erscheinen sollte. Das dauerte dann noch ein paar Monate länger; zuerst wollte es Visconti produzieren, der hatte aber keine Zeit, also wandte sich Morrissey wieder an Finn – der kurz nach Fertigstellung an einer Gehirnblutung starb. Tragik und Tod bleiben Steven Morrissey auch in seinem 50. Lebensjahr treu. Derzeit, heißt es, schreibt er seine Autobiografie. Dahinter könnte aber auch ein morrisseyesker Scherz stecken, denn: Er hat sie längst geschrieben. Sie ist auch längst erschienen und tut das weiterhin: in seinen Songs, von denen sich jeder einzelne auf Situationen, Episoden, Momente seines Lebens zurückführen und damit verbinden lässt, unmittelbarer und mit weniger Stilisierung als bei irgendeinem anderen Künstler, dabei aber höchst poetisch. Und das ist vielleicht das Geheimnis: dass das Gesamtkunstwerk Morrissey, das weit über ein banales Menschenleben und dessen öffentliche Dokumentation hinausreicht, absolut offen vor uns liegt, man sich aber wie in Franz Kafkas Büchern immer weiter darin verirrt, je tiefer man vorzudringen glaubt. Und am Ende, auch, etwas ganz anderes findet: sich selbst.

Text: Michael Stiller Discoerupbie: Srero Bandini wwic.itsmorrissevsuorldxom

DISCOGRAPHIE The Smiths – THE SMITHS (Februar 1984) Dem Debütalbum ist oft die schlechte Produktion vorgeworfen worden, aber das kann man jenseits aller Früh-SQer-Nostalgie anders sehen: Dass die Platte unfertig, roh klingt, spiegelt wieder, dass hier eine Band (und ihr Sänger) weniger auf der Suche nach ihrem eigenen Stil ist (den hat sie längst gefunden) als überhaupt erst entsteht, 5,5 The Smiths -MEAT IS MÖRDER (Februar 198$) Ein harter Brocken, textlich/thematisch und musikalisch. In “ The Headmasler Ritual“ nennt Mornssey Manchesters Schulleiter „kriegerische Leichenfresser“, anderswo geht es um Mord, Selbstmord, Prostitution, Verzweiflung, Trost- und Gefühllosigkeit, Klassenkampf, Gewalt gegen Kinder, die Queen (vor der der Erzähler in „Nowhere Fast“ die Hose fallen lassen möchte) und selbstverständlich den Mord an Tieren. 5 The Smiths – THE QUEEN IS DEAD (Juni 1986) Für viele das Smiths-Meisterwerk, berstend vor Ideen, Witz, Leidenschaft, Melodien und randvoll mit Klassikern wie der Single “ Bigmouth Strikes Again“, “ There Is A Light That Never Goes Out“, „Cemetry Gates“ und „The Boy With The Thorn In His Side“, dessen Gitarrenlinien sich ins Gedächtnis prägen wie eine Liehe auf den ersten Blick – wer sie einmal hört und je wieder aus dem Kopf bekommt, darfals popresistent gelten. 6 The Smiths -STRAMGEWAYS. HERE WECOME (September 1987) Zwar durchweht eine Atmosphäre von Trauer, Verlust und Vergeblichkeit die Platte, aber dazwischen gibt es jede Menge Experimente, Ausflüge auf unbekanntes Terrain und neue Ansätze, die auf eine Zukunft neugierig machen, die es dann nicht mehr gab, und bis heute lose in der Popgeschichte herumbaumeln, so etwa Morrisseys (nicht jedermann überzeugende) Ansätze in Richtung Soul und sein Klavierspiel auf “ Death Of A Disco Dancer“, aber auch lange, reich instrumentierte psychedelische Passagen und Experimente mit Computcrdrums und Synthesizern, 5 VIVA HATE (März 1988) Schwerelos schöne Songs (mit Co-Komponist Stephen Street) und luftige, manchmal an Robert Fripps Arbeiten für Bowie erinnernde Gitarren und Arrangements von Vini Reilly waren für Smiths-Fans gewöhnungsbedürftig, aber Morrisseys erstes Soloalbum zeugt eine deutliche Weiterentwicklung seines gesanglichen Ausdrucks- und Mclodiespektrums. Die Themen reichen von Eifersucht über die lähmende Langeweile britischer Küstenstädte in der Nachsaison bis hin zur kulturellen Zerrissenheit von Einwanderern aus den ehemaligen britischen Kolonien in den 70ern. 5 BONA DRAG (Oktober 1990) Sammlung von Singles und B-Seiten ans den Jahren 1988 bis 1990 mit diversen Produzenten und musikalischen Partnern. Auch die Smiths (ohne Johnny Marr) waren beteiligt, mit Andy Rourke schrieb Morrissey die B-Seiten “ Yes, I Am Blind“ (hier drauf) und “ Girl Least Likely To“. Dass aus dem Chaos und höchst unterschiedlichen Temen – Okkultismus, eine ironische Reminiszenz an die Londoner Gangsterbrüder Kray, der Straßenstrich von Piccadilly, Morrisseys Friseur- ein rundes Album ohne große Schwächen entstand, ist erstaunlich. 4,5 KILL UNCLE (März 1991) Mark Nevin (Fairground Attraction) als Gitarrist und Song-Partner war ein tapferer Versuch, die Produzenten Clive Langer und Alan Winstanley (Madness, Dexy’s Midnight Runners, Elvis Costello) kamen auch nicht aus dem Irgendwo – aber es will nichts so recht sich fügen und zünden, und so gelungen manche Texte (und Songs) sind, so leblos wirkt die Platte insgesamt, auch dank der trüben, trauervollen Grundstimmung der meisten Texte .3,5 TOM? ARSENAL (Juli 1992) Im Studio mussle sich die neue Band erst noch finden -Bassist Gary Day, Schlagzeuger Spencer Cobrin, Boorer und Whyte kamen vom Rockabilly, der die schnelleren Nummern auf dem Album in seiner von T.Rex bekannten Glam-Spätform durchtränkte -, wofür Bowies „Ziggy“-Gitarrist Mick Ronson als Produzent der ideale Mann war (“ I Kytow It’s Gonna Happen Someday“ spielt harmonisch auf Bowies “ Rock’n’Roll Suicide“ an), 4 VAUXH, ALL AND I (März 1994) Die spätsommerliche Atmosphäre täuscht; darunter lauern Abgrunde. Statt zu ergründen, woher der labile Friede mit der hier oftmals beschworenen Vergangenheit rührt, sollte man ihn genießen. Trauer und Zorn über den Verlust dessen, was er nie hatte, scheinen in Morrisseys Texten nur stellenweise durch, die Schönheit, die das Album durchtränkt, ist so überwältigend, dass sich selbst die Kettensäge am Anfang von “ Speedway“ in Sphärenklang verwandelt, 6 SOUTH PAW GRAMMAR (August 199$) Im Sinne des Titels ein Schlag ins Gesicht, der alle Erwartungen überforderte. Die Band rockt mit manischer Dringlichkeit (im Studio Gerüchten zufolge von Morrissey mit “ Lauter! Lauter!“-Rufen angefeuert), und der Sänger gab sich keine Mühe, die Wut und Verzweiflung in seinen Texten über Gewalt und Entfremdung zu kaschieren, 6 MALADJVSTED (August 1997) Mit enormer Vielfalt der Gefühle und Stimmungen (bis ins Extrem in der auf Mike Joyce gemünzten Morddrohung “ Sorrow Will Come In The End“) zwischen großorchestraler Melanchoballade und unwiderstehlich losrollendem Donner-Rock, lyrischer Brillanz und einer atemberaubend detailverliebten Produktion vielleicht nicht das allerbeste aller Morrissey-Soloalben, aber sehr nahe dran, 5,5 YOUARE THE QUARR)‘ (Mai 2004) Das Erstaunlichste an dieser Comebackplatte ist, wie frisch und neu sie klingt – als wären die meisten Songs erst im Studio entstanden. Viele alte Fans störten sich an der etwas blutleeren Mainstreamproduktion. Darüber kann man streiten, aber der Zwist verstummt bei wunderbaren Höhepunkten wie “ Come Back To Camden“. 4 RINGLEADER OF THE 7VRMENT0RS (April 2006) Entstanden im brütenden Chaos von Rom unter der Regie von Bowie- und T.Rex-Produzent Tony Visconti – ein Glücksgriff, einer von vielen. Wichtigster Neuzugang: Gitarrist Jesse Tobias, der fünf Songs mit Morrissey schrieb, von denen vier als Singles ausgekoppelt wurden. Visconti: “ Eines der besten A Iben, an denen ich je beteiligt war.“ 6