The Flaming Lip
Von Arcade Fire bis zum Tag, als Kurt Cobain starb: Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums von City Slang baten wir Christof Ellinghaus, den Gründer des wichtigsten Indie-Labels Deutschlands, zum Gespräch. Achtung: Hier buchstabiert der Chef noch selbst.
* –> A) Ellinghaus: Die Ärzte. Wieso? Ohne die Ärzte würde es City Slang nicht geben. Vielklang hatte gerade mit Die Ärzte unfassbar viele Platten verkauft, 1989 war das. Doro Peters von Vielklang kam auf mich zu und sagte „Wir wollen uns breiter aufstellen, Sublabels gründen. Eins davon heißt Rough’n’Roll und wir haben schon eine Kreuzberger Hinterhof-Sleeze-Rockband. Das ist doch was für dich“. Ich schaute mir die Kapelle an, eine gruselige Kreuzberger Mischung aus Guns N‘ Roses und Jingo de Lunch, und sagte zu Doro: „Lieber nicht.“ Angefangen hat es schließlich, als mir die Flaming Lips eine Kassette gaben und mich baten, ein Label zu finden. Mit der Kassette bin ich dann zu Vielklang gegangen und habe vorgeschlagen, das schöne Geld von Die Ärzte in ein anders konzipiertes Label zu stecken, in eines nach meinem Geschmack. Deshalb A wie Ä. Und A wie Arcade Fire? Wenn Arcade Fire auf Tour oder mit einer neuen Platte kommen, ist alles gut.
* –> B) B, oh Gott. „Beautiful Son“, die Single zwischen den beiden Alben von Hole … Die wir auf der Heft-CD haben… Die den kleinen Kurt Cobain auf dem Cover zeigt. Wie steht es denn um B wie Beverungen? Ha! Meine Heimatstadt. Was hat Beverungen, was Berlin nicht hat? Glitterhouse Records. Ein Atomkraftwerk, das zurückgebaut wurde, weil es die Lauftzeitverlängerung damals noch nicht gab. Beverungen liegt im goldenen Dreieck zwischen Paderborn, Göttingen und Kassel. Ruhiger kann eine Kindheit nicht sein.
* –> C) Das ist einfach: City Slang. Dass es mal 20 Jahre werden würden, hätte ich nie gedacht. Der Name flog mir damals zu, als ich durch meine Seven-Inch-Sammlung wühlte. Und welche Single war das? Sonic’s Rendezvous Band, ein kurzlebiges Projekt von Fred „Sonic“ Smith, dem Gatten von Patti Smith. Detroiter Schweinerock. Der Song fängt mit einer Basslinie an und dann kommt erstmal ein Gitarrensolo, voll auf die zwölf. Als ich vor zwei Jahren auf der Berlinale zufällig Patti Smith traf, musste ich sie deshalb auch gleich anquatschen. Ich ging zu ihr und sagte: „Frau Schmidt, ich hab mein Label nach einem Song ihres Gatten benannt, und ich wollte nur mal sagen, wie super ihr Mann war.“ Sie fragte: „Wie heißt denn das Label?“ Ich antwortete: „City Slang“, sie sagte:“Oh, I know your label“ und ich so: „Oh yeah!“. Naja, das war das. Wo waren wir? D?
* –> D) Dieffenbachstraße? Downloads! Entwickeln sich in diesem Jahr sehr gut. Interessant, dass Sie an legale Downloads denken. Ich will schließlich nicht nölen. Es gibt genügend Anbieter und es kann alles legal gefunden werden. Wahrscheinlich findet man auch die Sonic’s Rendezvous Band irgendwo. Bei Rapidshare Records. Ich glaube, Rapidshare nervt doch, oder? Weil man dann immer gleich den ganzen Katalog bekommt. Zwei Gigabyte, obwohl man nur einen Song haben will. Das ist es doch auch nicht. Sie erwähnten bereits, dass die Downloads in diesem Jahr rapide angestiegen sind. Wie steht es um das Verhältnis Donwloads/CDs? Das ist von Monat zu Monat und von Veröffentlichung zu Veröffentlichung verschieden. Bei einer Band wie Caribou verkauften wir in England in der ersten Woche 47 Prozent digital, in Deutschland 30 Prozent, in Amerika sogar 65 Prozent. Im Juni haben wir 40 Prozent unseres Gesamtumsatzes mit digitaler Musik erzielt. Das gab es noch nie. Macht es für Sie einen Unterschied, ob Sie Musik digital oder analog hören? Wenn man ein iPhone an eine Anlage anschließt, klingt das gruselig.
Die Wertigkeit ist eine andere? Nein, es klingt anders. Man hört Sachen anders. Beschäftigt City Slang eigentlich Download-Jäger? Nein. Wenn ein Album draußen ist, dann ist es draußen. In anderen Segmenten lohnt sich das sicher eher. Hat es Sie nicht maßlos geärgert, als THE SUBURBS von Arcade Fire im Netz auftauchte? Da war ich schon im Urlaub. Ich rief im Büro an und meinte nur: „Super, schickt die Promos raus!“. Dabei wurden wir vorab noch genötigt, die Veröffentlichung nach hinten zu schieben aus Angst, jemand aus Deutschland könne das Album am Freitag vor dem englischen Veröffentlichungstag frecherweise ins Netz stellen. Lächerlich. Ich sagte zum Manager: „Mein lieber Scott, du hast keine Ahnung von Logistik. Wenn dein Tesco-Markt in England die Platte am Montag in den Laden stellt, dann hat der die in seinem Zentrallager schon eine Woche vorher. Und dann gibt’s dort einen gepiercten Lagerarbeiter, der fährt am Tag nicht nur Hubwagen, sondern sitzt auch am Computer – und freut sich, dass er als erster Arcade Fire hochladen kann.“ Und was lernen wir daraus? Kinder nicht piercen lassen? Nein, Releasedates sind für die Tonne.
* –> E) Sehen Sie Ihre Arbeit auch als musikalische Erziehungsarbeit? Jein. Ich würde nicht den Begriff Erziehung wählen, das klingt so vermessen. Mich treibt vielleicht eine Art Missionsdrang. Muss man als Labelchef nicht auch manchmal Bands erziehen? Das schon eher. Es gibt diesen einen Typus, der ist gerade 20 und hat noch nichts von der Welt gesehen, und denen muss man helfen. Aber Erziehung ist auch hier nicht das richtige Wort. An die Hand nehmen … Genau. Wollen Sie uns nicht mit ein paar schönen Anekdoten verwöhnen, Geschichten aus den wilden Zeiten, als Sie noch mit Bands im Bus durch Deutschland fuhren? Ja, aber da war ich doch genauso jung wie die Bands und hätte niemals den Vorsteher gespielt. Kommen Sie schon. Ich erinnere mich noch an Nächte mit diesen Wahnsinnigen von den Cosmic Psychos, die nichts ausgelassen haben. Ecstasy kam gerade auf, und der Drummer konnte überhaupt nicht mehr spielen und wir haben uns alle gefragt „Was ist denn los?“ und er „She gave me this pill“ … Nee, da hab mich nie eingemischt. Hatten Sie nie das Gefühl, dass einer etwas sagen muss? Sie betreuten schließlich auch Nirvana und Courtney Love. Klar, wenn man merkt, dass einer vor dir ganz langsam zerbröselt und du siehst, wie er die Bodenhaftung komplett verliert, dann denkst du: Scheiße, einer muss es ihm sagen. Aber das war nicht meine Aufgabe. Wir sind hier Peripherie. Diese Typen leben in den Staaten, touren auf der ganzen Welt, und wir sind eben nur die europäische Booking-Agentur oder das europäische Label. Ich tourte mit Kurt, da kannte er Courtney noch nicht, es wurde eher wahnsinnig viel gesoffen. Harte Drogen standen damals nicht auf der Speisekarte.
* –> F) Flaming Lips. Die Band, die alles möglich gemacht hat. Wayne Coyne ist einer der irrsinnigsten, charmantesten und tollsten Menschen, die ich treffen durfte. Schmerzt es, Bands ziehen zu lassen? Damals überhaupt nicht, dafür war ich viel zu jung. Außerdem hatte die Band schon bei Warner unterschrieben, es war also klar, das ich nur diese eine Platte machen würde. Zudem war es damals alles nicht so extrem businessmäßig wie heute. Oftmals war der Typ aus dem örtlichen Plattenladen auch gleich der Manager der Band. Wir hatten bei F an Freiheit gedacht. Freiheit? Wegen Westernhagen? Ja, also, das ist mal ne ganz tolle Hymne. Nein! Eher an die Freiheit eines Indie-Labels. Hat sich Ihre Vorstellung von Freiheit in den vergangenen 20 Jahren verändert? Nein. Ich hab da auch nie so drüber nachgedacht, wir können da überleiten zu G. Gerne.
* –> G) Also: G wie Glück. Ich sehe mich da wirklich als Glückskind. Einfach, weil ich mein Hobby zum Beruf gemacht habe.
* –> H) Hole. Das war irre wichtig, und noch mal: G wie Glück. Ich war in New York und eine Freundin sagte „Courtney is in town, she is recording with Kim Gordon down the street, you wanna go?“ Dann sind wir hin, ich hörte das, traf sie und dachte: „Wow. Das will ich machen.“
Wie muss man sich Courtney 1991 vorstellen? Courtney war eben Courtney, ein lautes L.A.-Punkrock-Chick. Als ich mit ihr dann in Deutschland auf Promotour war, ging dann die Sache mit Kurt los. Sie hatte gerade den Wechsel von Billy Corgan zu Kurt Cobain vollzogen und kam aus Chicago geflogen, wo sie die erste Nacht mit Kurt verbracht hatte und schwärmte nur, wie toll er ist. Ich sagte „Courtney, ich war mit dem auf Tour, das musst du mir das alles gar nicht erzählen.“ In meinem Kopf dachte ich nur: Gott im Himmel, was ist denn das für ein Tag-Team? Courtney hatte eine Kassette von Nevermind dabei. Sie saß mit dem Block da und machte sich Notizen: „Listen to this, he took this directly from the Pixies.“ Als es dann um LIVE THROUGH THIS ging, die ja erst vier Jahre später kam, erhielt ich einen Anruf von einer New Yorker Star-Anwältin, die sagte „Christof, Courtney hat bei Geffen unterschrieben, hier sind 75.000 Dollar und drei Punkte am nächsten Album, ist das okay für dich?“ Und? Das war die Zeit, in der die Majors in Deutschland noch voller Vokuhilas waren, die Winger-Aufsteller in ihren Büros stehen hatten. Also rief ich Courtney an, erklärte ihr: „Courtney, what are your favorite bands? Pixies, right? Alle coolen Bands sind auf Indie-Labels in Europa. Europa ist anders.“ Dann meinte sie: „You’re right“. Sie hat schließlich ihre Anwältin angerufen und den Deal verschoben. Das hat mein kleines Label in finanziell sicheres Fahrwasser geführt. Dumm war nur, dass sich ihr Gatte drei Tage bevor wir die Platte ausliefern konnten den Kopf weggeblasen hat. Wissen Sie noch, wo Sie waren, als Sie von Cobains Tod hörten? Bei meinem Kaffee- oder Wein- oder Käsehändler in Schöneberg. Haben Sie Courtney damals angerufen? Ich habe es versucht, aber sie nicht erreicht. Courtney war 1994 auf dem Höhepunkt ihrer messiness, die ganze Szene war ein Wrack, ständig starb irgendwer, es war bitter und traurig. Ich glaube, der deprimierendste Moment meines Lebens war das Reading Festival 1994. Courtney konnte fast nicht stehen, es war ein Debakel, und ich stand neben der Bühne mit einer Dame vom Gold-Mountain-Managament und sagte: „Man sollte diesem Spiel ein Ende bereiten, sie braucht Hilfe und nicht das hier“. Die Dame schaute mich an und sagte „Yeah, she’s a little drowsy today, isn’t she?“ Die Riesenmaschine war angelaufen und war dabei, Courtney zu überrollen. Wann haben Sie das letzte Mal mit ihr gesprochen? Lange her. Ich weiß aber noch, wie der Boss von Virgin Amerika bei einem Meeting verkündete: „Wir haben jetzt Courtney Love unter Vertrag genommen – one of the last female rock stars.“ Ich saß da und sagte: „Bist du bescheuert? Was hast du ihr denn angeboten?“ „Zwei Millionen, die haben wir doch sofort wieder drinnen“. Wahnsinn.
* –> I) Independent. Wofür steht Indie heute? Zu machen, was man will. Keiner kann mir sagen, du musst auf diese Platte jetzt Kopierschutz machen oder du kannst nicht eine Band wie Health veröffentlichen. Indie steht im tiefsten Sinne tatsächlich für Unabhängigkeit. Hat sich der Begriff verändert? Er ist zu einer Marke geworden, zur Schublade, in die alles hineingeworfen wird, was sonst nigendwo rein passt. Sie haben vorhin Caribou angesprochen, das ist ja elektronische Musik. Es gibt Menschen, die behaupten, dass Electro das neue Indie ist. Für mich ist Indie kein Genre. Das erklärt sich doch in uralten Begriffen. Es gibt Mainstream und Underground. Und Paul Kalkbrenner ist jetzt eben nicht mehr underground. Was nicht feindselig gemeint ist. Nur so als Feststellung. Hat nicht Independent Underground ersetzt? Als Begriff vielleicht. Nehmen wir Arcade Fire: nicht mehr underground, aber sehr independent. Ich bin sicher, auch U2 fühlen sich sehr independent, ich glaube nicht, dass die sich von ihrer Plattenfirma groß gängeln lassen.
* –> J) Jet well soon? Jet well soon und Jubiläum. Ah, Jubiläum. Das ist eine Sache, die mich echt stolz macht. Dass 20 Jahre vergangen sind und wir in den 20 Jahren nicht nur eine gute Zeit hatten, sondern auch sehr schöne Platten in die Welt hinausgetragen haben. Das Jubiläum wird im „Admiralspalast“ gefeiert. Ich wollte einen schönen Raum haben, und das ist jetzt ein besonders schöner Raum. Außerdem ist für jede Altersgruppe was dabei: Unten kannst du stehen, oben kannst du sitzen, hinten kannst du rausgerollt werden. Hinter der Bühne sollen die Bands sich wie eine Familie fühlen, das haben wir vor zehn Jahren auch schon so exerziert. Gab es da nicht Probleme mit dem Strom? Ein totales Fiasko. Irgendein Vollidiot hatte versucht, amerikanische Verstärker via Konverter an das deutsche Stromnetz zu hängen. Ira (Sänger von Yo La Tengo – Anm. d. Red.) steht da, Hände an der Gitarre, Mund am Mikrofon, PÄÄÄNG! Seine Haare stehen nach oben, Ira muss von den Samaritern behandelt werden, totale Katastrophe. Ich stehe mit Lee Hazlewood neben der Bühne, er dreht sich zu mir hin und sagt furztrocken: „I thought the Flaming Lips weren’t on until later.“
* –> K) Karibou? Nee. Katholisch? Was fällt Ihnen dazu ein? Ausgetreten. Irgendwann hab ich gedacht „Was ist denn das da, mit dem Papst?“ Wir dachten eigentlich an K wie Kinder. Heute morgen stand ich mit ner Jeans in der Küche und mein Sohn kam und sagte: „Papa, du siehst aus wie ein 47-jähriger Sack, der sich in ’ne Jeans zwängt, der glaubt sich mit einer Jeans zu verjüngen. Zieh doch wieder deine anderen Hosen an“ Ach ja? Wie alt ist Ihr Sohn? Vierzehneinhalb und ziemlich cocky. Weiß er, was für ein cooler Hund sein Dad ist? Er ist zumindest musikalisch extrem leidenschaftlich unterwegs – und natürlich in der musikalischen Früherziehung sehr von mir beeinflusst, aber längst flügge. Kein Chinesisch im Kindergarten, sondern City Slang? Genau. Bis zu dem Punkt, wo er zu Arcade Fire reingeht und sagt „Wie jetzt – kein Backstage-Pass?“ Wissen Ihre Kinder, womit der Vater das Geld verdient? Ich glaub‘ nicht, dass sie es inhaltlich übersehen oder begreifen können. Es ist wahrscheinlich sehr abstrakt, Papa sitzt vorm Computer und e-mailt, dann telefoniert er ein wenig und am Ende kommt eine CD dabei heraus. Meiner Tochter Olga ist Musik ziemlich egal. Manchmal bringe ich Musik nach Hause, die ihr gefällt und oftmals welche, die ihr nicht gefällt. So einfach ist das. Sie ist da eher von der Mutter geprägt, der ist Musik eigentlich auch ziemlich egal. Sie haben Ihre Frau nicht backstage bei irgendeinem crazy Konzert kennen gelernt? Um Gottes Willen, nein, ich hab meine Frau im Treppenhaus in Neukölln getroffen.
* –> L) Leidenschaft. Nein. Labels. Ja. City Slang war eine Zeit lang Teil des Konstrukts Labels, das niemand so recht verstanden hat. Es gab eine französische Virgin-Seiten-Garage, die hieß Labels, und kümmerte sich tatsächlich darum, Major-Label-Saft hinter Independent-Musik zu schieben. Diese Einheit wusste sehr genau, was sie tut. Die Jungs waren kreativ und music-minded. Virgin Frankreich hatte einen Vorturner namens Emmanuel de Buretel, der heute Because Records leitet, ein Supertyp von einem Entrepeneur. Über Because kommt Ed Banger – womit wir wieder beim Thema sind: Electro ist das neue Indie. Richtig. Aber Emmanuel ist immer da, wo Geld zu verdienen ist, wo es kulturell relevant wird. Irgendwann wurde er gefragt, ob er nicht Labels-Offices in anderen europäischen Märkten eröffnen will, und so kam es, dass ich irgendwann bei ihm im Büro saß und er sagte: „I want to work with you more closely, all the music we get from Germany is shit, they send us Die Toten Hosen and you send us Notwist, it’s different.“ Ich fragte: „Was passiert mit City Slang?“ Emmanuel antwortete: „We buy it“, was ich jahrelang ablehnte. So zogen fünf Jahre ins Land, Emmanuels Jungs vertraten City Slang in Frankreich, da rief er mich an und sagte: „Ich will jetzt enger mit dir zusammenarbeiten, komm, wir machen ein Labels-Office in Deutschland auf und du leitest das.“ Irgendwann gab es eins bei uns in der Skalitzer Straße, Virgin-Deutschland-Chef Udo Lange, Emmanuel und ich, wir besprachen die Details, los gings. Und das hat anfangs auch unheimlich viel Spaß gemacht, ich hab wahnsinnig viel gelernt in der Zeit und dachte, wir kriegen das wirklich hin, den Mainstream zu unterwandern mit guter Musik. Leider zerstörten ein paar Herren aus London bald unsere kühnen Pläne, 2004 ging das los. Plötzlich musste überall gespart werden, und am Ende lagen meine Platten vor einem Produktmanager, der hatte Lenny Kravitz, Janet Jackson und dergleichen auf dem Tisch. Super sinnlos. Fortan bestand meine Aufgabe darin, mit Bryan Ferry Mittagessen zu gehen. Ist doch sicher auch ganz nett. Sterbenslangweilig. Ein gestopfter, alter Millionär überlegt, ob er dieses Jahr im Sommer schon nach Martinique soll, weil Mick ihm erzählt hat, wie nett es dort im Sommer ist. Die Zeit ist, Gott sei Dank, vorbei.
* –> M) Eine Stadt sucht ihren Mörder. Mutter? Was sagt denn die Mutter darüber, was ihr Sohn so treibt? Schöne Sätze. Die Mutter meiner Mutter hat damals gesagt „Junge, ich wünschte, du würdest ein Fischbüdchen machen am Hamburger Hafen, dann wüsste ich wenigstens, was du tätest.“ Und Ihre Mutter? Freut sich, wenn sie irgendwas über City Slang in der Frankfurter Allgemeinen entdeckt. Dann ruft sie an und gratuliert. Mein Vater hat so lange nicht verstanden, was ich mache, bis ich ihm eine betriebswirtschaftliche Auswertung des Hole-Jahrs 1994/95 gefaxt habe. Seither war alles gut. Was hatte denn der Vater sich für den Sohn erhofft? Mein Vater war Apotheker, leider war ich schon das vierte Kind, das nicht Pharmazie studieren wollte. Wir dachten bei M an die Musikindustrie. Geht es der wirklich so schlecht? Findet nicht nur Umsatzverschiebung statt: Von Plattenverkäufen hin zu Konzerten und Merchandise? Das Gesamtvolumen scheint ähnlich hoch wie früher. Die Erhältlichkeit von Musik hat sich dramatisch gewandelt. Früher galt Musik als Rarität, heute gibt es sie im Überfluss. Für eine Rarität bezahlt man Geld, Überfluss, weil digital klonbar, ist wertlos. Das ist die eigentliche Paradigmenverschiebung. Und ja: Die Musikindustrie besteht nicht nur aus Plattenfirmen, sondern besteht auch aus Konzertveranstaltern und T-Shirt-Händlern. Und wenn man die Industrie so betrachtet, fand tatsächlich nur eine Globalisierung und Konzentrierung statt, so dass es jetzt neue Majors gibt. Sie heißen anders, nämlich William Morris, CAA, Live Nation und Clear Channel. Natürlich versuchen die alten Majors, Schritt zu halten, sie versuchen, sich breiter aufzustellen, kaufen sich hier Bravado und dort Management-Companies hinzu. Früher wurden Touren gespielt, um Platten zu verkaufen. Heute veröffentlichen die Bands Alben, um wieder auf Tour zu gehen. Absolut richtig. Hat Ihre Branche nicht auch einen Formatwechsel im Zeitalter des Digitalen verpasst? Die Wertigkeit ist dadurch verfallen, dass Musik digital klonbar wurde und dadurch überall gleichzeitig in gleich hoher Qualität verfügbar ist. Überall. Und daran trägt die Musikindustrie keine Schuld. Wie soll ich denn damit umgehen, wenn mein Inhalt, mein von mir hergestelltes Gut plötzlich komplett klonbar ist? Und so entwertet wird. Eigentlich ist es ja schade: Schließlich wird heute mehr Musik denn je gehört. Viel mehr. Und es wird aber auch mehr Musik veröffentlicht als je zuvor. Weil die Produktionsmittel demokratisiert wurden. Richtig, richtig. Und ganz ehrlich: Das kann sich kein Mensch mehr alles anhören. Das ist das eigentliche Problem unserer Zeit. Es wird viel zu viel produziert. Ich plädiere für eine Zensurbehörde. (lacht).
* –> N) Notwist. Die schönste Anekdote? Ich war dabei, als sich die Band 1989 im „Bootleg“ in Augsburg ein frühes Konzert spielte. Wir hatten gerade Glitterhouse in Howl umbenannt und lancierten das neue Fanzine mit dieser Party im Bootleg. Und dort spielten The Notwist, die Jungs hatten tolle Dreadlocks und klangen wie eine Mischung aus Dinosaur Jr. und Saint Vitus, kamen aus dem Hardcore und prügelten schon ganz schön drauf los. Jahre später kontaktierte mich ihr Manager und sagte: „Wir wollen auf der nächsten Platte weitergehen, in Deutschland haben wir mit SHRINK alles erreicht. Das kriegt unsere jetzige Plattenfirma nicht hin.“ Als ich die Demos von NEON GOLDEN im Rohstadium hörte dachte ich nur: „Oh mein Gott!“.
* –> O) Olpe, meine Oma? Wir dachten eigentlich an O wie Opfer, die man bringen muss. Als ich im August 2004 den damaligen EMI-Chef um meine Vertragsauflösung gebeten habe. Ich habe wirklich viel Geld verdient in der Zeit bei Labels, aber das Schmerzensgeld hat irgendwann nicht mehr gereicht. Ich musste da raus. Zumal ich damals einen Kreuzbandriss im Knie hatte, der nicht heilen wollte. Ich hatte tennisballgroße Zysten in der Kniekehle und bin von Arzt zu Arzt gerannt … Gerannt ja wohl nicht … Okay, gehumpelt. Irgendwann sagte eine Homöopathin zu mir: „Herr Ellinghaus, ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber ihr Knie wird nicht heil werden, solange Sie nicht in Ihrer eigenen Wahrheit leben“. Mit diesem Satz bin ich dann nach Köln geflogen, zum EMI-Chef. Der erste Satz meiner Kündigung lautete: „Ich lebe nicht in meiner eigenen Wahrheit.“ Hat keiner so richtig verstanden, den Eso-Kram. (lacht)
* –> P) P wie Profit. Was bleibt hängen, wenn Indie-Labels Erfolg haben? Genug, um die anderen durchzufüttern. Arcade Fire finanziert faktisch die Saison. Denn jede Arcade Fire finanziert uns hier eine Menomena oder auch eine Caribou.
* –> Q) Queen. (lacht). Ach ja? „Bohemian Rhapsody“ war das erste Lied, das ich auswendig konnte. Wir hatten eher an Q wie quit gedacht: Gab es jemals einen Moment, in dem Sie alles hinschmeißen wollten? Am 23. November 1993. Ich hatte einen Partner in dieser Firma, Klaus Unkelbach. Der ist am 23. November 1993 gestorben. Ohne Vorwarnung, einfach so. Wir sind raus aus dem Büro und drei Stunden später war er tot. Hauptschlagader, irgendwas verstopft, geplatzt, Lungen mit Blut gefüllt, innerhalb von drei Minuten tot. Und als Klaus von einem Tag auf den anderen tot war, dachte ich: So, das war’s jetzt. Irgendwann ging der erste Schock vorüber und ich fragte mich, was ich stattdessen machen könnte? Womöglich meinen Uni-Abschluss? Was haben Sie studiert? Geschichte, Publizistik und Politologie, ich wollte Journalist werden.
* –> R) R wie Reammon. Bitte nicht! Doch! Okay, ein wichtiges Kapitel bei Labels, das dann schon zu Virgin mutiert war, das abschließende sozusagen, weil die anstehende Vertragsverlängerung von Reammon der Moment in meinem Leben war, in dem ich wusste, dass jetzt Schluss sein muss. Was war denn so schlimm an Reammon? Alles. Die erste Band, bei der es einfach gar keine Berührungspunkte gab. Nichts. Nicht musikalisch, nicht handwerklich, nicht einmal Sympathie. Da merkte ich plötzlich: Okay, ich bin jetzt vor einen Konzern gespannt, für den ich eine Band unter Vertrag nehmen muss, für die ich 0,0 Prozent Respekt habe, die ich hasse, die ich verachtenswürdig finde – und ich soll denen jetzt erklären, wie geil wir sind. Das ist natürlich auch hochgradig gescheitert. Wir haben uns sofort gehasst. Die gute Nachricht kam vergangene Woche: Reammon trennen sich. Naja, keine gute Nachricht, weil für jede Band wie Reammon gibt es ja mittlerweile auch eine Unselig oder Unheilig.
* –> S) Superchunk, Sebadoh. Sweatshop. Stimmt. Das war die Agentur vor City Slang. 1988 haben wir eine Booking-Agentur aufgemacht, Camille Lemmens aus Holland und ich, hier in Berlin im vierten Stock in Neukölln, im ersten Stock wohnte meine Freundin, unten durfte ich wohnen, oben musste ich arbeiten. Leider kam nicht viel dabei rum: Camille haute deswegen auch gleich wieder ab nach Holland. Und bevor ich die Sache hinschmeißen konnte, wurde mir angeboten, eine Tour zu machen mit einer Band namens Nirvana. Was für ein Mensch war der junge Cobain? Wahnsinnig schüchtern, eigentlich ein sehr ruhiger Mensch, der plötzlich auf der Bühne explodierte. Er war keine Diva, drehte jedoch völlig ab, wenn das Mikro nicht funktionierte. Und selbst wenn alles gut lief, musste er am Ende das Schlagzeug zerstören. Der arme Chad hatte dann immer diesen Typen auf seiner Snare liegen. (lacht). Und auf der Tour mit Tad hat sich ja Tad auch noch mit ins Schlagzeug geworfen. Das war 1989, der 11. November, wir standen 15 Stunden im Stau auf der Transit-Autobahn, die Nerven lagen blank. Die Jungs hatten gar kein Verständnis dafür, dass die ganzen Trabis nach Berlin wollten, sie regten sich furchtbar über „these funny cars everywhere, these little ones“ auf. Dass gerade Geschichte geschrieben wurde, war ihnen vollkommen egal.
* –> T) T wie Tortoise. Tortoise war die Band, die mich nach dem ganzen Grunge-Kram gerettet hat. Also 1995, als dann wirklich Stone Temple Pilots und jeder Mist, der irgendwie langhaarig und betroffen klang mit den gleichen Akkorden industriemäßig in die Charts gedrückt wurde. Plötzlich kommt eine Band aus Chicago, die nur aus Drummern und Bassisten besteht. Sechs Monate lang hörte ich diese erste Tortoise-Platte und saß davor wie vor böhmischen Dörfern. Und hab‘ versucht, zu verstehen, was die da machen. Kapiert habe ich es nie, aber ich fand es einfach genial. Wie steht es um T wie Talent? Ja, da waren Talente am Werk. Welche Talente haben Sie verpasst, abgelehnt? Ich habe mal Spoon abgelehnt. Aber da stehe ich auch zu, ich fand die sterbenslangweilig, vor allem live.
* –> U) Underground, Unabhängigkeit, aber das hatten wir schon. Universität des Lebens. Oh, ich dachte jetzt Universal. Nein, drei Tipps für junge Labels. Versuch nicht, wie ein Major Label zu agieren! Mach ausschließlich Dinge, an die du glaubst!. Und das Allerwichtigste: Halte die Kosten im Griff.!
* –> V) Verlag. Hätte ich nur schon vor vielen Jahren meinen Verlag gegründet. Verlag ist so ein herrlich entschleunigtes Geschäft, wenn die Hole-Platte von damals heute noch im Radio läuft, kriegt der Verlag heute immer noch Kohle. Oder „Happy Birthday“. Das ist der teuerste Song. Ganze Filmszenen müssen umgeschrieben werden, weil sie aus Versehen irgendwie diesen Song im Film drin haben und ihn sich nicht leisten können. Ein zeitloses Business. Der eine oder andere Verleger steht mehr auf dem Golfplatz oder Segelboot als im Büro. Wir dachten eher an etwas romantisches mit V … Vattenfall (lacht). Okay, Vinyl. Klingt einfach besser. Vinyl erweitert das Spektrum des Klanges, man hört mehr, man hört anders. Ist Vinyl der physische Tonträger der Zukunft? Also Vinyl plus Downloadgutschein? Wir haben uns schon mehrfach gefragt, ob wir gewisse Platten überhaupt noch auf CD veröffentlichen sollen. Was machen die Leute denn mit einer CD? Sie schieben sie in irgendwelche Schlitze, laden sie auf ihre Peripheriegeräte und die CD verstaubt im Regal. Aber Vinyl ist auch ein Zuschussgeschäft. Der Break-even bei Vinyl ist irre hoch. Das rechnet sich bei vielen Newcomern einfach nicht.
* –> W) Fällt mir nichts ein. Drei Worte. World Wide Web? Nein, deutsch. Wir sind Helden. Ich hab die neue Platte immer noch nicht gehört. Dabei haben Sie die Band doch entdeckt, zumindest will es die Legende so. Ich saß im Auto, sie spielten die Helden und ich dachte, das ist Mia. Dann fiel mir jedoch der total gute Text auf. Ich parkte den Wagen und blieb sitzen, weil ich das Lied zu Ende hören wollte. Ich wusste schon, was dann kommen würde. Der Moderator sagt: „Ja, das war die neue Mia“ – und ich ärgere mich, weil ich schon vorab beschlossen hatte, Mia nicht gut zu finden. Dann sagte er: „Das waren Wir sind Helden“ und ich dachte: „Was für ein Scheißname!“ Noch am selben Tag rief mich Walter Holzbauer an und beschimpfte mich: „Alle rennen mir hier die Bude ein, wegen dieser Band, weil die im Radio läuft, nur ihr nicht“. Aber die Legende will, dass Sie früh dran gewesen sind. Es gab noch keine Veröffentlichung zu kaufen, okay. Aber wenn eine Band schon im Radio läuft, kann ja wohl von früh keine Rede sein.
* –> X) XXX. Welche Anekdote fällt Ihnen ein, die immer noch eine Gänsehaut verursachen, kurz vorm Einschlafen. Ich hab mal David Yow von Jesus Lizard in New York auf einem richtig großen Schiff über die Reling gehalten und fallen gelassen. Wir waren betrunken, haben rumgealbert und plötzlich war er weg. 15 Meter nach unten ins Wasser gefallen, nachts, in den Hudson. Der blanke Horror. Ich starre nach unten, nichts, der Kerl taucht einfach nicht wieder auf. Ich war auf einen Schlag wieder nüchtern. Dann kommt er plötzlich hoch und paddelt ganz entspannt auf dem Rücken durch den Hudson zurück zum Pier, klettert da irgendwie hoch und steht eine Minute später, nass wie ein Pudel, vor mir und sagt: „That was the greatest moment of the whole weekend.“
* –> Y) Herr Koch, Sie schauen, als müsste mir da sofort etwas einfallen. Herr Ellinghaus, da muss Ihnen sofort etwas einfallen! Yo La Tengo! Yo La Tengo! Eine traurige Geschichte. Wir haben sieben Platten zusammen gemacht und dann befahl Matador: „Wenn ihr auf Matador USA sein wollt, müsst ihr auch auf Matador Europa sein.“ Das war natürlich für das Label strategisch wichtig, aber für mich bitter. Ich mochte die Band gerne, endlich mal Künstler mit Haltung. Die sich wie bemerkbar gemacht hat? Als eine Dame von BMW anrief und sagte „Wir stellen uns vor, dass Quentin Tarantino einen Spot dreht, in dem ein Mann einer Frau die Brust ableckt, dafür würden wir gerne ‚Nowhere Near‘ verwenden“. Ira meinte nur: „Ey, das ist unser Lied. Was sollen wir denn beim nächsten Konzert sagen? ‚Now we are playing the BMW-song?'“ Wir einigten uns darauf, ein sehr ähnliches Stück für BMW zu komponieren, doch BMW wollte nichts Ähnliches, sondern genau dieses eine Lied. Ich rief Ira an, überbrachte die Botschaft und hörte nur, wie er sagte: „Georgia, cancel that swimming pool!“
* –> Z) Zola Jesus. Die ist nicht auf City Slang, leider. Zwanzig Jahre. Eine lange Zeit. Werden Sie in 20 Jahren noch hier sitzen? Mit 66 auf gar keinen Fall. Mit 65 vielleicht.
Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums von City Slang liegt dieser Ausgabe eine CD-Compilation des Labels bei. Mit raren und exklusiven Songs von Bands wie Arcade Fire, The Notwist, Hole, Calexico, Nada Surf und Get Well Soon.