The Cure


Frontman Robert Smith erwies sich vor Tour-Start nicht gerade geschickt in Sachen Eigen-PR, als er in einem Interview verriet: „Im Moment verspüre ich keinen besonderen Drang aufzutreten.“ Die Presse unkte freudig hinterher – fett sei er geworden, lethargisch und alt.

Smiths treue Gefolgschaft in Schwarz läßt sich von derartigen Horror-Meldungen nicht beirren und pilgert selbst im Dancefloor-verseuchten München relativ zahlreich in die (allerdings nicht ausverkaufte) Olympiahalle. Eine erholsame optische Abwechslung: Im Gros der Sekretärinnen und Bankbeamten hatte man seine Probleme, das nötige Underground-Gefühl zu verspüren.

Nach den unbestritten feinsinnig melodiösen Klängen der Vorgruppe Shelleyan Orphan, die in diesem großen Rahmen leider etwas unterging, präsentieren sich Smith und Band hingegen in alter Frische – oder besser: in jungenhafter Gruftlaune.

Zu den verträumt verschlafenen Sphärenklängen, mit denen „Plain Song“, der Opener der neuen LP DISINTEGRATION beginnt, schlurft Smith auf die Bühne. Ein Bild, das beim weiblichen Publikum immer noch den Ansatz von Muttergefühlen auslöst: das bleiche Gesicht unter der abstehenden schwarzen Mähne, der schwarze Pulli mit den viel zu langen Ärmeln und die notorisch offen baumelnden Schnürsenkel an den Teenager-Turnschuhen. Mit 30 ist Smith immer noch der kleine verstörte Junge par excellence.

Und der setzt auch gleich in diesem ersten Stück zum Schmerzensschrei an. Über den seltsam schleppenden Keyboards von Roger O’Donell, der nach dem Weggang von Lol Tolhurst Alleinherrscher an den Tasten ist, tönt Smiths brüchige Stimme wie aus weiter Ferne. Eine seltsame Magie, die leise schleichend ihr Netz über den Saal wirft. Gleich darauf die nächsten beiden Songs aus DISINTEGRATION: „Pictures Of You“ und „Closedown“ beschwören eindringlich die träge Melancholie, die das gesamte neue Album durchzieht.

Die perfekte Inszenierung des Smith-’schen Leidens auf der kühl schwarzweiß marmorierten Bühne. Alle anderen Musiker bleiben im Scheinwerferlicht bloß schwarze Schattenrisse oder werden zu gespenstisch weiß strahlenden Statisten der bewegenden Ein-Mann-Show.

Smith beherrscht die Alleinregie, schwenkt nach dem neuen Material um auf ein Feuerwerk an Cure-Standards. „Kyoto Song“, „A Night Like This“, „Just Like Heaven“ bringen Leben ins Publikum – und Smith selber bei der 81er Single „Primary“ zum Tanzen. Im Farbgewitter der Scheinwerfer, die Lichtkegel in allen Spektralfarben wild über die Bühne jagen, dreht er sich mit ausgestreckten Armen wie ein linkischer Derwisch. Ein Anblick, der offensichtlich selbst eingefleischte Fans staunen macht.

Auf überraschte Zurufe aus dem Publikum, meint er verschämt: „Das ist das erste Mal seit drei Wochen.“

Die Zeitreise durch zehn Jahre CURE überzeugt, nicht zuletzt durch eine Lichtregie, die mit überwältigenden Effekten und intensiven Farbbildern zwischen ewigem Eis und Höllenfeuer aus dem Bühnenspektakel einen wahren Psycho-Trip werden läßt. „Charlotte Sometimes“ strahlt in kühlem Blau, bei „In Between Days“ treffen weiß gefächerte Lichtkegel auf Hauptakteur Smith, „The Forest“ taucht die Bühne in ein tiefes Grün. Akkurat gesetzte Akzente, die vergessen lassen, daß sich für ein Live-Konzert verdammt wenig tut auf der Bühne. Außer: immer wieder Smith, der sich die Haare rauft, die Hände vors Gesicht schlägt, oder selbstvergessen mit seiner Gitarre unterhält.

Aus der nostalgischen Begeisterung führt er seine Zuhörer wieder in die Gegenwart zurück und beschließt das Programm mit dem Schlußseufzer aus dem Titeltrack des neuen Albums: „How the end always is.. .“ Dreimal läßt sich der Alptraumprinz darauf noch auf die Bühne bitten, um einige seiner Perlen aus alter Zeit zu verstreuen. „Why Can’t I Be You“, „Hot, Hot, Hot“ und natürlich – vom Publikum von Anbeginn vehement gefordert – „Boys Don’t Cry“.

Drei Stunden (!) Cure live – Hochstimmung stellt sich dabei keine ein, aber die Überzeugung: Ein kleiner Junge hat ein unvergeßliches Konzert abgeliefert. Daß er „fett und häßlich“ ist, konnte dabei nicht mehr ins Gewicht fallen.