The Cult
Wohin die Reise gehen soll, wissen sie anscheinend selbst nicht so genau. Ian Astbury und Billy Duffy haben es als Punks versucht, als Hippies und als Led Zeppelin-Clones. Warum sie nun sicher sind, auf der richtigen Route zu sein, erfuhr ME/Sounds-Mitarbeiterin Sylvie Simmons bei einem Gespräch in London
SONIC TEMPLE, das vierte Album von The Cult, liegt irgendwo zwischen der Hippie-Mystik von LOVE und dem Giganto-Rock von ELECTRIC: Nach jahrelangen Identitätskrisen haben The Cult die Streitfrage, ob sie nun eine amerikanische Rockband oder lieber Led Zeppelin sein wollen, anscheinend ad acta gelegt und sich entschlossen, beides zu sein. Um der Sache ein wenig nachzuhelfen, sind sie von England nach Los Angeles umgezogen, haben ihr englisches Management gegen das amerikanische Turbo-Modell umgetauscht, diverse Entziehungskuren erfolgreich abgeschlossen und für das neue Album Bob Rock angeheuert, Soundmeister von Bon Jovi und der Thronanwärter-Konkurrenz Kingdom Come.
Der Wendepunkt, so versichern Ian Astbury und Billy Duffy beim Interview in London, war die 1987er „Electric“-Tour, ein Mammutunternehmen, bei dem sich Berichte über Drogen, Verhaftungen (in Texas wegen Fluchens auf der Bühne und in Kanada wegen tätlicher Auseinandersetzung mit einem Rausschmeißer) sowie alkoholbedingte Prügeleien nur so häuften.
„Das war unsere längste Tour ohne Pause“, sagt Duffy, „und dabei kamen ein paar ziemlich üble Sachen zum Vorschein. Wir verloren durch die lange Abwesenheit von Zuhause ein bißchen die Orientierung.
„Diese Tour hat uns beinahe den Rest gegeben“, sagt Astbury. „Es war so, als ob du jeden Tag in einem anderen Stones-Song lebst! Die Konzerte waren gut, sogar am Anfang, als wir Vorgruppe für Billy Idol waren. Aber die Zeit dazwischen war wie ein großes graues Meer, in dem ich regelmäßig unterging, und der einzige Rettungsanker war die Bar. Ich soff quer durch die Getränkekarte.
Ich glaube, auf Tour kommt deine wahre Persönlichkeit zum Vorschein, du legst einfach alles ab, was man dir anerzogen hat, und kommst ziemlich steinzeitmäßig drauf, verwandelst dich in ein sehr primitives, einfach nur funktionierendes Ding.
Nach der Tour nahmen wir ein paar Wochen Urlaub voneinander und als wir uns wieder trafen, hatten wir alle das Gefühl, einen schrecklichen Tour-Hangover zu haben. Wir sahen uns an und sagten: Mist, es gibt uns immer noch. Wir haben’s überlebt‘!“
Zwei von ihnen jedenfalls. Für Schlagzeuger Les Warner war anscheinend „der Lebensstil wichtiger als die Musik“ – frei übersetzt: Er trank selbst Astbury unter den Tisch – und Bassist Higgins, auch als Kid Chaos bekannt, ging mit einer neuen Band, The Four Horsemen, nach New York zu Def Jam, dem Label des ELECTRIC-Produzenten Rick Rubin.
Duffy zog nach L.A. „Als ich nach der ,Electric‘-Tour zurück nach London kam“, sagt Duffy, „und wir all diese Säuberungsaktionen begannen – die Band verkleinern, neues Management suchen – dachte ich: ,Eigentlich will ich hier gar nicht sein‘. Ich brauchte ein bißchen mehr Herausforderung. Als ich 17 war, bedeutete es eine Herausforderung, von Manchester nach London zu gehen, aber die Reize begannen schnell zu verblassen. Deshalb zog ich nach L.A., nur um mal zu sehen, was da so los ist.
Dann kam Ian rüber, und wir fingen an, Songs zu schreiben, fanden einen Manager und dachten: warum diese Sache nicht einfach laufen lassen?“
„Ich mag diese Stadt“, sagt Astbury. „Guter Ort für einen Musiker. Was mich in Amerika am meisten inspiriert, sind all diese Extreme. Wenn in Amerika einer was anfängt, macht er’s 150-prozentig. Wenn einer Mörder sein will, wird er Massenmörder. In Amerika gibt es viel mehr Schwarz und Weiß, während in England eher Grau vorherrscht, der Boden unter deinen Füßen verändert sieh ständig. In Amerika hast du unveränderliche Grundlagen: Sex und Gewalt. Sehr inspirierend. Wenn wir ,Soul Asylum‘ in England aufgenommen hätten, ich bin sicher, sie hätten gesagt: ,Das könnt ihr nicht bringen, das ist zu ausgeklinkt.
Tatsächlich sagten sie, es klänge zu sehr nach Led Zeppelins „Kashmir“. Die Band schäumt.
„Ich finde nicht, daß wir geklaut haben“, sagt Duffy. „Wenn du dir ,Kashmir‘ anhörst, wirst du feststellen, daß der Beat nichts weiter als der natürliche Herzschlag ist, und darauf haben Zeppelin kein Copyright. Es gibt uns ja schließlich nicht erst seit gestern – wir haben eine Menge Lehrgeld bezahlt. Wir sind oft gegen den Strom geschwommen und haben das Recht, jeden verdammten Drum-Beal in unseren Songs zu verwenden, auf den wir Bock haben. Es ist wirklich lästig, sich jedesmal für solche Sachen rechtfertigen zu müssen. Über Led Zeppelins Einflüsse redet keiner, z.B. daß sie ganze Blues-Stücke geklaut haben und hinterher behaupteten, sie hätten sie selbst geschrieben!“
„The Cult sind The Cult“ , sagt Astbury. „Wir legen’s nicht drauf an, die neuen Led Zeppelin zu sein. Am Anfang waren unsere Einflüsse sicher sehr dominierend – wir waren schließlich auch eine der ersten Post-Punk-Bands, die öffentlich erklärten, auf Led Zeppelin zu stehen – aber seitdem haben wir unsere eigene Identität entwickelt. Das LOVE-Album ist ein Aspekt davon, ELECTRIC ist ein anderer und SONIC TEMPLE die natürliche Weiterentwicklung.
Als wir in den Staaten auf Tour waren, kam mir diese Vorstellung, daß Rock-Konzerte eine Art spirituelles Erlebnis sind Damit will ich nicht sagen, wir sind Götter, aber es gibt tatsächlich diesen religiösen Aspekt, und deswegen ist eine Konzerthalle so etwas wie ein ,Sonic Temple‘.“
Einstimmig wird erklärt, man sei „sehr optimistisch“, was die ins Haus stehende Welt-Tournee anbetrifft, trotz der 87er „Leidens“-Tour. Dieses Mal wurden Leute engagiert, die „uns beschützen und ein bißchen vor dem Abgrund abschirmen“.
„Scheiße passiert immer“, sagt Astbury, „und wir versuchen, nicht allzu streng miteinander zu sein, weil wir uns eigentlich alle wie Brüder fühlen. Am besten kann uns immer noch die Musik schützen. „