Tanklastzug und Kajak
Wer „Gekommen um zu bleiben“ nicht ernst nahm, hat die Leidenschaft dieser Band unterschätzt. Nach einer selbstverordneten Pause sind Wir sind Helden zurück. Mit ihrer lyrisch dunkelsten und musikalisch reizvollsten Platte und um zwei Kinder angewachsen zum Familienbetrieb. „Manchmal fühlt man sich so wendig wie ein Tanklastzug“, sagt Judith Holofernes. „Dabei sollte man als Band die ganze Zeit Kajak fahren.“
Danny Engel ist ein Mann, der Sachen auf die Reihe kriegt. Ein Zuwegebringer, ein Bewerkstelliger, wörtlich übersetzt: ein Manager. Das ist sein Talent, das ist sein Beruf, den er mit ebenso bewunderns- wie beneidenswert zurückgelehntem Gleichmut ausübt. Wenn einen der Wahlhamburger, der seine Skillz vorrangig in den Dienst der hanseatischen Hip-Hop-Szene stellt, in einem Biergarten in Kreuzberg über sein aufgeklapptes Laptop hinweg (Danny Engel hat so gut wie immer sein Laptop aufgeklappt und bewerkstelligt gerade irgendwas) angrinst und sagt: „Diese Band treibt mich in den Wahnsinn!“ (wobei außer einem kleinen Flackern in den Augen nichts an ihm auf Gestresstheit oder gar bevorstehenden Wahnsinn hindeutet), dann ist klar: Wir sind Helden sind wieder unterwegs.
Der Band, die alles ein bisschen eigensinniger und komplizierter angeht als vergleichbar erfolgreiche Acts, ist Engel seit über sieben Jahren als Quasi-Manager (von Rechts wegen fungieren die Helden seit schlechten Erfahrungen mit abgefeimten Popvermarktern am Anfang ihrer Karriere als ihr eigenes Management) und Organisations-Allesmann auf Gedeih verbunden. Und hat in dieser Zeit sicher seinen Teil an Duldsamkeit und Psychologie dazugelernt. Nach zweieinhalb Jahren Pause – der längsten der Bandgeschichte – haben sie jetzt eine neue Platte gemacht. Von März bis in den Mai hinein wurde in Berlin aufgenommen (siehe ME 8/2010). Und weil die Zeit sich so beeilt, sind Judith Holofernes, Pola Roy, Jean-Michel Tourette und Mark Tavassol jetzt, Mitte Juli, bereits auf Promotion-Tour. BRING MICH NACH HAUSE heißt das vierte Werk, und zumindest Judith und Pola haben es heute nicht mehr weit bis zu ihrer Wohnungstür. Am Ende eines langen, heißen Tages treffen wir uns in einem Café gleich um die Ecke der Familie Holofernes-Roy, für Interview und Getränke.
Später am Abend ist dann noch ein Zusammensetzen mit Danny Engel anberaumt, dessen Mission es ist, dem notorischen Diskussionskomplex WSH ein paar Entscheidungen abzuringen, was die Gestaltung des neuen Tonträgers angeht. Vor einigen Tagen haben die vier einen langen, anstrengenden, tollen und ebenfalls nicht kühlen Tag im Umland Berlins verbracht und mit einem Team der Berliner Visual-Agentur Billy & Hells Fotos gemacht. Es ist die Rede von einer Waldsession, einer Bootsession, einer Seesession und gar einer Wüstensession.
Jeder findet was anderes gut fürs Cover und fürs Booklet und wieder was anderes für Pressefotos und … „Es wäre verdammt wichtig“, sagt Danny ohne großen Alarm im Tonfall, „dass bis Freitag zumindest das Frontcover entschieden ist, sonst gehen alle Monatszeitschriften ohne Coverabbildung raus …“
Complication situation?
Judith: Ach, ein wenig. Wir haben uns in den Kopf gesetzt, dass wir diesmal einen großen visuellen Bogen haben wollen mit Coverfotos, Pressefotos, Videos, die aufeinander aufbauen – dass das alles eine Geschichte erzählt.
Und es zieht sich wieder hin, weil eure konsequente Banddemokratie die Entscheidungsfindungen nicht unkomplizierter macht. Danny meinte gerade, bei der Auswahl der Mixes der Songs sei es zuletzt auch eng geworden.
Pola: Ja, das war sehr aufwändig. Wir hatten am Ende von jedem Song zwei alternative Mixe, weil wir uns das offen halten wollten.
Mark: Ich war in der Zeit eine Woche in Urlaub in Spanien – den hab ich weitgehend vorm Laptop und am Telefon verbracht. Du hast von verschiedenen Seiten nach und nach Mixes bekommen und musstest die kommentieren. Dann kam die revidierte Version und die musste dann noch mal genau so umständlich mit allen besprochen werden.
Judith: Das ging mit ganz engen Zeitfenstern. Du kriegst einen Anruf: „Ich hab jetzt den Mix von Dingsdabums auf den Server gestellt und brauch in der nächsten Stunde Feedback!“ Und wir standen gerade auf einem Spielplatz oder dem Bergmannstraßenfest in Kreuzberg und haben dann völlig bescheuert, mit Kopfhörern und zwei Kinder sortierend – „Nein, nicht auf die Straße!“ – die Stücke abgehört.
Jean: Währenddessen war auch noch Fußball-WM!
Ihr habt euch diesmal sogar professionelle Hilfe geholt und als Band eine Art Supervision gemacht. Ein Coaching zur Stressreduktion?
Mark: Ja – aber das ist jetzt zuletzt auch wieder eingeschlafen vor lauter Stress. (Gelächter) Wir mussten das am Ende absagen. Es war aber sehr hilfreich, eine Außenansicht zu bekommen.
Pola: Zuletzt mit einem Kind auf Tour haben wir gemerkt, dass es uns eigentlich überfordert hat. Und jetzt haben wir drei Kinder – wir zwei, Jean eins -, leben weiterhin in drei verschiedenen Städten und haben uns gesagt: Wir müssen das für diese neue Runde irgendwie organisiert kriegen, dass es ein Leben wird und nicht nur ein Kampf. Da kam der Gedanke, jemanden dazuzuholen, der uns hilft, entlastende Strukturen reinzukriegen.
Und, hat’s funktioniert?
Judith: Viele Verschleißerscheinungen bei uns hatten ja mit unserem hehren Anspruch zu tun, dass wir keinen Manager wollten, dann aber mit Danny doch einen haben, der aber wiederum kein richtiges Mandat hat, und irgendwie sind wir auch unsere eigenen Manager … Ganz viele Unklarheiten. Wir haben uns viele Sachen komplizierter gemacht, als sie sein müssten, und hatten dadurch extreme Reibungsverluste.
Pola: Das sind halt immer noch die Strukturen einer kleinen Indie-Band, die fröhlich durch die Lande getuckert ist. Und auf einmal waren wir eine viel größere Band und haben teilweise über Jahre Sachen nicht zu Ende gedacht.
Aber der Plan ist schon: mit Kind und Kegel auf Tour? Klingt romantisch.
Pola: Na ja. Der romantische Gedanke wurde uns auf den ersten Touren mit Kind recht deutlich ausgetrieben. Es war schon auch wirklich schön, aber wenn man’s richtig romantisch haben wollte, müsste man sagen: Wir machen das jetzt zwei Jahre, wir leben jetzt so. Aber mal eben so ein paar Wochen einen Busausflug, mit den ganzen Kindern … es geht momentan mehr darum, das lebbar zu machen.
Seit zwei Tagen seid ihr jetzt mit der neuen Platte auf Promo-Tour. Was schlägt euch entgegen?
Pola: Hass. Blanker Hass.
Judith: Freundliches, entspanntes Wohlwollen. Es ist nicht mehr alles so flirrig aufgeladen. Bei der letzten Platte (SOUNDSO, 2007; Anm. d. Red.) hatte man das Gefühl, man tritt gar nicht mehr als Menschen auf, sondern ist nur noch „Phänomen“ .
Pola: Man denkt ja nach einer Platte immer: Wir haben uns total entwickelt, und das müssen jetzt alle merken. Bei SOUNDSO war ich etwas überrascht, dass das so wenig wahrgenommen wurde. Das erste Feedback auf BRING MICH NACH HAUSE ist jetzt so: „Das ist ja wirklich ziemlich anders geworden“.
Jean: Für einen selbst ist die Musik, die man macht, wahnsinnig komplex und man wüsste gar nicht, welche Überschrift darüber passen sollte. Und Journalisten versuchen natürlich eine Überschrift zu finden, und da ist das interessant, wenn jemand von einer „Folkplatte“ spricht. Es sind ja folkige Elemente drin, und das ist sicher auch neu für uns. Aber „DIE Folkplatte“?
Wenn du da aber auch mit Banjo und Akkordeon ankommst! Ihr habt schon bewusst euren Sound verändert. Beim Studiobesuch hab ich mal einen Satz gehört à la „Das klingt sehr nach ‚alte Wir sind Helden‘ …“
Jean: Eine wichtige Entscheidung war, dass wir den Großteil der Platte live einspielen wollten. Vor allem Pola hatte sich das lange gewünscht, der war richtig fanatisch: am liebsten ohne Overdubs! Ein für mich entscheidender Moment, in dem ich gespürt habe, wie man den Sound erweitern kann, ohne irgendwelche absurden Schalmeienchöre oder Sinfonieorchester dazuzuholen …
Ihr habt mit dem Engländer Ian Davenport gearbeitet, nach drei Alben mit eurem angestammten Produzenten Patti Majer – eine Richtungsentscheidung?
Mark: Die Entscheidung, die nächste Platte mit einem neuen Produzenten zu machen, fiel schon bei der Produktion von SOUNDSO, einvernehmlich mit Patti. Ein neuer Produzent kann dich als Band dazu bringen, im besten Fall über dich hinaus zu wachsen. Weil die Routine aufgebrochen wird und man neu herausgefordert ist.
Jean: Ian hat sich auf der einen Seite schnell totale Autorität bei uns erspielt – was gar nicht so leicht ist, dass wir jemandem einfach vertrauen. Und uns auf der anderen Seite ein Gefühl von Sicherheit und fast schon Geborgenheit gegeben. Die Sachen neben der Musik haben gestimmt – der Humor, das Rumhängen, das Quatschen. Das hätte auch komplett in die Hose gehen können.
Mich hat gewundert, wie reibungslos die Kommunikation zwischen Ian und euch auf Englisch über so etwas ohnehin schwer in Worte zu Fassendes wie Musik lief. Wusste man immer, was der andere meint? Man hat doch seine eigenen Jargons.
Jean: Wir haben uns bandintern über Jahre auf einen eigenen Wortschatz eingeschossen, von „prökelig“ bis dorthinaus. Die Adjektive zu finden war die größte Hürde. Aber mit einer Standleitung zu leo.org ging das. Trotzdem hatte ich über einen Zeitraum von knapp zwei Wochen ein Wort, das Ian ungefähr in jedem zweiten Satz benutzte, völlig falsch abgespeichert. Das war „subtle“ – also: subtil. Aber man spricht das „sattl“ aus, und ich hatte das irgendwie im Kopf mit „gesettelt“, „im Sattel sitzen“. Ich hatte dann dieses Bild, „ich muss mich mehr reinsetzen“. Ian meinte aber: „nee, subtiler“.
Irgendwann war’s dann subtil genug?
Jean: Vermutlich. Oder er hat aufgegeben und es durchgehen lassen. Jedenfalls hat er irgendwann „Okay, we’re done“ gesagt.
Ihr werdet ja als Band mit politischer Meinung wahrgenommen, auf SOUNDSO waren auch noch einige im weiteren Sinn politische Songs drauf. Auf der neuen Platte fehlen solche Songs – und das in einer Zeit, da es mehr Anlässe gäbe denn je. Ist das der Rückzug ins Private?
Judith: Ich habe das Gefühl, dass ich alle Lieder, die ich zu dieser Krise hätte schreiben können, eh schon geschrieben habe. Ich hatte für diese Platte ein paar Songs in diese Richtung angefangen, und dachte dann immer nur: Hier war ich schon überall. Das ist doch eigentlich nur wieder ein anderer Blickwinkel auf etwas, was entweder schon in einem Song steckt oder was ich in Interviews tausendmal gesagt habe. Ich hatte komischerweise auch gar nicht das Gefühl, dass ich jetzt gefragt wäre, mir ist das gerade sehr fern. Der Kapitalismus singt sich seine Untergangslieder ja gerade selbst. Und vielleicht war ich meiner selbst da auch überdrüssig. Die aufregenderen Sachen kann ich erzählen, wenn ich da hingehe, wo sich mehr verändert, und das ist mein Innenleben. Da hat sich für mich Eklatanteres getan als im Weltgeschehen.
Tatsächlich? Schlimmer als die Weltfinanzkrise?
Judith: Ich hab jedenfalls auch nicht so geil gewirtschaftet mit meinen Ressourcen in den letzten Jahren.
Der Kurzschluss wäre: Okay, die hat jetzt Kinder und deshalb andere Sachen im Kopf. Oder verfolgst du das Weltgeschehen in all seiner deprimierenden Detailfülle?
Judith: Im Moment tatsächlich nicht, weil ich dazu zu empfindsam bin. Ich nehme das Weltgeschehen derzeit zu persönlich. Wenn man kleine Kinder hat, kann man keine Nachrichten lesen mit irgendwelchen Verunglückten- oder Opferzahlen, ohne zu denken: Jemandes Vater – jemandes Mutter – jemandes Kind. Das ist alles viel fühlbarer und schwerer zu verkraften. Das heißt nicht, dass ich jetzt mein politisches Herz aufs Abstellgleis stelle. Aber ich muss es, um noch handeln zu können in dieser Welt, ein bisschen besser beschützen.
Was sind denn beliebte Missverständnisse über Wir sind Helden?
Pola: Dass wir zu allem eine Meinung haben. Man sollte die Meinung, die man hat, vertreten. Aber ich find’s genau so wichtig für eine reife Persönlichkeit, zu manchen Sachen zu sagen: Keine Ahnung. Ist mir Latte. Hab ich keine Meinung zu – oder eine zu wenig reflektierte, um sie jetzt kundzutun.
Judith: Eins, das hauptsächlich mich persönlich angeht, ist, dass eine generelle freundliche Einstellung oft gleichgesetzt wird mit Harmlosigkeit.
Judith Holofernes – „die größte Jein-Sagerin ihrer Generation“, schreibt „TIP Berlin“.
Judith: Ja, genau. Ich finde es aber gerade wichtig, dass es möglich sein muss, dass wer A sagt, nicht auch B sagen muss. Dass man sich zum Beispiel so äußern darf, das Gute in der Welt zu wollen, ohne sich gleich zu verpflichten, fürderhin ein Leben in Askese und Selbstkasteiung zu führen.
Dass man ein konsumkritisches Lied schreiben, aber sich danach noch was kaufen darf?
Judith: Das war tatsächlich so in den ersten Jahren. Ich habe mich beim Einkaufen beobachtet gefühlt. „Denk dir: Ich hab die Holofernes gesehen – und die hat ’nen Schuh gekauft!“
Pola: Dabei hat sie doch schon ein Paar!
Jean: Ich würde vor allen Dingen sagen, dass wir nicht mehr die Band sind, als die wir angefangen haben. Es wird oft unterschätzt, dass mittlerweile sieben Jahre dazwischen liegen und wir uns entwickelt haben und nicht nur mehr unser Klischee sein wollen.
Was ist denn euer Klischee?
Judith: Die nahbare Kumpelband, die aber inhaltlich immer mal auf die Kacke haut und zu allem eine feuilletonistisch verwertbare Meinung hat.
Sieben Jahre seit der ersten Platte. Ein Zeitraum, der sehr lang klingt, in anderen Zusammenhängen aber recht kurz wirken kann. Was sind denn fühlbare Veränderungen zu damals?
Jean: Also sieben Jahre – so lang war in etwa die Karriere der Beatles. Da kann schon eine Menge passieren. Ohne jetzt IRGENDwelche Vergleiche ziehen zu wollen! Haha!
Mark: Ach übrigens: Wir sind bekannter als Jesus.
Jean: Und besser als die Beatles.
Besser als der Papst vielleicht.
Mark: Okay: Wir sind sauberer als Walter Mixa. Mit der Aussage ist man auf der sicheren Seite.
Aber ist das eine andere Welt, in die man da zurückdenkt?
Pola: Ich hatte so einen Moment, als Virginia Jetzt! ihre Auflösung bekannt gaben. Mit denen hatten wir relativ gleichzeitig begonnen und hatten auch eine Zeitlang viel Kontakt. Es ist schon eine andere Welt im Vergleich zu damals. MTV spielt keine Rolle mehr. Unsere damalige Plattenfirma (das EMI-Label „Labels Germany“; Anm. d. Red.) hat sich aufgelöst. Und alles schrumpft und schrumpft noch mehr …
Judith: Und mit diesen ganzen Befindlichkeiten, was man als Band so mitmachen will und was nicht, sind wir inzwischen totale Dinosaurier. Die Musiklandschaft hat sich drastisch verändert. Und all diese Sachen, die mir so grundunsympathisch sind, machen inzwischen 80, 90 Prozent des Geschäfts aus.
Zum Beispiel?
Judith: Es geht ja nichts mehr ohne Sponsoren. Musik wird zu einem Großteil über Kooperationen mit Mobilfunkunternehmen verkauft, und es kommt immer öfter dieser lässige Satz: „Daran führt heutzutage kein Weg mehr vorbei.“ Bands, die man wahnsinnig gut findet, spielen auf irgendwelchen Jägermeister-Bühnen, um nicht Taxi fahren zu müssen. Und das kann man auch niemandem übel nehmen.
Wie weit müsst ihr euch damit auseinandersetzen?
Pola: Um eben nicht so ein Indie-Dinosaurier zu werden, der nur nölt „früher war alles besser“, muss man immer wieder mal einen Realitäts-Check machen: Wie ist es denn jetzt? Und wie stehen wir dazu? Sind die Grenzen, wie wir sie damals definiert haben, noch gültig?
Judith: Eine spannende Frage ist: Welche Unternehmen sind heute eigentlich Musikhändler? Da haben wir immer die Grenze gezogen: bei Plattformen, die Musik verkaufen. Die sind sozusagen unser Teich, mit denen arbeitet man zusammen. Bei Coca-Cola ist die Grenze immer noch eindeutig. Aber bei so genannten Medienkonzernen wird’s schon schwammig. Plattenfirmen verkaufen unter Umständen nur noch zu zehn Prozent Platten, und dann ist da der Telefonanbieter, der inzwischen zu 50 Prozent Musik verkauft …
Ihr hattet ja mit der letzten Platte einen sehr deutlichen Einbruch bei den Verkaufszahlen, Hallen waren nicht mehr zwangsläufig ausverkauft. War da – zumal mit wachsenden Familien – zwischendurch mal der Gedanke: Oha, können wir davon auf absehbare Zeit noch leben?
Pola: Für mich war mit 15, 16 klar, dass ich Musiker werden und damit mein Geld verdienen will. Egal, ob ich damit reich werde oder mich so eben über Wasser halte. Und dann kam auf einmal dieser Riesenerfolg, den ich nicht geahnt hatte. Aber der war für mich nie der Hauptantrieb. Ich mach‘ hier die Musik, die ich machen will. Und solange die noch da ist …
Judith: Mich hat das bei SOUNDSO ein bisschen aggressiv gemacht, wenn von bestimmten Seiten gejammert wurde, dass „nur“ 120.000 Platten verkauft wurden. Das sind mehr, als die meisten deutschen Bands, die ich den hellen Wahnsinn finde, verkaufen! Und dann zu nölen, dass man statt unfassbar vielen Platten jetzt nur noch sehr, sehr viele verkauft hat – und drei mal so viele haben sich’s noch gebrannt – fand ich immer ziemlich dekadent.
Ist beim Plattenmachen heute trotzdem irgendwo im Hinterkopf der Gedanke: Einen kleinen Singlehit sollten wir schon drauf haben?
Jean: Nein, das wäre ein Schuss ins Knie. Wenn wir uns beim Songwriting verkrampft oder etwas erzwungen hätten … Ich muss auch sagen, dass ich die Verkaufszahlen von SOUNDSO viel authentischer empfinde für das, was wir machen, als die der beiden Alben davor. Da kam ich mir fast ein bisschen vor wie ein Blender: Ja, wir spielen hier in diesen oberen Regionen mit, aber gehören wir hier eigentlich hin? Ich fand das Niveau, das wir zuletzt hatten, absolut gut. Sollte es mit dieser Platte – was ich mir nicht vorstellen kann – wieder nach oben gehen, bin ich natürlich der Letzte, der sagt „Neiiiiiin!“ …
Judith: Wenn man aus dieser Bandgeschichte – aus dem, was uns passiert ist – am Ende nicht eine große Freiheit zöge, hätte man ja wirklich den Schuss nicht gehört. Eigentlich ist das doch ein optimaler Verlauf. Dieser Erfolg, und dass dann mit der dritten Platte der aufgeblasene Brimboriumsapparat in sich zusammenfällt und das eintritt, was man sich spätestens mit der zweiten gewünscht hat: Dass man mal eine von diesen Bands wird, die immer mal wieder Platten rausbringen, die mehr oder weniger breit wahrgenommen werden. Zumal ich nicht weiß, ob wir dieser Frequenz eines Erfolges, den wir mal hatten, dieser Maschine, die einen dann auch mitreißen will, noch gewachsen wären mit all diesen Kindern. Irgendwer Schlaues hat gesagt: „Mit Kindern hat man den Wendekreis eines Tanklasters.“ Und als Popband muss man eigentlich die ganze Zeit Kajak fahren.
(Pola verabschiedet sich aus dem Interview: er geht nach Hause, um die Babysitterin abzulösen und den Familienabend einzuleiten. Judith bleibt noch, muss aber mal eben für junge Mütter.)
Jean: (beugt sich jovial herüber) So, jetzt sind wir die beiden Bremser mal los. Jetzt mal unter uns, mal off the record: Wir wollen natürlich wieder zurück on top. An die Weltspitze. Wir würden ja wohl nicht mit einem englischen Produzenten rummachen, wenn wir nicht international denken würden! Oh …
(Judith ist wieder zurück)
Judith, was bekommst du für Reaktionen auf die teils doch sehr dunklen Texte auf der Platte?
Judith: Die ganze Platte wird, glaube ich, gar nicht als so dunkel empfunden.
Jean: Tatsächlich? Also, von den Journalisten, mit denen ich gesprochen habe, habe ich was anderes gehört.
Judith: Vielleicht werde ich geschont, haha! „Die müssen wir jetzt mit Samthandschuhen anfassen.“ Ich fand’s noch nie so schwierig, über die Texte zu reden wie bei dieser Platte. Weil ich mich darin zum Teil komplett nackig ausziehe und in den Wald stelle. Als wir die Platte dem Label vorgespielt haben, hat sich ab und zu mal jemand zu mir umgedreht, mit so einem Blick: „Aber jetzt geht’s dir hoffentlich wieder besser?“
Beim Titelsong musste ich auch erst mal schlucken. Warst du wirklich so am Ende, wie es dieser Text ausdrückt? Oder inwieweit ist das Dichtung? Es heißt ja, man muss nicht in einer Pfanne gelegen haben, um über ein Schnitzel zu schreiben …
Judith: Nee, in dem Fall war ich eindeutig das Schnitzel. Das mag ja jetzt schon wieder etwas anders aussehen, aber ja: dieses Bedürfnis nach … Auslöschung, das hatte ich. Den tiefen Wunsch, dass einfach mal Ruhe ist. Ich hätte mich gern in Karbonit eingefroren wie Han Solo und irgendwann mal frisch wieder aufgetaut. Ich war müde in jeder Zelle.
War das auf dieser letzten Tourphase?
Judith: Ja, und darüber hinaus. Ich kann zwar meine Gefühle ganz gut wahrnehmen, ihnen aber dann nicht zwangsläufig die Autorität geben, dass das bedeuten könnte, ich müsste irgendwas ändern. Das hat etwas Selbstzerstörerisches. Sich’s so zu verbeißen, so „passt schon, schlafen kann ich, wenn ich tot bin“.
Bist du jetzt wieder auf diesem Weg?
Judith: Vorhin hat mich jemand gefragt: Und, was macht ihr dann diesmal alles anders? Da wurde mir klar: Wir versuchen bestimmte Sachen zu ändern, im Kleinen. Aber im Prinzip machen wir’s einfach trotzdem wieder. Ich weiß nicht, ob wir eine Chance haben, aus dieser Runde heiler und intakter hervorzugehen als aus der letzten. Mir ist sogar eigentlich klar, dass nicht. Wir denken, dass wir ein bisschen was gelernt haben – andererseites haben wir ein Kind mehr. Im besten Fall nullt sich das dann. Erfahrung minus Kind = Ausgangsposition.
Mark: Man hofft natürlich schon, dass man was lernt aus jeder Platte und aus jedem Zyklus.
Judith: Aber trotzdem bleibt die Frage, wie viel davon eigentlich gestaltbar ist und wie viele Dinge es gibt, die halt einfach so sind. Es ist ein Experiment mit hohem Einsatz, und das ist inzwischen auch jedem klar. Ich muss sagen, ich habe in dieser Pause viel gehadert und massive Fluchtimpulse gehabt.
Ausgerechnet in der Pause?
Judith: Ja. Da ist mal Ruhe, und man denkt nach: Wie ist mein Leben so? Und ich habe relativ oft gedacht: Wenn ich ehrlich bin – ich kann so nicht leben. Mit meinem generellen Wunsch, zu mehr Glück zu finden, ist das eigentlich nicht richtig vereinbar, haha! Aber dann zu merken, dass bei all dem Hadern und Abwägen die Musik gewinnt und man diese Band so liebt – das ist auch wieder total schön.
Mark: Sich dem dann wieder auszusetzen, wird ja letztlich auch zum Test. Es passiert viel, man erlebt diese ganze Arbeit, vielleicht auch ein Unglücklichsein – die Arbeit, die zusammenhängt mit einer Plattenveröffentlichung, wird ja immer die Gleiche sein. Und letztlich muss man einen Weg finden, das immer besser einzustellen – was ändere ich an mir, was mach‘ ich nicht mehr -, in der Hoffnung, hierin sein Glück zu finden. Weil Musikmachen ja doch ein hohes Glückspotenzial in sich trägt. Und vor allem Konzerte zu spielen. Das ist ja einfach was Unbeschreibliches, das werde ich ja heute noch dreimal am Tag gefragt: Wie ist es, auf einer Bühne zu stehen? Beschissen. Nein. Unglaublich halt. Aber man muss rausfinden: Wo sind die Sachen, die mich stören? Und die dann auch ansprechen.
Was ist der Pferdefuß? Leistungsdruck? Erwartungsdruck?
Judith: Ich habe schon immer eine große Verpflichtung gespürt – den Leuten gegenüber, der Band gegenüber -, da alles reinzugeben, meine gesamte Lebensenergie. Jetzt merke ich, dass ich konzentrierter werden muss. Genauer ausloten, was man wirklich machen muss und was nicht. Schneller Entscheidungen treffen. Nein sagen lernen.
Apropos Leistung: Kann ich Euch ein Statement zu unserer Bundesregierung entlocken?
Judith: Unser Schwarz-Gelb-Song ist ja jetzt die B-Seite der ersten Single.
Ach, „Die Wespe“?
Judith: Das war mein Wahlkommentar. Zunächst mal eine persönliche Abhandlung darüber, warum ich Wespen nicht mag. Aber dann fragte ich mich, ob das auch mit der Farbkombination zusammenhängen könnte. „Ob es an den Farben liegt? / Ich mag das Tier nicht, das da fliegt.“ Das war gar nicht als Liedtext gemeint, ich habe einfach in der Nacht nach der Wahl so „höhö“ vor mich hingejandelt. Und dann wurde es ein Song. „Wenn sie sich im Hemd verfängt / Zwischen Schichten eingeklemmt / Lass das Fuchteln, das gehetzte / Zieh es aus, auch wenn’s das letzte.“
Da geht es hin, das letzte Hemd. Aber wo ist der Aufschrei? Als dieses Sparpaket bekannt wurde, wo waren da die Großdemos, die man hätte erwarten können?
Judith: Auf der Fanmeile?
Mark: Mich wundert es nicht, dass eine WM in der Lage ist, von so was – und auch von einem riesigen Ölleck im Golf von Mexiko – abzulenken. Letzten Endes sind viele Leute im Großen und Ganzen nicht so politikinteressiert.
Judith: Und mit applaudierenden Patschehändchen bei der WM. Das war ja das medienwirksamste Inerscheinungtreten der Kanzlerin in den letzten Wochen.
Aber was ist mit den Leuten los? Ist da keine Energie mehr?
Judith: Insofern haben wir doch ein politisches Lied auf der Platte: In „23.55: Alles auf Anfang“ geht es mir um diesen Überdruss. Ich glaube, es ist die Krankheit zumindest unserer Generation, dass wir gelähmt sind durch ein Übermaß an Information und die Komplexität der Dinge. Dass mittlerweile jedes Schulkind weiß: Wenn man sich gegen die Abholzung der Regenwälder engagiert, sagt man damit eigentlich auch, dass es okay ist, wenn die Leute, die damit ihren Lebensunterhalt verdienen, verhungern. Dass das alles nicht mehr unterschiedliche Schattierungen sind von Grau, sondern von Sch … von braun. Deshalb finde ich ja, dass dieser unbedingte Konsequenzanspruch – wer A sagt, muss auch B sagen – Übels Wurzel ist. Weil er viele Leute in ihrem politischen Handeln lähmt. „Wenn ich zu dieser Demo gehe und damit bekunde, dass ich ein politisches Herz habe, heißt das, dass ich nie mehr in Urlaub fliegen darf und verzweifeln muss an der Komplexität der Dinge“ – und dann kann ich eh nichts mehr machen. Ich glaube, dass das auch ein Medienproblem ist. Weil da Wirklichkeit aufbereitet wird in einer Form – bad news entertainment -, die in keiner Weise geeignet ist, den Leuten Handlungsimpulse zu geben.
Es gehen aber wirklich langsam die Silberstreifen am Horizont aus.
Judith: Ein Silberstreif war ja, dass man für einen kurzen Moment denken konnte, der Kapitalismus in dieser bestehenden destruktiven Form würde sich gerade selber abschaffen.
Mark: Sagen wir so: Der Hoffnungsschimmer war, dass die Selbstverständlichkeit des kapitalistischen Systems in Frage gestellt war und auch marktwirtschaftlich sehr konservativ denkende Leute sich zu öffnen begannen für Kritik.
Judith: Man weiß, dass seit dieser Finanzkrise ethische und ökologische Banken größeren Zulauf haben. Dass ein Denken, das über einen optimal gewinnmaximierenden Umgang mit Geld hinausgeht, etwas mehr Raum gewonnen hat. Das ist schon erfreulich.
Aber im Großen und Ganzen werden weder aus der größten Wirtschaftskrise noch aus der größten Umweltkatastrophe seit Generationen Lehren gezogen.
Mark: Wir haben den Song „Bring mich nach Hause“ gerade freigegeben für einen Film namens „Die kommenden Tage“. Ein deutscher Film, der ein wirtschaftliches Untergangsszenario ganz konkret und beklemmend erzählt – in sehr naher Zukunft.
Judith: Das mal weitergedacht: Was ist, wenn unsere kleine Kapsel nicht hält? Wenn die Auswirkungen von all der Scheiße, die wir ständig bauen, letztlich hier ankommen? Dieser Film wird, glaube ich, viele Leute sehr berühren. Weil er eine Welt zeichnet, die nicht mehr so sehr sicher ist wie die, die wir kennen. Und das wirkt wie ein Science-Fiction-Szenario, ist aber in vielen Teilen der Welt einfach Realität.
Da drängt sich die alte Frage auf: „Kann man denn in so eine Welt noch Kinder setzen?“
Judith: Ich kenne relativ viele Leute, die das wieder sagen … Aber letztens erst hab‘ ich wieder den Satz gelesen von Khalil Gibran (libanesisch-amerikanischer Philosoph und Dichter – Anm. d. Red.): „Deine Kinder sind nicht deine Kinder, sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst.“ Dieser Moment, in dem man dieses neue Wesen begrüßt, hat wirklich eine gnadenlose Wucht. Die nahe Verwandtschaft des In-die-Welt-Kommens und Aus-der-Welt-Gehens wird einem unheimlich bewusst. Kinder sind kleine Botschafter der Vergänglichkeit, auch wenn man das nicht gerne möchte. Das hat was Erbarmungsloses, Auswegsloses. Egal, was man vorher vielleicht gemacht hat, sich beschäftigt hat mit der Loslösung von Anhaftungen, von Dingen, vom Ego – und dann kommt so ein Kind und setzt einen komplett auf Null.
Deine Kinder haben deine Beschäftigung mit dem Buddhismus obsolet gemacht?
Judith: Wenn man anfängt, sich mit Philosphie und Spiritualität zu beschäftigen und man denkt, es muss doch irgendwie eine andere Art geben, sich in der Welt zu bewegen, die vielleicht etwas glücksverheißender ist, begibt man sich auf eine Suche. Dann gibt’s eventuell einen Moment der Euphorie, wenn man merkt: Vielleicht schaff‘ ich es, gewisse Fesseln zu sprengen, mich aus Abhängigkeiten von äußerem Glück zu befreien und ein inneres Glück möglich zu machen etc. Und man denkt: Aha, ich hab‘ ein Werkzeug in der Hand, ich hab‘ da einen Weg gefunden. Ich bin ziemlich furchtlos auf das Thema Vergänglichkeit zugegangen, bevor ich Kinder hatte.
Hattest du deinen Frieden mit der Vergänglichkeit geschlosen?
Judith: In Momenten relativ. Wenn man sich dieser Angst mal gestellt hat, gibt einem das eine große Freiheit und Glücksgefühle, das hat drastische Auswirkungen darauf, wie man sich in seinem Alltag bewegt. Denn eigentlich ist diese eine Angst ja die Wurzel aller anderen Ängste, die einen behindern. Die Kreise, in denen man sich dreht, die Träume anderer Leute, die man träumt – die sind zurückzuführen auf die Angst vor dem eigenen Vergehen. Und sich dem zu stellen, darin liegt die Verheißung, aus all diesen Käfigen ausbrechen zu können. Das ist euphorisierend. Und dann kommt ein Kind und sagt: „Und jetzt bin ich da, und das mit dem Sich-Loslösen von allen Anhaftungen – der Zug ist für dich abgefahren.“ Haha! Das ist so. Ich will mich ja auch nicht lösen von meinen Kindern. Im Buddhismus ist ja die Beschäftigung mit der Vergänglichkeit eine der Säulen, aber beileibe nicht die einzige. Es gibt zum Beispiel auch Weisheitslehrer, die sich mit nichts anderem beschäftigen als der bedingungslosen Liebe. Und mein Lehrer hat mir von Anfang an gesagt: „Wenn du kleine Kinder hast, lass die Finger von der Vergänglichkeit.“ Ich habe im Moment große Schwierigkeiten, mich ernsthaft wieder dem Buddhismus und der Meditation zuzuwenden, weil ich das nicht trennen kann von der Beschäftigung mit einem Thema, mit dem man sich nicht beschäftigen sollte, wenn man kleine Kinder hat. Ich habe Schwierigkeiten, Türen wieder zuzumachen, die ich zu weit aufgemacht habe in einer Zeit, in der es um mich selber ging. Es ist wahnsinnig schwer, sich selbst loszulassen. Aber es ist viel schwerer, seine Kinder loszulassen oder sich zu überlegen, was das für sie bedeuten würde. Das geht wirklich sehr weit und ist sehr interessant. Und wir könnten Abende damit füllen …
Tun wir ja gerade. Ich glaube, Danny wird langsam nervös.
Mark: Und wie kriegt man von jetzt den Übergang zur Artwork-Besprechung?
Der Übergang klappt ganz wunderbar. Danny Engel, der in den letzten Stunden an einem Nebentisch unablässig gearbeitet, zuletzt noch den Berlin-Transport für einen von Jean in Hannover vergessenen, probenwichtigen Synthesizer organisiert hat, hievt sein stets aufgeklapptes Laptop herüber.
Unter einigen „offiziellen“ Entwürfen der Agentur, basierend auf den wenigen bisher von allen Bandmitgliedern freigegebenen Bildern, und ein paar von Jean in Photoshop-Heimarbeit gezimmerten Vorschlägen soll jetzt die Suche nach dem Covermotiv eingegrenzt werden. Man sieht die Bandmitglieder durch eine bedrohliche Waldszenerie laufen, am Wegesrand lagern, felliniesk surreal über Dünen stapfen, mit geschlossenen Augen nebeneinanderstehen … Wir wohnen der munteren Besprechung noch eine halbe Stunde bei – gerade sieht es so aus, als könnte das Motiv mit dem Chiffrenamen „abgerockter Rock“ das Rennen machen -, dann verabschieden wir uns in die Kreuzberger Nacht. Heiß ist die, aber wir wollen jetzt nach Hause.
Gekommen, um zu reklamieren
Es war einmal: Das Märchen vom beispiellosen Aufstieg der deutschen Pop-Band Wir sind Helden. Unter Beteiligung von David Bowie, Christof Ellinghaus, Nena, Radio Eins, Harald Schmidt, Silbermond und Juli.
Von Albert Koch
Wir wollen nicht über den Wahrheitsgehalt der folgenden Anekdote spekulieren, die Christof Ellinghaus, damals im Jahr 2003 Chef von „Labels Germany“, dem Interviewer des „Spiegel“ in den Notizblock diktierte, dafür ist sie einfach zu gut. Wie er denn auf die Band Wir sind Helden aufmerksam geworden sei, will der Mann vom Nachrichtenmagazin vom Mann von der Plattenfirma wissen. In Berlin habe er im Auto gesessen, berichtet Ellinghaus, als plötzlich das Helden-Lied „Guten Tag“ im Radio gespielt wurde. „Ich musste vor Schreck rechts ranfahren. Ich habe selten einen so frischen und klugen Umgang mit der deutschen Sprache gehört.“ Der Rest ist jüngere Musikgeschichte: Ellinghaus nimmt die Helden, die noch bei keinem Label unterschrieben haben, unter Vertrag, und es beginnt der beispiellose und märchenhafte Aufstieg einer deutschen Band.
Der Prolog zu diesem Märchen wird ein paar Jahre früher geschrieben. Im Jahr 2000 treffen sich Sängerin und Gitarristin Judith Holofernes (geb. 12. November 1976), Gitarrist und Keyboarder Jean-Michel Tourette (geb. 10. Juli 1975) und Schlagzeuger Pola Roy (geb. 18. Oktober 1975) beim Popkurs Hamburg, einer Art staatlich gefördertem Seminar für Nachwuchsmusiker. Die drei gründen im Anschluss eine Band, die sie Helden nennen – nach dem gleichnamigen David-Bowie-Song. Wenig später kommt auf Initiative Pola Roys der Bassist Mark Tavassol (geb. 18. Februar 1974) zur Band, die sich bald darauf in Wir sind Helden umbenennt.
2002 wird der Produzent Patrik Majer auf die Band aufmerksam. Aus der Zusammenarbeit entsteht die in Eigenregie vertriebene Fünf-Track-EP „Guten Tag“. Sie erscheint in einer Auflage von 3000 Exemplaren und ist heute ein gesuchtes Sammlerstück. Radio Eins macht Wir sind Helden zur Berliner Lokalsensation, der österreichische Sender FM4 mehrt den Untergrund-Ruhm der Band im Süden. MTV, damals noch ein Musiksender, sendet das Video zu „Guten Tag“ rauf und runter. Die Helden spielen im Vorprogramm von Nena, die wiederum bei ihrem Auftritt ein Wir-sind-Helden-T-Shirt trägt – das alles geschieht ohne die klassischen Promotionwerkzeuge der Plattenindustrie.
Als am 4. Juli 2003 das Debütalbum DIE REKLAMATION bei Labels Germany veröffentlicht wird – eine Woche später auf Platz sechs der deutschen Albumcharts einsteigt und in den folgenden zwei Jahren 800.000 Exemplare verkaufen wird – sind Wir sind Helden längst ein Medienereignis. Über die Band mit der „niedlichen“ Sängerin, die es ohne Plattenfirma „geschafft“ hat, wollen sie alle berichten – die Nachrichtenmagazine, die Lifestyle- und die Frauenzeitschriften, die Teeniepresse und die „Tagesthemen“. Selbst Harald Schmidt, damals ein bekannter Entertainer, lädt Holofernes in seine damals sehr beliebte Fernsehshow ein. Was umso erstaunlicher ist, weil die Sozial- und Konsumkritik der Band nicht in das Bild der kurz zuvor vom Mainstream ausgerufenen Spaßgesellschaft passen will, oder gerade doch passen will: als Gegenentwurf dazu und als Antwort auf den Plastikpop und die Castingshows, die Anfang der Nullerjahre gerade ihre Hochzeit feiern. Wir sind Helden sind Konsens, ihre Musik – eine Mischung aus Neue Deutscher Welle, (Elektro-)Pop, Punk und Indie-Rock – ist der Soundtrack für das Jahr 2003. Auf diese Band können sich (fast) alle einigen. Die Indie-Kids genauso wie Menschen, die als Musikgeschmack „ich hör‘ so Radio“ angeben. Selbst wer damals nur „so Radio“ hört, kommt an dieser Band nicht vorbei. Freilich provoziert die in kürzester Zeit erfolgte Mainstream-Werdung der Helden auch negative Kommentare. DIE REKLAMATION steht für eine neue Art der Kritikführung: nicht so miesepetrig, nörgelig und schlecht gelaunt formuliert, wie bei anderen deutschen Bands, die denken, etwas zu sagen zu haben. Spaß haben können und trotzdem nicht alles gut finden, das gab es vorher selten bei einer deutschen Band. Dann darf das auch nicht sein, meinen die Kritiker. Dass Wir sind Helden als Vorreiter der „Neuen Neuen Deutschen Welle“ einen Rattenschwanz an mediokren Frau-und-drei-Männer-Bands (Silbermond, Juli et al.) nach sich zieht, ist ihnen nicht vorzuwerfen, sondern eher den Marketingstrategen der Plattenfirmen, die auf eine Wiederholung des Erfolgs spekulieren. Aber der gelingt nicht einmal den Helden selbst. VON HIER AN BLIND (2005) verkauft „nur noch“ 500.000 Exemplare, das dritte Album SOUNDSO (2007) 120.000. Eine Entwicklung, die nicht nur den Coolness-Mechanismen der Popkultur geschuldet ist, sie spiegelt den Abwärtstrend der Musikbranche wieder.
Heldenzeit – Die Diskografie von Wir sind Helden
2002 – 2008
Von Stephan Rehm
Guten Tag EP (2002)
*****1/2*
„Meine Stimme gegen dein Mobiltelefon/ Meine Fäuste gegen eure Nagelpflegelotion“. Hallo! Was für ein Song, mit dem Radio Eins vom Norden, FM4 vom Süden aus die Republik da umklammerten. Ein Song, den man seinen ausländischen Freunden vorspielen konnte. Weil er anders als das Gros guter deutscher Songs funktioniert. Weil er neben den Standardfeatures Klugheit, Humor, Aufmüpfigkeit und Ironie vor allem Eingängigkeit – und das trotz weitgehenden Verzichts auf Melodien (!) – vorzuweisen hatte. Ein Popsong, im besten Sinne des Wortes: Schlager, den Kinder, die Verständnislücken mit Fantasiesilben füllend, mitsangen ohne auch nur ahnen zu können, wogegen sich diese Frau mit der Lehrerinnenstimme da auflehnt. Ein Titel in bester Tradition von „99 Luftballons“ und „Schrei nach Liebe“. In Kombination mit den späteren Hits „Müssen nur wollen“, „Denkmal“, dem Fanliebling „Du erkennst mich nicht wieder“ der einzig wirklich sprachlos machende Trailer der deutschen Musikgeschichte.
Die Reklamation (2003)
*****
„Wir kommen, um die anderen Helden abzumelden“. Sie kamen, sie sahen, sie meldeten zwar niemanden direkt ab, doch sie stellten Viele und Vieles in Frage. „Liebenswürdig vor schlaufurzend, aber doch konkret vor lieblich, wehrhaft und überhaupt nicht doof“, urteilte der ME damals und vergab vier Sterne. Retrospektiv, die Nachwirkung und Langlebigkeit des Albums berücksichtigend, darf man aber ruhig einen mehr geben. „Ist das so?“, „Rüssel an Schwanz“, „Die Zeit heilt alle Wunder“, „Aurélie“ – wer im Sommer 2003 sprachbegabt war, der wird diese Lieder dereinst auch beim Karaoke-Nachmittag im Altersheim noch auswendig vortragen können. Hätte es damals einen entsprechenden Volksentscheid gegeben, „Denkmal“ hätte die dritte Strophe des „Deutschlandlieds“ als Nationalhymne abgelöst. Ein Debüt wie ein Best-Of, das mit Vierfach-Platin zu einem der meistverkauften Alben der Jahre 2003 UND 2004 wurde – und, Wunder oh Wunder, die Plattenindustrie sehr viel Geld in Klonmissverständnisse wie Juli und Silbermond (deutsche Texte, Poprock und Frau am Mikro – passt schon) stecken ließ.
Von hier an blind (2005)
****
Von null auf eins. Von FM4 auf Bayern 3. Von der Alternastage auf die Centerstage bei Rock am Ring. Mit ihrem zweiten Album stellten sich die Helden auf die Schultern von Giganten, schienen sich als dritte Größe neben Ärzte und Hosen zu etablieren. Doch what goes up, must come down. Fans der frühen Stunden wollten nicht bei jedem Ride mit der Mitfahrgelegenheit das (nichts für seine Totgenudeltheit könnende) „Nur ein Wort“ wahlweise aus dem Bord-CD-Player des Maschinentechnik studierenden Chauffeurs oder dem Formatradio hören. Doch während „die Anderen“ das Album zu Hunderttausenden kauften, entging der ursprünglichen Zielgruppe so einiges: zum Beispiel das gelungene Swingexperiment „Gekommen um zu bleiben“ mit seinem „Rock Lobster“-Riff und das heimelige „Ich werde mein Leben lang üben, dich so zu lieben, wie ich dich lieben will, wenn du gehst“. Mit einem so abgerundeten Album hatte man nach dem Sturm und Drang von DIE REKLAMATION eigentlich erst an vierter oder fünfter Stelle im Bandkatalog gerechnet.
Soundso (2007)
***1/2*
Das zu-viel-Album. Zu viel Präsenz der Band, die mittlerweile immer und überall spielten. Zu viele Soundschichten, zu viele Spielereien, zu viel gewollte musikalische Raffinesse für eine Band, deren größte Stärke in der Idee, nicht aber in deren musikalischer Umsetzung liegt. Zu viel Autoreferenzialität – „Endlich ein Grund zur Panik“ und „Kaputt“ etwa verlassen sich zu sehr auf die bewährten Muster von „Guten Tag“, bzw. „Denkmal“. Und leider auch zu viel Banalität – das platte „(Ode) An die Arbeit“ („Generell: Alles, was Spaß macht: keine Arbeit“) wäre eher auf einem „The Early Tapes“ oder so betitelten Demo-Bootleg der Band als auf dem Nachfolger zum lebenserfahrenen Zweitwerk zu erwarten gewesen. Das Album an sich aber als „zu viel“ im Sinne von „unnötig“ abzukanzeln wäre indes „bequem“ im Sinne von „falsch“. Die ruhigen, Rio Reiser im Herzen tragenden Stücke „Stiller“ und „Lass uns verschwinden“ offenbarten den wahren Entwicklungsstand der Band. Fazit: Sie müssen nur wollen, aber nicht zu viel.
Die Besprechung des neuen Albums auf S. 96.
Von hier an Welt – Helden International
Schon früh schweiften die Helden in die Ferne. 2006 erschien unter dem sinnigen Namen WIR SIND HELDEN eine Zusammenstellung ihrer ersten beiden Alben für den französischen Markt, samt französischer Versionen von „Guten Tag“ („La réclamation“), „Aurélie“ („C’est pas Paris)“, und „Von hier an blind“ („Le vide“). 2007 startete iTunes eine „Foreign Exchange“ benannte Reihe, in deren Einträge zwei Bands unterschiedlicher Nationalität jeweils ein Lied der Partnergruppe covern. Zum Auftakt verbandelten sich die Helden mit den Blink-182-Nachfolgern +44. Diese interpretierten „Guten Tag“ in erwartbarer Skatepunk-Façon (wobei die Übersetzung dem Original zugunsten von allgemeinverständlichem Teenage-Rampage-Sprech etwas Charme raubt), während die Helden den Skatepunksong „When Your Heart Stops Beating“ in das zärtliche Stück Elektropop „Wenn dein Herz zu schlagen aufhört“ verwandelten. Im selben Jahr spielten die Helden beim Londoner iTunes-Musikfestival, was der Sechs-Song-Mitschnitt (u. a. mit „Die Konkurenz“ und „Nur ein Wort“) „Live In London“ als Download-EP festhält – nicht ausschließlich an Sammler adressiert, aber wie meistens in solchen Fällen nur diesen glückstiftend. Im Mai 2008 wurde mit SA ITTE MIYO (zu Deutsch: „Von hier an blind“) in Japan eine Compilation der ersten drei Helden-Alben veröffentlicht, inklusive des bereits zuvor auf der „Von hier an blind“-Maxi erschienenen japanischen Version der A-Seite.