Symphonieorchester mit Maschinengewehren


Als die Sex Pistols in gerade mal zwei Jahren zu einem Klischee verkümmert waren, löste sich John Lydon endgültig vom Rock’n’Roll. Er gründete eine Band, die keine Band sein wollte. Eine Firma mit beschränkter Haftung. Ein Unternehmen, das den Begriff „Postpunk“ erst so richtig mit Bedeutung aufladen sollte.

Mit den Sex Pistols war Johnny Rotten angetreten, um den Rock’n’Roll zu zerstören. Doch nach all den Skandalen um Schimpfwort-Tiraden in einer Prime-Time-Talk-Show, der Kontroverse um das legendäre Konzert zum Thronjubiläum der Queen im Sommer 1977 auf der Themse und der Veröffentlichung des Albums Never Mind The Bollocks musste der wortgewandte Provokateur erkennen: Seine Band hatte sich nicht zum Schwanengesang, sondern zur Frischzellenkur für den maroden Rock entwickelt. Nach einer aufreibenden US-Tournee 1978 beschloss Rotten, lieber kein Teil einer Jugendbewegung zu sein, sondern seinen eigenen Avantgarde-Betrieb ins Leben zu rufen. Gemeinsam mit seinem Schulfreund Jah Wobble gründete er unter seinem bürgerlichen Namen John Lydon die Gruppe Public Image Limited, um ein zweites Mal Musikgeschichte zu schreiben.

„Ever get the feeling you’ve been cheated?“ Mit diesen Worten verabschiedete sich John Lydon am 14. Januar 1978 im Winterland Ballroom in San Francisco vom Publikum und, wie sich am nächsten Morgen herausstellen sollte, auch von den Sex Pistols. Seine Kunstfigur Johnny Rotten schickte er – für die nächsten 18 Jahre – in den Ruhestand. Doch entgegen einer weit verbreiteten Interpretation bezog sich diese Frage nicht auf das einem „Great Rock’n’Roll Swindle“ aufgesessene Publikum, sondern auf die eigene Situation. Lydon fühlte sich nicht nur um die künstlerische Anerkennung betrogen, die ausblieb, weil seine Band als Performance-Spielzeugfiguren ihres Managements wahrgenommen wurden. Die Sex Pistols waren seiner Ansicht nach zu einer weiteren Form genau jenes großspurigen und weltfremden Rock-Zirkus geworden, gegen den sie zwei Jahre zuvor mit Stücken wie „Anarchy In The U.K.“ und „Pretty Vacant“ angetreten waren. It’s only rock’n’roll, but Lydon (im Unterschied zu seinen Kollegen Jones, Cook und Vicious) didn’t like it.

Zwar verfolgten der Manager Malcolm McLaren und der im Modeladen von Vivienne Westwood gecastete Sänger beide das Ziel, kreatives Chaos zu erzeugen, doch ihre Philosophie war grundverschieden. McLaren sah sich in der Nachfolge der französischen Situationisten, die wie Guy Debord Ende der 60er-Jahre die verhasste Gesellschaft des Spektakels mit provokanten performativen Interventionen entlarvten. Der markante Slogan im überwiegend von McLaren konzipierten satirischen Film „The Great Rock’n’Roll Swindle“ lautete: „Cash from Chaos“. Doch der bis heute als Working-Class-Intellektueller agierende John Lydon betrachtete seine Arbeit hingegen nicht als Aufruf zur gesellschaftlichen Revolte, sondern als mal mehr, mal weniger radikalen Ausdruck künstlerischer Individualität und bodenständige Alternative zum saturierten Rock-Starkult. 1994 schrieb er in seiner Autobiografie: „Vielleicht sind die Ideen einer in einem Raum versammelten Gruppe chaotisch, doch sie sind auf wundervolle Weise chaotisch, äußerst unterhaltsam und sehr lehrreich. Auf diese Weise lernt man etwas – und nicht indem alle derselben Doktrin folgen.“

Punk war für Lydon innerhalb von zwei Jahren zum Klischee verkommen. Er verabscheute seinen Einheitslook und betrachtete die schlichten Akkordstrukturen, mit denen die Pistols anfangs gegen die eklektizistischen Mäuseorgel-Solos des Progressive Rock rebellierten, als neue Gleichförmigkeit. Als seine Vorbilder betrachtete er Musiker wie Neil Young und experimentierfreudige Künstler wie Can und Captain Beefheart, die nicht in den rockistischen Kanon der meisten Punk-Epigonen passten. Nach seinem Ausstieg bei den Pistols reiste Lydon erst einmal mit dem befreundeten Filmemacher und Musiker Don Letts nach Jamaika, um als Talentscout neue Reggae-Künstler für das Virgin-Label unter Vertrag zu nehmen.

Entsprechend vielseitig gestalteten sich die Einflüsse seines nächsten Projekts, das er nach einem Roman der schottischen Schriftstellerin Muriel Spark „Public Image“ nannte (dt. Titel: „In den Augen der Öffentlichkeit“). Das Spektrum der bis heute über 30-jährigen Bandgeschichte umfasst Dub, Noise, World Music, Dancefloor, verpoppten Indie-Rock (oder je nach Standpunkt, angerockten Indie-Pop) und Elektro. Um nach den Erfahrungen mit den häufig imitierten Pistols einer falsch verstandenen Massentauglichkeit entgegenzuwirken, übernahm Lydon für Risiken und Nebenwirkungen nur eine beschränkte Haftung und grenzte das „Public Image“ durch den Zusatz „Limited“ (gerne abgekürzt: „Ltd.“) ein. 2008 erklärte er rückblickend seine kreative Idealvorstellung folgendermaßen: „Wir waren wie ein Symphonieorchester mit Maschinengewehren.“ Diesen Anspruch lösten Public Image Limited (meist als PiL abgekürzt) auf ihren ersten Alben mit den Ausnahmetalenten Jah Wobble, der im Unterschied zu Sid Vicious sein Instrument beherrschte, am Bass und Keith Levene, einem ehemaligen Bandmitglied von The Clash, an der Gitarre zweifelsohne ein.

In den ersten Jahren bestand das Trio in Interviews gerne darauf, dass es sich bei PiL nicht um eine Band, sondern um eine Firma zur Förderung von Kommunikation handle. In einigen Fällen gestalteten sich die Auftritte und Interviews mit PiL jedoch als Kommunikation unter erschwerten Bedingungen an der Grenze zur Performance-Kunst. Der US-Talk-Show-Moderator Tom Snyder versuchte 1980 in der „Tomorrow Show“ vergeblich, Lydon und Levene in ein Gespräch zu verwickeln – eines, das über die grundsätzliche Feststellung, dass Rock tot sei, hinausführen sollte.

Die Grenzen zwischen Kunst und Kulturindustrie gestalteten PiL fließend. Am 15. Mai 1981 setzte die Band ein Statement ihres Gitarristen in die Tat um. In einer Polemik gegen die standardisierte Warenform der Videoclips, die auch vor dem Sendebeginn von MTV im August desselben Jahres schon die öffentliche Wahrnehmung von Pop dominierten, bemerkte Keith Levene, dass man unter diesen Bedingungen in Zukunft auf Livekonzerte verzichten und stattdessen auch ein Video der Band auf Tour schicken könne. Einen ersten Probelauf dieses Vorhabens realisierten PiL an einem denkwürdigen Frühlingsabend im New Yorker Ritz. Während ihres gesamten Auftritts blieben sie hinter einer Leinwand verborgen, auf die Ausschnitte aus ihren Videos projiziert wurden. Statt eine Live-Performance auf die Bühne zu bringen, begleiteten Lydon und Co. in einer Form von Avantgarde-Karaoke lediglich ihre eigenen, vom Band abgespielten Stücke.

Kim Gordon (Sonic Youth) kommentierte den zur interaktiven Performance der anderen Art geratenen Auftritt im Magazin „Artforum“: „Die drei Mitglieder von PiL wurden auf die Leinwand projiziert, sowohl als Silhouetten im Gegenlicht wie auch als Videobild. Eine gewaltige Abbildung von John Lydons grinsendem Gesicht, die größer als der Zauberer von Oz war, erschien. Er begann zu singen und dann wechselte das Livebild zu einem voraufgezeichneten Rock-Video. Die Menge empörte sich über die geisterhaften Schatten der Gruppe hinter der Leinwand, die eigentlich vor ihnen stehen sollte. Sie warfen mit Flaschen und rissen schließlich die Fassade ein. Die Gruppe hatte nicht vor, Unruhe zu stiften; sie wollte nach eigener Aussage nur etwas Neues probieren.“

Der Neuigkeitswert und die einfallsreiche Kombination von zuvor widersprüchlichen Elementen als bewusste Alternative zum schematischen Mainstream-Rock zeichnete die Anfangszeit von PiL aus. Die für die Pistols charakteristische Selbstironie wurde bei ihnen um existenzialistische Untertöne erweitert. Anstelle der lustvollen Dekonstruktion klassischer Rock’n’Roll-Formeln setzten Lydon, Wobble und Levene auf Stilexperimente. Levene erklärte 2004: „Wir wollten dem Geist des Rock’n’Roll gewaltig in den Arsch treten und ihn für alle Zeiten los werden.“ Etwas theoretischer kommentierte Jah Wobble die Situation und seine Ambitionen: „PiL sind expressionistisch, wie Jackson Pollock. Ich sage immer, dass die Musik der Bildenden Kunst um 30 Jahre zeitversetzt folgt, und wir waren wie diese New Yorker Loft-Typen in den 50er-Jahren“.

Wobbles Vergleich mit Pollocks Technik des Action-Painting beschreibt die Ausarbeitung visueller Szenarien in den frühen Songs von PiL und den Hang zur gemeinschaftlichen Improvisation sehr treffend. Puristische Punk-Anhänger wurden bereits von der im Herbst 1978 veröffentlichten ersten PiL-Platte First Issue so gründlich abgeschreckt, dass sie sich abwandten und Lydon bis zur Pistols-Reunion 1996 ignorierten. Bereits die Eröffnung des ersten PiL-Konzerts am Weihnachtsabend 1978 im Londoner Rainbow Club mit dem schweren, schleppenden, zehn Minuten langen „Theme“, bei dem sich kaum festmachen lässt, ob sich nun Lydons Stimme oder Levenes Gitarre sirenenartiger anhört, signalisierte dem Publikum, dass es sich um keine Neuauflage der Sex Pistols handelte. Im Vergleich zu den treibenden Arrangements auf Never Mind The Bollocks ließen die ausufernden und dennoch fokussierten PiL-Songs Lydons Gesang genügend Freiraum, um die Stimme im spontan konstruierten musikalischen Fluss wie ein Instrument zu behandeln.

Im Booklet zur Werkschau Plastic Box (2009) berichtet Lydon, dass eines der größten Komplimente, die ihm je gemacht wurden, von Jazz-Legende Miles Davis stamme. Er sagte bei einem Besuch im Studio 1986, Lydons Gesang „klingt genau so wie mein Trompetenspiel“. Jah Wobbles musikalische Flexibilität zeigte sich nicht erst in seiner Zusammenarbeit mit so unterschiedlichen Musikern wie den ehemaligen Can-Mitgliedern Holger Czukay und Jaki Liebezeit oder Sinead O’Connor. Gemeinsam mit Levene kreierte er eine dichte, zwischen Dub-Grooves und Noise-Abgründen changierende Wall-of-Sound für Lydons Texte, die im Unterschied zu den zynischen Spitzen der Pistols sich stärker auf fragmentarische Stream-of-Consciousness-Szenarien konzentrierten.

Richtig konkret wurde Lydon auf dem ersten Album lediglich in seiner Kritik an religiösem Dogmatismus. In „Annalisa“ kommentierte er das später auch in Hans-Christian Schmids Film „Requiem“ (2006) aufbereitete Schicksal der 23-jährigen Anneliese Michel, die 1976 im unterfränkischen Klingenberg am Main an den Folgen eines Exorzismus starb. Und in „Religion“, einem Song, mit dem der Sänger zuvor bei seinen Ex-Pistols-Kollegen auf taube Ohren gestoßen war, holte er zu einem Rundumschlag gegen klerikale Bigotterie aus.

Während die als Johnny Rotten bei den Pistols verfassten Lyrics immer wieder zu cartoonhaften Überzeichnungen tendierten, integrierten die PiL-Songs auf unprätentiöse Weise auch autobiografische Erfahrungen. Das als Debüt-Single aufgenommene Stück „Public Image“ bildete Lydons Unabhängigkeitserklärung. Er setzte darin Spitzen gegen Malcolm McLarens Management und die Berechenbarkeit der stagnierten Punkszene: „You never listened to a word that I said / You only seen me for the clothes I wear / Or did the interest go so much deeper / It must have been the color of my hair … What you wanted was never made clear / Behind the image was ignorance and fear / You hide behind this public machine / Still follow same old scheme / Public Image / Two sides to every story / Somebody had to stop me / I’m not the same as when I began / I will not be treated as property … It’s not a game of monopoly.“

Ihren ersten kreativen Höhepunkt erreichten PiL mit ihrem 1979 erschienenen zweiten Album Metal Box. Gemäß ihrer Vorliebe für künstlerisch einfallsreiche Verpackungen, die sie bereits mit der in Fake-Zeitungspapier eingewickelten ersten Single demonstrierten, wurde die LP auf drei Vinyl-Maxis verteilt in einer Filmdose ausgeliefert. Nachdem sich das Label Virgin weigerte, die vollen Kosten für das Sammlerstück zu übernehmen, brachten Lydon, Levene und Wobble 33 000 Pfund aus ihrem Vorschuss als Eigenbeteiligung auf. Neben Never Mind The Bollocks bildet Metal Box das zweite unter Beteiligung von John Lydon entstandene Album, das eine präzise Momentaufnahme seiner Entstehungszeit bietet und zugleich zum zeitlosen Klassiker avancierte.

Einige Jahre bevor durch die technische Entwicklung und verstärkte Nutzung von Samplern ein DJ zu einer Band werden konnte, wie Run DMC und Public Enemy betonten, setzten PiL ihr Aufnahmestudio wie ein Instrument ein – zu hören zum Beispiel in“Memories“, welches aus zwei übereinandergelegten Takes besteht. Aber auch darüber hinaus zeigten sich PiL experimentierfreudig: Das hypnotische „Swan Lake (Death Disco)“, in dem Lydon den Krebstod seiner Mutter verarbeitete, kombinierte eine treibende Reggae-Bassline Wobbles mit dem von Levene leicht verfremdet eingespielten Leitmotiv aus Tschaikowskis Ballett „Schwanensee“. Der Song „Careering“ behandelt gesellschaftliche Paranoia in skizzenhaften Andeutungen, die sich als Reaktion auf den Nordirlandkonflikt interpretieren ließen. Die vagen Anspielungen darin verdeutlichen, wie sich in Lydons PiL-Texten das Politische auf einer subjektivierten und ambivalenten Ebene vollzieht. Über die engagierte, aber auch stilisierte Revoluzzer-Romantik seiner Kollegen von The Clash macht sich Lydon bis heute lustig.

Zu den faszinierendsten Songs auf Metal Box zählt „Poptones“, dessen melodisches und zugleich verstörend delirierendes Riff von Levene wie ein Sample-Loop mit leichten Variationen durchgehend wiederholt wird. Das von Lydon geschilderte Szenario könnte als Drehbuchanweisung für einen David-Lynch-Film durchgehen: „You left a hole in the back of my head / I don’t like hiding in this foliage and peat / It’s wet and I’m losing my body heat.“ In seinem Buch „Punk Rock: An Oral History“ beschreibt der Journalist und Punkhistoriker John Robb die Nachwirkungen von Metal Box: „Das Album hält den ganz besonderen Moment fest, in dem all die losen Enden, die Punk hinterlassen hatte, zu einem ausufernden Meisterwerk verknüpft wurden, das sich selbst noch irgendwie in den Punk-Kontext stellte. Kaum eine andere Postpunk-Band hat auch nur annähernd eine solche Originalität erreicht.“

Dieser „Soundtrack zum Sturz in ein schwarzes Loch“ (so der Autor und Journalist Kris Needs) markierte bedauerlicherweise auch den Schwanengesang für die Original-Besetzung von PiL, die sich im Lauf der Achtziger immer mehr zu einem One-Man-Projekt Lydons entwickelten. Dass PiL auf den ersten beiden Alben mehr Drummer als Spinal Tap verschlissen hatten, fiel nicht weiter ins Gewicht. Der Abgang von Jah Wobble Ende 1980 riss jedoch eine große Lücke. Keith Levene blieb noch für das dritte, auf Percussion und unkonventionelle Instrumentierungen ausgelegte The Flowers Of Romance, bevor er ebenfalls die Band verließ. 1993 erläuterte Lydon die Arbeit an dem zwischen World Music und minimalistischem Postpunk schlingernden Werk: „Das war noch vor der flächendeckenden Verbreitung des Synthesizers. Wenn man keine Box hatte, die Bing machte, musste man irgendetwas im Zimmer als Ersatz finden. Küchengeräte und Gartenzubehör zählen zu meinen Favoriten.“

Das Ende der ersten PiL-Besetzung interessierte die Öffentlichkeit weitaus weniger als die (vorübergehende) Auflösung der Pistols. Allerdings deuten einige Indizien darauf hin, dass auch dieser Vorgang nicht sonderlich harmonisch verlief. Levene veröffentlichte nach seinem Abgang 1984 die Arbeitsversionen eines vierten Albums unter dem Titel Commercial Zone, darunter die erste Fassung des Hits „This Is Not A Love Song“.

Während John Lydon mit Gitarrist Lu Edmonds und Drummer Bruce Smith aktuell eine PiL-Besetzung wiederbelebt, die Mitte der Achtziger aktiv war, realisieren Levene und Wobble ihre eigene Reunion. Mit Unterstützung des Sängers der Tributeband The Sex Pistols Experience, der dem jungen John Lydon zum Verwechseln ähnlich sieht, spielen sie dieses Jahr auf Festivals und im Rahmen kleinerer Konzerte ihre PiL-Kompositionen.

Nach dem Abschied der alten Weggefährten entschied sich Lydon für einen Stilwechsel, den er in „This Is Not A Love Song“ offensiv ausstellte, indem er den Vorwurf des Ausverkaufs im Text selbst kommentierte: „I’m changing my way when money applies / I’m crossing over into real enterprise“. 1983 engagierte er ohne mit der Wimper zu zucken die Lounge-Combo eines „Holiday Inn“-Hotels als Tourband. Erst Mitte der Achtziger fand sich wieder eine einigermaßen kontinuierliche PiL-Besetzung zusammen. Auch wenn sich der Sound nicht mehr so radikal wie auf den ersten drei Alben gestaltete, behielt sich Lydon seine musikalische Offenheit. 1984 nahm er lange vor dem Crossover-Hype gemeinsam mit dem HipHop-Großmeister Afrika Bambaataa die Single „World Destruction“ auf. Als in den frühen Neunzigern die Kombination von Rock und Rap zu einem dominanten Trend wurde, hatte sich Lydon längst weiterbewegt und nahm mit dem Elektro-Duo Leftfield die Dancefloor-Single „Open Up“ auf.

Ab dem 1984 fertiggestellten Album This Is What You Want This Is What You Get riskierte die ehemalige Galionsfigur der Londoner Punkszene eine Grenzüberschreitung anderer Art. Die Arrangements wurden von Synthesizern dominiert, die Beats im konventionellen Sinne tanzbar, Lydon näherte sich systematisch einem Nischenprogramm innerhalb des Mainstream an, das die nicht mehr als „alternativ“ zu bezeichnende Indie-Rock-Ästhetik der Neunziger vorwegnahm. Den unbestrittenen Höhepunkt dieser Phase der Bandgeschichte bildete eine 1986 von Bill Laswell produzierte Platte, deren Cover sich als Seitenhieb auf plakative Markenpflege auf die schlichte Bezeichnung des jeweiligen Trägermediums in blauer Schrift auf weißem Untergrund beschränkte – sie hieß je nach Format Album, Cassette oder Compact Disc. Die illustre Besetzung der Gastmusiker bestand unter anderem aus Parliament/Funkadelic-Keyboarder Bernie Worrell, dem Hardrock-Virtuosen Steve Vai und Ex-Cream-Drummer Ginger Baker, mit dessen Unterstützung ein einige Jahre zuvor im „NME“ lancierter Aprilscherz Wirklichkeit wurde. Das Magazin hatte angesichts der hohen Fluktuation an Schlagzeugern 1981 behauptet, Baker, weder besonders Punk- noch Postpunk-verdächtig, wäre bei PiL eingestiegen.

In den späten 80er- und frühen 90er-Jahren widmete sich Lydon mit den Alben Happy, 9 und This Is What Is Not einer konsequenten Mischung aus Dancefloor und Indie-Pop. In den besten Momenten dieser Produktionen entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen seiner Stimme und den pulsierenden Beats, in den schwächeren klingen sie wie austauschbare Routinearbeiten. Nach dem kommerziellen Misserfolg von This Is What Is Not und fehlender Unterstützung durch das Label löste Lydon 1992 die Band auf. Auf seine 1995 erschienene, mit ebenso bissigen wie unterhaltsamen Beobachtungen glänzende Autobiografie folgte 1996 die Reaktivierung der Sex Pistols.

Auf dem 1997 veröffentlichten Solo-Album Psycho’s Path lieferte Lydon eine reduziertere und effektvollere Variante seiner auf den letzten PiL-Alben begonnenen Elektro-Experimente. 2009 finanzierte Lydon schließlich mit den Einnahmen aus den Pistols-Konzerten und dem Honorar für einen Butter-Werbespot eine PiL-Reunion. Das erste Album seiner zweiten Band seit 20 Jahren erscheint in diesen Tagen. Eine kreative Kommunikationsfabrik wird daraus wohl nicht mehr werden, schon weil Wobble und Levene fehlen, aber zumindest kann Lydon, den es zwischenzeitlich in Reality-Shows und ins „Dschungel-Camp“ verschlagen hatte, mit der Kontrolle über sein Public Image ein würdiges Alterswerk realisieren.

Albumkritik S. 88

Was die Anderen sagen

„Ich erinnere mich daran, wie ich John Lydon und Keith Levene in der Tom Snyder Show‘ sah, kurz nachdem Metal Box herausgekommen war. ‚Rock’n’Roll ist tot‘, das war ihr Hauptanliegen … In demselben Jahr tauchten eine Menge neuer Bands auf – Gang Of Four, die Slits, Stiff Little Fingers, Specials und so weiter. Für einen Augenblick sah es so aus, als hätten die langhaarigen, pseudohaften Stoner-Kids nichts mehr, für das es sich zu leben lohnte. Sie mussten sich zwischen den Bad Brains und Rap entscheiden. Lydon hatte zum ersten Mal recht: Rock war vorbei.“

Michael Diamond alias Mike D (Beastie Boys)

„Wir mochten PiL sehr und wollten auf unserer ersten Platte auch so klingen wie sie. Gut, sie klang dann doch ganz anders. Wir hatten Glück, dass sie sich überhaupt wie ein Album anhörte …“

Kim Gordon (Sonic Youth)

„Wir könnten keine Platte auf einer Stufe mit Metal Box und schon gar nicht mit Flowers Of Romance machen. Ich bin auch nicht Lydon. Ich würde diese Einstellung nicht durchhalten.“

Thom Yorke (Radiohead)

„Public Image Ltd. hatte mich als ganze Gruppe stark beeinflusst, nicht nur John Lydon, es war diese Kombination aus Leuten. Als die erste Single herauskam, war ich davon wie weggeblasen, mit Metal Box konnte nichts auch nur ansatzweise mithalten. Es ging nur um die Basslines, die Produktion war auf das Allernötigste reduziert, das ganze Album blieb dermaßen spartanisch.“

Robert Del Naja alias 3D (Massive Attack)

Songzitate für die Ewigkeit

„We only wanted to finish the album with the minimum amount of effort which we are doing very successfully“

„Fodderstompf“, 1978

„Watch her slowly die. Saw it in her eyes. Choking on a bed. Flowers rotting dead. Seen it in her eyes. Ending in a day.

Silence was a way.“ „Swan Lake [aka Death Disco]“, 1979

„I can’t depend on these so called friends. It’s a pity you need to defend. I’ll take the furniture and start all over again“

„Flowers Of Romance“, 1981

„I could be wrong. I could be right … May the road wise with you. Anger is an energy“

„Rise“, 1986

„Disappointed a few people. Well, isn’t that what friends are for“

„Disappointed“, 1989

inspiriert von

Captain Beefheart

CAN

Lee Perry

Pere Ubu

Miles Davis

haben inspiriert

Leftfield

Sonic Youth

Primal Scream

U2

Moby

Die meisten Drummer

Kaum eine Band, abgesehen vielleicht von Spinal Tap, hatte je einen solchen Schlagzeuger-Verschleiß wie PiL:

Jim Walker (1978-1979): Kanadischer Austauschstudent mit Punk-Erfahrung, der sich auf eine Kleinanzeige Lydons hin meldete, finanzierte mit den Tantiemen sein Filmstudium.

David Humphrey (1979): Erster Drummer der Metal Box-Sessions, arbeitet heute als Schlagzeuglehrer.

Richard Dudanski (1979): Ist auf einem Großteil der Metal Box-Tracks zu hören, spielte mit Joe Strummer (noch vor The Clash) bei der Pub-Rockband The 101ers.

Karl Burns (1979): Kam nicht groß dazu, etwas für das Metal Box-Album aufzunehmen; spielte zwischen 1977 und 1998 immer wieder bei The Fall.

Martin Atkins (1979, 1982-1985): Erster ausdauernder Vollzeit-Drummer der Band, spielte später u.a. auch bei NIN, Ministry und Killing Joke. Betreibt ein eigenes Label und die Industrialband Pigface.

Keith Levene, John Lydon (1981): Nachdem Martin Atkins nicht bei allen Tracks auf Flowers Of Romance mitspielen konnte, trommelten Lydon und Levene bei einigen Songs selbst.

Sam Ulano (15.5.1981): Seit den 40er-Jahren aktives Urgestein der New Yorker Jazzszene, spielte als Session-Drummer beim berüchtigten Performance-Riot-Gig im Ritz.

Tony Williams (1986): An Album beteiligte Schlagzeug-Legende Nummer eins, stilprägender Jazz-Drummer.

Ginger Baker (1986): An Album beteiligte Schlagzeug-Legende (u.a. Cream) Nummer zwei, stilprägender Rock-Drummer.

Bruce Smith (1986-1990, seit 2009): Zweiter ausdauernder Vollzeit-Drummer der Band, spielte auch bei den Slits und The Pop Group.

Curt Bisquera (1992): Session-Drummer auf This Is What It’s Not, arbeitete unter anderem für Mick Jagger und Elton John.

PiL & die folgen

Die bekannteste PiL-Coverversion nahm die französische Band Nouvelle Vague auf. Ihr Vorhaben, die Tristesse britischer Kitchen-Sink-Dramen mit dem Elan eines Films von Godard oder Truffaut zu kombinieren, lässt sich beispielhaft an „This Is Not A Love Song“ nachvollziehen. Lydons unterkühle Satire auf den Vorwurf eines vermeintlichen Ausverkaufs verwandelt sich durch die Performance von Mélanie Pain in elegante Koketterie.

Weitaus weniger begeistert als Kritiker und Publikum zeigt sich John Lydon von der inoffiziellen PiL-Reunion von Keith Levene und Jah Wobble. Er drohte den ehemaligen Kollegen mit einer Unterlassungserklärung.

HipHop-Legende Afrika Bambaataa wollte beim Crossover-Projekt Time Zone 1984 ursprünglich mit Def Leppard zusammenarbeiten. Bill Laswell empfahl ihm stattdessen John Lydon. Das Ergebnis war der Crossover-Hit „World Destruction“.

Bei einer von mehreren Sex-Pistols-Reunions (die erste gab es 1996) auf dem „Inland Invasion“-Festival in Kalifornien entdeckte Lydon 2002 einen Zuschauer mit einem Public-Image-Limited-T-Shirt. Die Umsetzung seiner Ankündigung, „und nächste Woche komme ich für den Typen dort drüben mit PiL wieder“, dauerte dann aber doch sieben Jahre länger.

Die New Yorker Discopunk-Combo Radio 4 benannte sich nach dem gleichnamigen PiL-Song (auf Metal Box). Dieser wiederum bezog sich auf den Spoken-Word-Sender „BBC Radio 4“.

DIE BESTEN ALBEN

First Issue (1978)

Während die restlichen Sex Pistols unter der Regie von Malcolm McLaren mit The Great Rock’n’Roll Swindle die eigene Bandgeschichte als eine Farce behandelten, die schließlich von der Tragödie um Sid Vicious und Nancy Spungen überschattet wurde, demonstrierte Lydon seine neu gewonnene Unabhängigkeit mit treibenden Noise-Collagen. Das inhaltliche Spektrum reicht von existenziellem Fatalismus in „Theme“ bis hin zu dadaistischem Dub in „Fodderstompf“.

Metal Box / Second Edition (1979) Nachdem einige Fans und Kritiker bei First Issue noch Zweifel hegten, ob Lydon es mit seiner experimentellen Haltung wirklich ernst meint, ließ Metal Box keinen Zweifel mehr daran. Lydon, Wobble, Levene und diverse Drummer schufen das definitive Postpunk-Album, das mit seinen apokalyptischen Grooves noch heute seiner Zeit weit voraus erscheint.

The Flowers Of Romance (1981) Nach dem Ausstieg von Jah Wobble nutzten Levene und Lydon das gesamte Studio-Inventar bis hin zur Armbanduhr des Drummers Martin Atkins zur Instrumentierung des zwischen minimalistischem New Wave und World Music navigierenden Albums. Levene verzichtete fast komplett auf Gitarren und arbeitete stattdessen mit Loop-Effekten und Collagen. Der Titel spielt auf ein früheres Band-Projekt von Levene, Sid Vicious und Viv Albertine von den Slits an.

Album (1986) Die bisher spannendste Mainstream-Veröffentlichung von PiL, die zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als Kommunikationsfabrik operierten, sondern als von Lydon koordiniertes Konglomerat aus wechselnden Session-Musikern, darunter Steve Vai und Ginger Baker. Neben der hypnotischen Hit-Single „Rise“ (immerhin Platz 11 in Großbritannien) enthält das von Bill Laswell produzierte Album geradlinige Hardrock-Nummern, zu denen Lydons vibrierende Stimme einen reizvollen Kontrast bildet.

John Lydon – Psycho’s Path (1997) Kein offizielles PiL-Album, das sich aber trotzdem nahtlos in die Diskografie der Band integriert. Lydon ausnahmsweise einmal nicht mit Session-Musikern, sondern mit selbst programmierten Beats und gelegentlicher Unterstützung von Leftfield und den Chemical Brothers. Psycho’s Path klingt so, wie man es sich von den späten PiL-Alben 9 oder This Is What It’s Not gewünscht hätte. Delirierender Dancefloor als Geisterbahnfahrt durch die Abgründe des Innenlebens.

AliFE 2009 (2010) Neben den Klassikern der ersten drei Alben enthält Lydons von Kritikern und Publikum weitgehend euphorisch aufgenommenes Live-Comeback einen Querschnitt durch die hörenswerten Tracks der späteren Indie-Pop-Platten.

Jah Wobble – I Could Have Been A Contender (2004) Die drei CDs umfassende Werkschau bietet einen kompakten Einblick in das kreative Schaffen Wobbles.

Jah Wobble / Keith Levene – EP (2012) Während Lydon mit der aktuellen PiL-Besetzung eine rauere Fortsetzung der Dancefloor-Ansätze aus den späten Achtzigern verfolgt, bauen Wobble und Levene im Freestyle-Modus und ohne Nostalgie ihre Wall-of-Sound weiter aus.

Was sie selbst sagen

„Bei den Sex Pistols habe ich mein Handwerk gelernt und bei PiL kann ich darauf aufbauen. Die Pistols sind der politische Teil meines Lebens, bei PiL kann ich dagegen die Marotten und Fehler meiner eigenen Persönlichkeit erkunden, und ich versuche, sie langsam zu verbessern.“

John Lydon (2010)

„Ohne John hätte ich nie angefangen, Bass zu spielen. Ich trieb mich schon 1976 mit ihm herum. Und eines Tages sagte er, er würde jetzt in einer Band spielen. Aber das war die Zeit von Emerson, Lake & Palmer – keiner, den ich kannte, war damals in einer Band. Es war so, als wenn jemand auf einmal gesagt hätte, er wolle jetzt Gehirnchirurg werden. Trotzdem griff ich mir einen Bass und es fühlte sich von Anfang an richtig an.“

Jah Wobble

„Ich habe Arroganz in eine Kunstform verwandelt, bis hin zu dem Punkt, an dem sie zu Comedy wird.“

John Lydon (2009)