Stevies Wunder: Die Motown Story


Der Erfolg des jungen Stevie Wonder wie auch vieler anderer schwarzer Künstler war eng verknüpft mit dem Erfolg einer jungen Firma aus Detroit. Nun wird Motown 40 - und ME erzählt die Story eines großen Labels.

MOTOWN? Wenn man es ganz nüchtern sehen will, ist das nichts weiter als das Kürzel für „Motor Town“. Gemeint ist Detroit, denn dort werden seit jeher Autos zusammengeschraubt. 1959 aber wurde in Detroit von einem smarten schwarzen Herren namens Berry Gordy jr. auch eine Plattenfirma gegründet. Und Gordy fand es passend, das junge Unternehmen mit jener Stadt in Verbindung zu bringen, in der es seinen Sitz hatte. Der Name Motown war geboren. In laufenden Jahr wird er 40 Jahre alt. Sachliche Erklärungen fallen allerdings den wenigsten Musikinteressierten ein, wenn sie an Motown denken. Die meisten reagieren eher mit euphorischen, mit nostalgisch-schwelgerischen oder auch mit ganz sentimentalen Gefühlen auf jenen Begriff, weil Motown ihnen einst die Begleitmusik zum ersten Kuß, zur ersten richtigen Party, zur ersten Liebe oder auch zum ersten gebrochenen Herzen lieferte. Wer den Markennamen Motown hört, denkt darüber hinaus auch an einen Sound, der die populäre Musik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stärker geprägt hat als kaum ein anderer Klang. Motown steht für schwarze Stimmen, für soulige Melodien und für mitreißende Rhythmen, die an kaum jemandem spurlos vorbeiziehen und die niemand mehr aus seinem Immunsystem herausbekommt, wenn es erst einmal damit infiziert worden ist. Zahlreiche Motown-Hits waren vom Tag ihrer Veröffentlichung an Signal- und Impulsgeber. Was Wunder also, daß auch die Werbung häufig und gern den typischen, den unvergänglichen Sound der Firma aus Detroit seit Jahrzehnten nutzt, um Produkten und Konsumgütern aller Art ein positives Image zu verpassen.

Im Moment bereitet sich das Unternehmen Mowtown mit einigen Hit-Kopplungen und Remixen bekannter Titel aus seinem Repertoire auf die Feierlichkeiten zum vierzigjährigen Bestehen vor. Puff Daddy etwa macht sich über „I Want You Back“ von den Jackson 5 her. Das „Motown Cafe“ in New Yorks 57. Straße wird schon mal feierlich dekoriert. Aus gutem Grund. Denn im Laufe der Jahrzehnte wurde die Plattenfirma zur Heimat zahlreicher Star. Darunter die Supremes, die Jackson 5, die Mirades, Smokey Robinson, Marvin Gaye, die Temptations, die FourTops, Martha & The Vandellas, Jr. Walker, Eddie Kendricks, die Commodores, Lionel Richie, Teena Marie, Brenda Holloway, Rick James, Willie Hutch, El DeBarge, Stevie Wonder, Mary Wells, die Isley Brothers, Gladys Knight & The Pips, Edwyn Starr, Queen Laüfah, Boyz II Men und Zhane. Selbst Kinoheld Bruce Willis, der ja seine Vorliebe für schwarze Musik bisweilen auf der Bühne auslebt, stand schon mal auf der illustren Künstlerliste von Motown Records.

Manch einer der von Motown verpflichteten Soulhelden verließ die Firma im Laufe der Jahre, weggelockt von Multimillionen-Offerten anderer Companies, kam aber später reumütig zurück (wie Diana Ross, die mit Berry Gordy ein Kind hat) oder schämte sich ein Leben lang der musikalischen Heimat den Rücken gekehrt zu haben (wie Michael Jackson, der 1972 sein erstes Solo-Album auf dem Motown-Label veröffentlichte). Dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ sagte Gordy vor zwei Jahren in einem Interview: „Ich erklärte den Künstlern immer: ‚Wenn du unbekannt bist, brauchst du mich, wenn du einen Hit landest, brauche ich dich.“ Nun, nicht alle haben diese so schlichte wie effiziente Weisheit beherzigt. Trotzdem: „Bist du einmal ein Motowner, bleibst du immer ein Motowner“, hat Soul-Legende Smokey Robinson einmal formuliert.Und Stevie Wonder brachte es einst ebenfalls auf den Punkt: „Niemand erwartete, daß mal irgendetwas künstlerisch Wertvolles aus Detroit kommen würde – schließlich war es eine Autostadt, was hatte da Musik verloren? Doch mit einem Mal begannen all die Musiker, die hier lebten, sich unter dem Signet „Motown“ zusammenzutun. Und siehe da, plötzlich entstand da ein neuer Sound, etwas Einzigartiges, das es vorher so nicht gegeben hatte.“

ALS BERRY GORDY JR. SICH 1959 LÄPPISCHE 800 DOLLAR IN DER Verwandtschaft zusammenborgte, um sein Label zu starten, hätte er wohl nicht mal in seinen kühnsten Träumen den Erfolg herbeizuphantasieren vermocht, der sich in den 60er und 70er Jahren mit einer Vielzahl von Motown-Hits einstellte. Detroit wurde angesichts des immensen Aufkommens von immer neuen Motown-Erfolgen in den Charts plötzlich ehrfurchtsvoll „Hitsville, USA“ genannt – so wie Berrys bescheidenes Bürogebäude, in dem alles seinen Anfang genommen hatte Gordy, der ehemaliger Autoverkäufer, Stukkateur und Boxer (Vorbild: Sugar Ray Robinson) hatte seine Plattenfirma allerdings von Anfang an mit kluger Konsequenz und straffer Strategie betrieben. Nicht nur, daß alle seine Künstler Benimmkurse besuchen und Tanzschritte einstudieren, sprich, das Handwerkszeug des Showbusiness von der Pike auf erlernen mußten. Nein, Gordy sorgte zudem für einen klar konturierten, sofort identifizierbaren Klang. Den typischen Motown-Sound setzte der Musiker und Arrangeur Earl Van Dyke um. Geniale Songwriter wie Holland-Dozier-Holland, Smokey Robinson, Frank Wilson, Norman Whitfield oder Mikey Stevenson dagegen garantierten die notwendigen Hits.

Berry Gordy jr. inszenierte mit Motown, wie er es ausdrückte, den „Sound Of Young America“. Eines der wichtigsten Anliegen des Firmengründers war von Anfang an, schwarze Musik aus dem Ghetto herauszuführen und neben dem afro-amerikanischen Käuferkreis auch für die weiße Mittelschicht attraktiv zu ¿

machen. Ein Ziel, das Gordy schnei! erreichte. Rückblickend läßt sich sogar sagen, daß die Musik von Motown nicht unwesentlich zur Verständigung zwischen schwarzen und weißen Amerikanern beigetragen hat. Bisweilen entzweite der Motown-Sound aber auch die Lager: den Black-Music-Fundamentalisten war er zu weiß, den weißen Rassisten zu schwarz.

Berry Gordy jr. jedenfalls war weit mehr als nur Musikproduzent und Songschreiber. Er war das Idol all jener, die zuvor vergeblich gehofft hatten, als schwarze Unternehmer in den USA einmal fruchtbaren Boden beackern zu dürfen. Zudem lebte Gordy, unabhängig von seiner Hautfarbe, den amerikanischen Traum vor – vom Tellerwäscher zum Millionär. Natürlich hatte er auch Neider und mußte immer wieder kräftig einstecken. In der Gerüchtküche beispielsweise brodelte es ständig. So wurde behauptet, Gordy unterhalte allerlei Mafiakontakte. Außerdem unterstellte man ihm, er übervorteile seine Künstler.

Gordy jedoch ließ die meisten Gerüchte links liegen und kümmerte sich lieber um seine Firma. Bis weit in die 70er Jahre hinein ging es dem Unternehmen gut, doch ab Beginn der 80er Jahre immer schlechter. 1986 bot der Branchenriese MCA Gordy mehr Geld für sein bereits marodes Unternehmen, als dieser (wie er selbst stolz verkündete) „zu Lebzeiten je hätte ausgeben können“. Dennoch: Einen Tag vor dem geplanten Deal ließ Gordy das Geschäft platzen. Zwei Jahre später allerdings war es dann doch soweit: Für 61 Millionen Dollar wechselte Motown den Besitzer. Den Zuschlag erhielten MCA und Boston Ventures.

Von der gesellschaftlichen Bedeutung Motowns zeugt eine Anekdote am Rande. Bevor Berry Gordy sein Unternehmen verkaufte, bat ihn der damalige Spitzenpolitiker und Afroamerikaner )esse Jackson mehrmals, von seinem Vorhaben abzusehen. Anderenfalls, so Jackson, werde aus einer schwarzen Vorzeigefirma ein x-beliebiges US-Untemehmen. Auch im Hause Motown selbst wurde Kritik laut. Sie wurde von Mitgliedern der Führungsetage bis hin zur persönlichen Sekretärin Gordys ausgesprochen. „Erfolgreiche weiße Firmen gibt es wie Sand am Meer. Schwarze Companies hingegen, die etwas darstellen, sind weit seltener.“ Kein Wunder also, daß der Verkauf von Motown tiefe Wunden riß.

IN SEINER AUTOBIOGRAPHIE „TO BE LOVED“ BESCHREIBT GORDY, WIE die Entwicklungen des Musikmarktes ihn langsam und unmerklich überholten. Daß er jedes Jahr allein 40 Millionen Dollar erwirtschaften mußte, um den Break Even Point zu erreichen, jenen Punkt also, an dem seine Firma schwarze Zahlen zu schreiben begann, sei ihm im Zuge des Erfolges zu spät bewußt geworden: „Ich war immer ein Vorreiter für Trends gewesen. Jetzt stand ich plötzlich hintenan. Als ich 1959 angefangen hatte, war zu 90 Prozent Kreativität gefordert und zu zehn Prozent Geschäftssinn. Später machte der kreative Teil des Business zwei und der geschäftliche 98 Prozent aus. In unserer Firma hatte es immer wieder Debatten gegeben, was denn nun wichtiger sei: die kreative Arbeit oder das Marketing. Immer ging die Diskussion zugunsten der Kreativität aus. Unser Slogan „Auf den Groove kommt es an“ bestätigte sich immer wieder aufs neue. Großartige Platten haben bei mir immer jedes Problem gelöst. Doch irgendwann kam es darauf in dieser Branche nicht mehr an. Also mußte ich aufhören.“

Die Befürchtungen, mit Motown werde es noch weiter bergab gehen, wenn die Firma an einen Multi verkauft sei, waren nicht unbegründet. Zwar hatte Gordy Jahrzehnte darauf verwendet, eine Legende aufzubauen. Doch als er Motown 1988 verkaufte, verließ er gleichzeitig ein angeschlagenes Unternehmen. Der Wert von Motown stieg trotzdem. Hatte Gordy die Firma noch für 61 Millionen Dollar losgeschlagen, so blätterte die Polygram-Gruppe nur fünf Jahre später bereits 300 Millionen Dollar für das traditionsreiche Label hin. Wohl auch deshalb, weil viele Songs von Motown-Künstlem inzwischen Evergreens sind, mit denen auch in den kommenden vier Jahrzehnten noch reichlich gute Dollars zu verdienen sind. Nachdem Berry Gordy bei Motown die Führung abgegeben hatte, versuchten sich drei Präsidenten an seinem Erbe: zuerst Jheryl Busby, dann Andre Harrell (Uptown Records), und zuletzt übernahm der 38jährige George Jackson das Zepter bei Motown. Der an der Elite-Universität Harvard ausgebildete Filmproduzent (auf seine Kappe gehen Erfolge von „New Jack City“ bis „A Thin Line Between Love And Hate“) muß sich allerdings künstlerisch wie wirtschaftlich einiges einfallen lassen, um dem Markennamen Motown eine Zukunft zu garantieren.

Die ersten Schritte dorthin sind eher klassischer Natur: Jackson reduziert die Zahl seiner Angestellten (derzeit sind es 130), weil Motown nicht genug Geld abwirft, um alle Mitarbeiter halten zu können. Doch während die geplanten Entlassungen für Getöse sorgen, ist es an der kreativen Front verdächtig ruhig. Motown-Sublabel wie „Mo‘ Jazz“, die Norman Brown, Wynton Marsalis-Pianist Eric Reed und Miles Davis‘ langjährigen Lead-Bassisten Foley im Repertoire hatten, fallen derzeit nur durch völlige Funkstille auf. Zudem muß das künstlerische Kontingent des Hauptlabels mächtig überholt werden. Seit 1985 haben nur Boyz II Men für regelmäßige Nummer-1-Hits gesorgt. Shanice Wilson, Johnny Gill, Another Bad Creation und das Duo Zhane konnten in den vergangenen Jahren ebenfalls passable Verkaufszahlen vorweisen. Zahlen allerdings, die dem früheren kommerziellen Status von Motown kaum genügen. Außerdem sieht sich das Haus mit starker Konkurrenz konfrontiert. Unternehmen wie „La Face Records“ (Babyface), „Bad Boy Entertainment“ (Sean Puffy Combs) oder das Hip Hop-Label „Death Row“ fahren mittlerweile die Gewinne ein, mit denen früher Motown hätte rechnen können.

WAS ALSO TUN? MOTOWN-PRÄSIDE JACKSON GLAUBT DIE ANTWORT ZU kennen. So setzt er zum Beispiel auf das Damentrio 702, auf das weiße Vokalquartett 98°, auf den Sänger, Multi-lnstrumentalisten und begnadeten Songschreiber Brian McKnight (der zudem einer der heißesten Produzenten der Musikszene ist) und darüber hinaus auf Donny Hathaways stimmgewaltige Tochter Lalah. Speziell mit dem 27jährigen Brian McKnight sicherte sich der Motown-Boss die Talente eines Mannes, der unbeirrt darauf zusteuert, zu einer tragenden Säule der Black Music zu werden und damit in bester Motown-Tradition steht. „Anytime“, McKnights drittes Album, ging alleine in den USA rund anderthalb Millionen Mal über die Ladentische und schickt sich an, auch international ein Erfolg zu werden. McKnight jedenfalls gilt als einer der profiliertesten Songschreiber der aktuellen Soul- und Rhythm’n’Blues-Szene. Schon jetzt werden seine Songs – meist stimmungsvolle, unter die Haut gehende Balladen – in beinahe jeder Ausgabe der Fernsehsendung „Amateur Night At the Apollo“ interpretiert. Der Talentschuppen im TV hat Einschaltquoten, von denen andere Programme nur träumen können. Zudem genießen McKnight-Nummern wie „One Last Cry oder „When the Chariots Come“ bereits jetzt Kultstatus. An der Seite von Soul-Diva Vanessa Williams glückte McKnight mit „Love Is“ ein Hit, der durch die Serie „Beverly Hills 90210“ einem breiten Publikum nahegebracht wurde Und als Gesangspartner von Star-Saxophonist David Sanborn durfte Mc Knight bei einer landesweit übertragenen Sportveranstaltung sogar die amerikanische Nationalhymne intonieren. Dazu kommen seine Jobs als Produzent: für Boyz II Men, Take Six, Smokey Robinson, El DeBarge, Nancy Wilson, CeCe Peniston und Peter Andre. Man sollte also meinen, McKnight sei ausgelastet. Doch weit gefehlt. Im Winter erscheint eine Weihnachtsplatte, Anfang nächsten Jahres soll ein Jazz-Album folgen. „Wenn all diese Alben erfolgreich werden“, freut sich George Jackson, „wird Brian McKnight der erste schwarze Superstar des neuen lahrtausends. Und wo ist er unter Vertrag? Bei Motown!“

UND NOCH EINEN HOFFNUNGSTRÄCER WEIß DAS MOTOWN-LABEL IN seinen Reihen: Queen Latifah. Die pfundige Dame war die erste Rapperin überhaupt, die mit ihrer Sangeskunst Edelmetall erwirtschaftete. Fünf Jahre hat sie gebraucht, um ein Nachfolgealbum für ihr mit Gold und Platin ausgezeichnetes Meisterstück „Black Reign“ aufzunehmen. Nun fordert sie auf ihrem gerade erschienenen aktuellen Album „Order In the Court“. Und schon jetzt zeichnet sich – zumindest in den LISA – ein weiterer großer Verkaufserfolg ab. In ihrer amerikanischen Heimat ist die Rap-Pionierin noch immer äußerst beliebt. Der Grund für ihre lange Plattenpause waren zahlreiche Aktivitäten außerhalb von Studio und Bühne. So war Queen Latifah eine der Flauptfiguren der schwarzen Sitcom „Living Single“ und bestritt zudem verschiedenen Rollen bei Filmprojekten. So war sie in Spike Lees „Jungle Fever“ ebenso zu sehen wie in „Set 1t Off“ (ihre erste Hauptrolle) oder „Sphere“. Im Herbst wird die ungekrönte Königin des HipHop ihre lange erwartete Autobiographie veröffentlichen, und von 1999 an moderiert die Queen in den USA eine tägliche Talkshow.. Zudem zieht Hoheit auch erfolgreich im Hintergrund die Strippen – mit einer eigenen Plattenfirma und einem Management-Unternehmen. Dennoch: Latifahs geheime Liebe gehört nach wie vor jener Firma, bei der alles für sie begann und bei der bis heute ihre Platten erscheinen – Motown. „Motown Records“, gestand Queen Latifah jüngst dem amerikanischen In-Magazin „Pulse!“, „ist ein Mythos, etwas ganz Besonderes, speziell für uns schwarze Künstler. Ich glaube, es gibt keinen Black Artist der letzten 30 Jahre, der nicht von diesem Label und seiner Musik inspiriert worden wäre. Motown, das ist ein Symbol für die schwarze Emanzipation. Und ich bin stolz darauf, bei Motown Records unter Vertrag zu stehen. Sogar verdammt stolz.“

Bei allem berechtigten Stolz: Fachleute halten es für fraglich, ob Brian Mc Knight, Queen Latifah und eine Handvoll anderer Künstler wirklich in der Lage sind, den Namen Motown in seinem alten Glanz erstrahlen zu lassen und die Kassen der Company wieder zu füllen. Auf der anderen Seite: Motown lebt seit 40 Jahren. Und Legenden sterben bekanntlich nie.