Springsteen in der Klemme


Daß er fünf Jahre lang privatisierte, war weniger das Problem. Daß er dann aber den 90ern hoffnungslos hinterherhinkte, bereitet Bruce Springsteen nun einiges Kopfzerbrechen: Die Umsätze seiner beiden neuen Alben sind bestenfalls zufriedenstellend — und die stets geneigten Kritiker gehen schon vorsichtig auf Distanz. Hat das Sprachrohr einer Generation Rost angesetzt?

Es war eine bezeichnende Szene. Zum Tage der Veröffentlichung hatte sich ein New Yorker Laden der Plattenkette „Tower Records“ etwas besonderes einfallen lassen: Um 7 Uhr. zwei Stunden eher als gewöhnlich, öffnete man die Pforten, um dem erwarteten Ansturm mit einem „Springsteen-Breakfast“ gerecht zu werden. Jeder Bruce-Fan konnte nicht nur die neuen Platten hören — er wurde auch mit Kaffee und einem Donut bewirtet.

Die potentiellen Plattenkäufer hätten sich fast den Magen verdorben: Auf 12 Donuts kam gerade mal ein Besucher.

Unter den spärlichen Kunden: ein uniformierter Polizeibeamter aus einem nahen Provinzstädtchen — sowie ein älterer Herr im Anzug, der betonte, die letzte Springsteen-Platte für seine Kinder gekauft zu haben. Diesmal sei er aus eigenem Antrieb gekommen.“.Die Kids haben längst einen anderen Geschmack. „

Wie sieht 1992 das Springsteen-Publikum aus? Sind es noch die gleichen Leute, die ihn 1971 entdeckten? Oder die. die 1984 auf den „Born In The USA‘-Zug sprangen? Hat Springsteen, das Sprachrohr einer ganzen Generation, den heutigen Kids überhaupt noch etwas zu sagen?

..Ich habe keine Ahnung, wieseine Fans heute aussehen“, gesteht selbst Charles Cross, Herausgeber des Springsteen-Fanzines „Backstreets“.

„Und ich bezweifle auch, ob Bruce das weiß. „

Die Auguren, die bereits den Anfang vom Ende zu diagnostizieren glauben, sind schnell zur Stelle. Das amerikanische Unterhaltungs-Magazin „Entertainment Weekly“ ist überzeugt, daß Springsteens Probleme „mit den rasenden Veränderungen im Rock ’n‘ Roll der 9-)er“ verknüpft sind. „Es gibt den Seattle-Sound, es gibt die Funk-Punk-Bands — und wenn Bruce in dieser Situation nicht mit Platten aufwarten kann, die einen gewalligen Sprung in die Zukunft machen, ist er nach fünf Jahren zwangsläufig ein alter Hut.“

Die Story, warum Springsteen fünf Jahre für ein neues Lebenszeichen brauchte, könnte fast das Thema eines seiner Songs sein. Der Song handelt von einem Mann, der — nach Jahren des ziellosen Suchens — endlich mit beneidenswerten Konstanten in seinem Leben gesegnet ist: eine harmonische Ehe. zwei Kinder, ein schier unerschöpfliches Reservoir neuer Songs, auf die die ganze Welt ungeduldig wartet. Gleichzeitig quälen unseren Mann undefinierbare Selbstzweifel, ob er dieser Welt überhaupt noch etwas zu sagen hat.

Selbst die Resultate seiner kreativen Qualen, die Alben „Human Touch“ und „Lucky Town“, sind bezeichnend für Springsteens Manie. Laut Drummer Jeff Porcaro waren mindestens 32 Songs fertiggestellt, als es im Frühjahr ’91 an die Endauswahl für „Human Touch“ ging. Mehr als genug für ein Album, sollte man meinen, doch Springsteen war anderer Meinung: Nachdem er im Autoradio einen alten Dylan-Song („Series Of Dreams“) gehört hatte, war er wie elektrisiert und mußte partout noch einen weiteren Song schreiben. Aus dem einen Song wurden zehn — und daraus das zweite Album „Lucky Town“.

Doch während „Lucky Town“ eine neue emotionale Frische durchblicken läßt, ist „Human Touch“ eine schale und abgestandene Angelegenheit: ausgelaugte Riffs und leere Worthülsen, die fast schon an Selbstparodie grenzen. Einmal mehr „rollen die Würfel“, „brennen die Autowracks“, einmal mehr „kennt die Straße keine Gnade.“ Nichts hat sich verändert, seit Springsteen vor 17 Jahren verkündete, daß er „born to /-««“sei.

Wer ihn 1988 auf der abschließenden Pressekonferenz zur ,.Amnestv“-Tour erlebte, wo Springsteen „eine neue Sensibilität, einen Trieb, neue Musik zu schreiben“ an sich konstatierte, wird auf „Human Touch“ nichts davon hören. Und wer sich an seine Worte erinnert, daß „er die jungen Leute in Amerika aus ihrer Lethargie reißen wolle“, kann schlicht nur lachen. ¿

Mögliche Grunde für Springsteens kreativen Knacks sind schnell gefunden: die desaströse Ehe (und prompte Scheidung) mit Model Julianne Philips, ein unschöner Prozeß zweier Roadies, die sich von Springsteen ausgebeutet fühlten, dann der überraschende Umzug vom Arbeiterstaat New Jersey in die Prominenten-Enklave Bel-Air (deren Unwirklichkeit sich bereits in dem neuen Song „57 Channels“ niedergeschlagen hat). Nicht zuletzt aber dürfte der Split seiner E Street Band, vor allem die Trennung von Langzeit-Partner Clarence Clemons, größere Schlaglöcher in Springsteens Highway gerissen haben, als ihm das ursprünglich bewußt war.

In einem MTV-Interview räumte er unlängst ein, daß er angesichts der Trennung „ziemliches Fracksausen“ gehabt habe. „Aber die Trennung von der Band für mich war eine Chance, aus den vertrauten Muslern auszubrechen, auszuprobieren, was andere Musiker in meine Musik einbringen können. Ich spürte, daß ich verpflichtet war, auch mal etwas Neues zu machen. Auch wenn mir der Entschluß alles andere ab leichtfiel.“

Apropos Interview: Mit Erstaunen stellten Beobachter fest, daß der ansonsten so abgeschottete Einsiedler plötzlich sein Herz für die Medien entdeckte. Am 9.Mai trat er im US-Fernsehen bei „Saturday Night Live“ auf, kurz darauf gab er MTV ein Interview, wenig später dem „RoUing Stone“.

Amerikanischen Journalisten wurde überdies ein Videoband angeboten, auf dem Bruce entwaffnend offen über biografische Details plaudert. Er erzählt von seiner Jugend („Meine Eltern wurden für mich erst menschlich, ab ich so etwa 25 Jahre alt war. Vorher gehörten sie einfach zum Mobiliar“), er spricht über die Geheimnisse des Songschreibens („Manchmal bin ich selbst erstaunt, daß ich immer noch Themen für meine Songs finde. Detaib allein sind nicht genug, man muß eine emotionale Basis für den Song finden. Die besten Songs sind die, bei denen die Ideen einfach so heraussprudeln“), er versucht eine Erklärung für seine Fixierung auf Autos zu finden („Wahrscheinlich tauchen in meinen Songs deshalb immer wieder Autos auf, weil es um Menschen geht, die in Bewegung sind, die etwas zurückgelassen haben und doch noch nicht woanders angekommen sind. Vielleicht hat es aber auch nur damit zu tun, daß ich ab Kind so scharf aufs Autofahren war. Meine Mutter erzählte mir, daß ich solange heulte, bb ich endlich im Wagen saß.“) Vermutungen, daß seine plötzliche Gesprächigkeit mit den enttäuschenden Verkaufszahlen in kausalem Zusammenhang stehen, werden in den USA unverblümt ausgesprochen.

Erfolg war den hastigen PR-Aktionen indes trotzdem nicht vergönnt. Die Verkaufszahlen seiner beiden Platten sinken weiter — und ob die gerade gestartete Welt-Toumee das lecke Schiff wieder flottmachen kann, steht in den Sternen (auch wenn Springsteen betont, daß „er eigentlich nur Platten mache, um anschließend damit auf Tour gehen zu können“).

Des Pudels Kern sind und bleiben Springsteens Songs — und die daraus resultierende Frage, ob die Welt 1992 diese Songs überhaupt noch braucht. Als er Anfang Mai im New Yorker „Bottom Line“ einen inoffiziellen Gig für geladene Gäste gab, kam Springsteen auf die Rassenunruhen zu sprechen, die seine „lucky town“ Los Angeles gerade aus ihren süßen Träumen gerissen hatten.

Die Kluft zwischen Schwarz und Weiß, klagte Springsteen in seiner Zwischenmoderation, werde immer krasser, immer deprimierender. „Souls Of The Departed“, ein Song über frühere Rassenunruhen in LA, machte dann allerdings deutlich, daß Springsteen auch nur den resignierenden Rückzug ins Privatleben anbieten kann. Er müsse an die Sicherheit seiner Kinder denken, sagt er, und singt: „/ wanl to build a wall so high nothing can bum it down/ Right here on my own piece of dirty ground.“

Niemand wird Springsteen vorwerfen wollen, daß er sich hinter dicken Mauern in Sicherheit bringt. Viele Familienväter im berüchtigten Stadtteil South Central hätten sich vermutlich glücklich geschätzt, das gleiche zu tun. Doch während Springsteen zum Rückzug bläst, schlägt eine neue Rock-Generation, vor allem natürlich die Garde der militanten Rapper, ganz andere Töne an. Schwer vorstellbar, daß Songs über Mauern und Elektrozäune ein Publikum elektrisieren können — nicht Springsteens altes Publikum, das vielleicht noch den mythischen Träumen von Ausbruch und der großen Freiheit nachhängt, und schon gar nicht jüngere Hörer, für die Springsteen eh nur ein weltfremder Märchenonkel ist.

„Springsteen“, glaubt „Entertainment Weekly“, „wird vermutlich nie wieder die Welt so aufrütteln können wie er es in der Vergangenheit getan hat. Die Rassenunruhen in Los Angeles haben auf dramatische Webe bewiesen, daß Springsteen — zum ersten Mal in seiner Karriere — kein aktiver Kommentator, sondern nur noch ein hilfloser Beobachter bt. „