Sommer Frische
Verrat! Nach 17 Jahren an den Tresen von Lon don flieht Motörhead-Chef Lemmy als spät- reifer Sommerfrischler ins sonnige Los Angeles.
Trauerzeit in Londons Rock ’n Roll-Szene: 17 Jahre lang war Motörhead-Rocker Lemmy Kilmisler immer an vorderster Front dabei. Er wurde zu einer Szene-Institution, die in ihrer Bedeutung allenfalls noch vom Marquee Club oder den Abbey Road Studios übertroffen wurde. Doch jetzt mußten die Rock- und Alk-Fahnen auf Halbmast gesetzt werden — Lemmy hat seiner Heimat nun endgültig den Rücken gekehrt.
Wehmütig blicken Londons Szene-Gesellen auf die guten alten Zeiten zuruck: Sie konnten gehen wohin sie wollten, Lemmy war schon da — an der Bar oder in irgendeiner Ecke im Zwiegespräch mit einem Spielautomaten. Bei jedem Konzert von befreundeten Bands (Lemmy hatte viele Freunde) fand man ihn hinter der Bühne, eine Flasche im rechten, ein Madel im linken Arm.
Das war einmal. Mittlerweile hat sich Lemmy nach Los Angeles abgesetzt und seine Dreizimmerwohnung in der Nähe des Portobello Market gegen ein lichtes, luftiges Appartment am Sunset Boulevard eingetauscht, nur ein paar Autominuten vom berühmten Roxy Club und dem Rocker-Treffpunkt Sunset Bar & Grill entfernt. Hier läßt er seine alten Knochen von der Sonne verwöhnen: „44 von den 70 Jahren, die man normalerweise all werden kann, habe ich in England gelebt. Also dachte ich, Scheiß drauf, die paar Jahre, die mir noch bleiben, kann ich mich genaiisogut unter der Sonne Kaliforniens wälzen. „
Wenn er nicht gerade mit seiner Band (ebenfalls nach L.A. ausgewandert) probt, im Studio arbeitet oder auf Tour ist, liebt Lemmy es eher geruhsam — mit einem Drink auf der Terrasse, sonnenbadend am Zuma Beach oder bei einem Open-Air-Dinner in Malibus Strandrestaurant „Screaming Clam“.
„Ich bin nach Los Angeles gezogen, weil hier die Sonne scheint und viele Plaltenheinis herumhängen. Ich bin nicht gekommen, um den ganzen Tag in einer Limousine herumzufahren und den coolen Rockstar raushängen zu lassen. „Statt dessen läßt er lieber seinen stattlichen Bauch aus der Jeansweste hängen und die kalifornische Sonne daraufbrennen. Mit Erfolg: „Das erste Mal in meinem Leben bin ich nicht nur am Hals und an den Armen braun. „
London und den Clubs, die ihn berühmt gemacht haben, hat er weit hinter sich gelassen: „Die meisten Clubs haben sowieso zugemacht“, brummt er mürrisch, „die alte Rock V Roll-Gemeinde gibt’s nicht mehr. Den Marquee Club hüben sie abgerissen, du siehst du nur noch ein Loch. Das Hammersmith Odeon hat den Besitzer gewechselt und soll demnächst umgetauft werden. Hier macht dagegen jeden Monat ein neuer Club auf. Die Leute glauben immer, daß in LA. nur Glam-Rocker rumlaufen, lauter Guns W Roses-Imitationen, aber das stimmt nicht. Es gibt Hunderte von Bands, jede ist anders. Die Leute in L.A. wollen ihren Spaß haben, und dafür stellen sie einiges auf die Beine. Für die Engländer ist ,Spaß‘ mittlerweile ein Fremdwort, deshalb sehen sie genauso deprimiert aus wie sich ihre Musik anhört. Hier ist es genau umgekehrt: Die Leute sind gut drauf und machen positive Musik.“
Heimweh nach der kalten Insel hat Lemmy nicht: „Mein Lieblingsbier kriege ich auch in L.A., es gibt hier eine Menge englischer Pubs.“ Und eine Menge Engländer, die in eben diesen Bars ihr Leid, fernab von der Heimat zu darben, im Bier ertränken. Für Lemmy ein Ärgernis: „Wenn du in einem anderen Land lebst, solltest du dich bemühen, die Leute dort zu verstehen, und dich an ihren Lebensstil anpassen. Du kannst nicht in eine Stadt wie L.A. kommen und erwarten, daß alles genauso ist wie in London. Es ist ein Segen, daß die Band nach LA. gekommen ist. Seitdem wir hier sind, tritt unsere Musik endlich nicht mehr auf der Stelle. „
Nachhörbar ist dieser L.A.-Effekt am besten auf „March Or Die“, dem neuen Motörhead-Album. Soviel Abwechslung gab es bei dieser Band noch nie: Auf „I Ain’t No Nice Guy“ geben Ozzy Osbourne und Slash Gasteinlagen, und Tracks wie „Bad Religion“ und „You Better Run“ klingen, im Gegensatz zu eher konventionellen Speed-Metal-Nummern, schon fast wie West-Coast-Rock. „Eigentlich kein Wunder — schließlich lebe ich jetzt an der Westküste“, schließt Lemmy messerscharf. „Es ist unmöglich, in Los Angeles zu wohnen und nicht von diesem Sound beeinflußt zu werden. Er verfolgt dich überall hin, tönt aus jedem Radio und jedem Club. Aber das heißt deshalb noch lange nicht, daß Molörhead demnächst wie Foreigner oder, Gott behüte, wie Michael Bolton klingen werden!“