„Sofort brennen“: Wie ich in den Nuller Jahren einen Musikindustrie-Skandal auslöste
Die aktuelle Veröffentlichung CRACKER ISLAND von der Cartoonband Gorillaz fungiert für unseren Kolumnisten Linus Volkmann als Rückführung – zwanzig Jahre in die Vergangenheit. Wer immer schon dachte, die Musikindustrie spinnt ein bisschen, möge weiterlesen.
Zum Geleit
Es folgt eine aufwühlende Anekdote aus dem einstigen Sehnsuchtsort Musikindustrie. Sie kann heute erzählt werden, da die zentralen Beteiligten – das Majorlabel EMI sowie die Popkulturzeitschrift Intro – seit geraumer Zeit nicht mehr existieren. Einige Namen und Verläufe sind dennoch verändert aus Schutz für die Betroffenen.
Lange allerdings quälte mich die Frage: Wie packt man ein solch aus der Zeit gefallenes Thema in eine quasi tagesaktuelle Popkolumne? Da kommt doch der Pförtner mit dem Teleskopschlagstock und prügelt den Autoren vom Hauptrechner weg. Auf dass er sich mit seinem nicht anschlussfähigen Popjourno-Trauma-Text wieder in die Kanalisation verzieht. Warum ich weiß, dass es genauso geschehen würde? Nun, ich habe es mehr als einmal versucht.
Doch der Zufall kam mir zur Hilfe. Und zwar in Person von Damon Albarn. Mit seinem „hochspannenden“ (noch jemand wach?) Cartoon-Projekt Gorillaz veröffentlicht er dieser Tage ein neues Album. Aber wem sage ich das? Ernsthaft, wem sage ich das? Alle, die das lesen, vergessen es ohnehin schon bis zum nächsten Absatz. Aber die Gorillaz sind wichtig für diesen Text. Daher noch mal der Hinweis, dass aktuell ihr Album CRACKER ISLAND rauskam. Hier die jüngste Single. Danach kann’s losgehen.
Das Telefon sagt Buh!
Ich habe den Chef von EMI Deutschland am Apparat. Das Gespräch verläuft nicht wirklich paritätisch. Er brüllt, ich schweige. An genaue Wortlaute kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber es geht ungefähr darum, dass er mich und unseren Verlag fertig machen werde und dass speziell ich ein kompletter Idiot sei – außerdem Schuld an der Krise der ganzen Plattenbranche. Das Telefonat kommt mir unglaublich lang vor, vermutlich geht es aber nur wenige Minuten. Endlich ein möglichst laut inszeniertes KLACKKKKK am anderen Ende der Leitung. Der CEO einer der damaligen fünf großen Major-Plattenfirmen hat einfach aufgeknallt.
Kurz nach diesem Austausch, ich sitze noch leidlich schockiert und fahl am Schreibtisch, stürmt jemand aus der Anzeigenabteilung in mein Büro. Er wedelt tatsächlich mit diversen Zetteln und auch er brüllt. Seine Worte: „Die stornieren jetzt alle ihre Anzeigen! Alle! Wir sind am Arsch!“
Draußen scheint die Sonne, es ist der Sommer im Jahr 2002.
Zurück zum Start
Nein, um diese Geschichte zu erzählen, muss man weiter vorne anfangen. Der Ursprung liegt in den Neunziger Jahren. Die Plattenindustrie befindet sich auf einem Allzeithoch. Der Grund dafür ist recht banal: Das Jahrzehnt erlebt eine „Medien-Emigration“, vom Analogen geht es ins Digitale. Die treue Vinyl-Platte besitzt plötzlich nur noch Nachkriegs-Charme, wer sich für sie interessiert, kann ja gleich wieder Schwarzweißfernsehen schauen, mit der Draisine reisen und auf einem Kartoffelkäfer rumkauen. Wer es indes noch halbwegs ins Hier und Jetzt beziehungsweise in die futuristische Dekade vor der Jahrtausendwende geschafft hat, der hört natürlich nur noch CDs. Und mit hören, ist natürlich vornehmlich kaufen gemeint. Eine CD-Sammlung ist das Must-Have der Neunziger, schließlich sei der Klang dieser Dinger allem bisherigen so unfassbar überlegen. Dass heute die CD-Sammlung dysfunktionalen, abenteuerlichen Sondermüll darstellt, ahnt ganz offensichtlich niemand. Im Gegenteil.
Bei der Musikindustrie knallen ob dieser Entwicklung, an der man selbst recht wenig Anteil hat, die Korken. Die Menschen kaufen auf CD jetzt nämlich nicht nur neue Musik, sondern legen sich ihre Lieblingsplatten nun auch in dem digitalen Format zu. Die Labels verdienen also mit ihrem sogenannten „Katalog“. Ein super Geschäft, denn die Musik gibt es ja schon, die Rechte liegen vor, nichts muss teuer aufgenommen werden. Ach so, und das Beste kommt noch: Die Herstellungskosten von CDs sind günstiger als die von Vinyl. Dennoch werden CDs deutlich teurer verkauft.
Man muss nicht BWL studiert haben, um zu errechnen, wie sehr sich das finanziell lohnt – und man muss ebenfalls auch nicht Theologie studiert haben, um zu konstatieren, wie sehr die Verantwortlichen dafür in die Hölle gehören.
Feiern bis zur Wachstumsdelle
Die Neunziger festigen die Pop-Branche als Spesen-besoffenes Babylon – und weil die Einnahmen gar so sprudeln, gönnt sich die hiesige Industrie sogar einen eigenen TV-Sender. VIVA ist der überdrehte Schülerlotse, der eine neue Generation nicht bloß an Pop heranführt, sondern sie gleich begeistert und unablässig mit dem Kopf dagegen hämmert. Fachmessen wie die Popkomm ersetzen spätrömische Orgien und wer in der Zeit keinen Crush auf Nilz Bokelberg hat, hat nicht gelebt. So weit, so gut.
Doch es soll ja bald noch besser werden – schwer vorstellbar, aber wahr. Der Grund ist simpel: Eine weitere Medien-Emigration steht bevor. Musik schnurrt zu MP3s zusammen. Es geht um Files, die von Computern oder MP3-Playern abgespielt werden können. Das hieße: Schon wieder frisches Geld gerade auch für Musik aus dem eigenen Katalog. Schöner wird’s nimmermehr!
Doch dass man zwar einiges an Geld zuletzt in bestürzend billige Eurotrash-Acts wie e-rotic, aber nicht in technische Innovationen investiert hat, wird den großen Labels zur Jahrtausendwende zum Verhängnis. Die Möglichkeiten, legal MP3s von Songs zu beziehen, sind extrem unpraktisch und teuer. Den Siegeszug des Formats allerdings hält das nicht auf. Über sogenannte Tauschbörsen wie Napster findet sich eine neue computeraffine Generation im ebenfalls anschwellenden World Wide Web ein und hört Musik for free. Will man seine Songs dann aber doch in der Hand halten, holt man sich einen CD-Brenner und einen Sack Rohlinge aus dem örtlichen Media-Markt. So geht nicht nur das neue Geschäft mit der digitalen Musik an den Plattenfirmen vorbei, nein, auch ihre – wir erinnern uns – scheißteuren CDs gehen mit drauf. Denn es existiert in popinteressierten Kreisen bereits eine Art Streaming vorwegnehmende Flatrate für Musik: Man brennt sich von einem Original unzählige Kopien, preiswert, praktisch und gewürzt mit der Zutat Illegalität.
Und die Branche selbst? Wirkt komplett kopflos und statt an ihrem Angebot zu arbeiten, setzt sie auf Kopierschutz und vor allem … Haftstrafen. Ja, richtig gelesen. „Hart aber gerecht“ heißt die damit einhergehende Kampagne. Die einst noch geschätzten wie geschröpften Musikfans werden kategorisch zu Verbrecher*innen erklärt.
Wie groß die Entfremdung zwischen Musikindustrie und Konsument*innen zu Beginn des neuen Jahrtausends geworden ist, kann man sich heute kaum noch vorstellen. Zum Glück sind auf YouTube die Spots zum Thema „Raubkopierer fünf Jahre in den Knast“ erhalten geblieben. Gruselig.
„Sofort brennen!“ – Der True-Crime-Fall
In dieser aufgeladenen Zeit befinden wir uns also jetzt, im Jahr 2002. Ich bin Redakteur eines mittlerweile eingestellten Musikmagazins, meine Rolle ist die, die monatlichen Plattenbesprechungen zu organisieren. Also Platten hören, an Autor*innen rausschicken, die Rezensionen eintreiben, aufbereiten und dann ins Lektorat beziehungsweise die Graphik übergeben. Dutzende von CDs wandern jeden Tag durch meine schlanken Finger, mit Hilfe eines Excel-Dokuments versuche ich den Überblick zu behalten.
Die neue Gorillaz-Platte erreicht mich nun. Die Band hat zu dieser Zeit einen großen Hype. Ihr erster und vermutlich größter Hit „Clint Eastwood“ ist damals erst ein Jahr alt. Eine neue CD der Band, die dürfte von Interesse sein! Obwohl: Ich muss es etwas einschränken, es handelt sich um eine Veröffentlichung mit dem Namen „G-Sides“. Also um kein neues Album, sondern um eine Sammlung an Remixen, alternativen Versionen und so Kram – ein das erfolgreiche Debüt ergänzender Tonträger. Gemeinhin sind solche Projekte eher von geringerer Bedeutung und wollen noch mal das Klimpergeld abschöpfen zu einem großen Verkaufserfolg. Doch statt in die Kiste, aus der der Redaktionshund frisst, gebe ich die Platte in die Post. Denn Gorillaz – why not! Das liest sich auch ohne neue Songs gut in der nächsten Ausgabe. Die Sendung erreicht postwendend nun den berühmten Berliner Musiker Jens Friebe. Dieser weist immerhin eine moderate Britpop-Vergangenheit auf und führt eine spitze Feder mit sich, wenn ich das mal so salopp formulieren darf.
Als mich sein Text erreicht, klopfe ich mir selbst auf die Schulter. Eine gute Wahl für diese Durchgangs-Gorillaz-Veröffentlichung! Was bin ich für ein toller Redakteur! Denn Friebe schließt seine Review nach etlichen salbungsvollen bis ironischen Sätzen mit folgenden Worten: „Super-Platte – sofort brennen!“
Mir gefällt, wie er damit die affirmative Floskel werblicher Rezensionen nachstellt: Statt dem notorischen „Sofort kaufen!“ ein zeitgemäßes „Sofort brennen!“ Eine Aufforderung, die sich natürlich sehr wohl bewusst ist, welcher Paradigmenwechsel mit ihr transportiert wird. Die Gorillaz „G-Sides“ sind ein Produkt, mit dem die Plattenfirma ein paar Euro (gerade eingeführt worden) extra machen will. Die Kundschaft allerdings und allerorts möchte lieber sparen. Die Dissonanz jener Zeit bringt Friebe in seinem Schlusssatz mit wenigen Worten auf den Punkt. „Genial“, denke ich.
Der Einschlag
„Das können wir nicht machen!“, sagt mir indes die zuständige Lektorin am Telefon. Sie fürchtet, dass dieser Abbinder des Textes Verstimmungen auslösen könnte. Dasselbe scheint auch der Autor selbst zu glauben. Zumindest hat Jens Friebe die Review vorsorglich unter dem Pseudonym „Samuel Zöllner“ verfasst. „Diese armen, armen Bedenkenträger“, denke wiederum ich und sage der Lektorin, dass wir das auf jeden Fall so drucken müssen. Die Punkband Boxhamsters habe auch mal ein Album „Klau mich“ genannt (in Anlehnung an „Kauf mich“ von den Toten Hosen), außerdem warben unlängst die Komiker Erkan und Stefan für ihr jüngstes Kinoprodukt „Die Mächte der Finsternis“ mit den Worten „ist guter Film, werde ich mir nächste Woche mal runterladen!“ Wenn andere so frech sein können, dann müssen wir uns bitte nicht verstecken. „Das nehme ich auf meine Kappe“, ergänze ich – und Bruder, so wird es auch kommen.
Mangels Internet und Social Media erhalten Popmagazine in dieser Zeit noch Aufmerksamkeit – und so dauert es nicht lange, bis sich die Plattenfirma der Gorillaz, also die EMI, an unseren Verlag wendet. Alle Anzeigen im Magazin werden storniert, außerdem hat man sich auch mit der Konkurrenz ausgetauscht. Auch die leiden darunter, dass die digitalen Entwicklungen ihnen gerade über den Kopf wachsen – und gefühlt jedes ihrer Produkte nur noch illegal kopiert statt gekauft wird. Sieht man auf die realen Zahlen jener Zeit, muss man allerdings staunen, wie hoch sich die Erlöse und Verkäufe damals letztlich immer noch darstellten.
Doch das Gespenst des Brennens, es hatte für die Branche nun endlich ein Gesicht bekommen: und zwar das unseres Magazins. Das lassen sie uns spüren. Endlich mal abreagieren, endlich mal irgendwohin mit seinen Vernichtungswünschen.
Ich biete dem Herausgeber nach einer Nerven aufreibenden Woche voller Hass-Mails und Geschäftsbeendigungsbekundungen, die in dem Anruf des EMI-Chefs mündeten, an, meinen Job niederzulegen. Er winkt allerdings ab. Da müssen wir jetzt alle zusammen durch, sagt er mit irrem Blick. Ich hatte es fast befürchtet.
Epilog
Obwohl ich mich mit Schrecken an das Gefühl erinnere, verantwortlich für einen Satz zu sein, der einen ganzen Betrieb in so große Schwierigkeiten brachte, und obwohl das für mich immer mitschwingen wird, ist es doch so, dass ich schmunzeln muss, wenn ich heute, im Jahr 2023, die Magazin-Ausgaben betrachte, die auf die „Sofort brennen!“-Nummer folgen. Sie überbieten sich mit Stellungnahmen und aufgekratzten Entschuldigungen. Die Krönung des Kniefalls ist sicher ein Roundtable, den die Redaktion aufsetzt und der hochkarätig besetzt ist – vor allem mit Plattenfirmen-Justiziaren. Sowie mit einer armen Sau, die als Musikfan stellvertretend für den Konsumenten in diese Runde gehockt wurde. Doch wie schon Andreas Dorau sang: „Die Schande kommt, die Schande geht“, so verhält es sich auch mit Skandalen. Nach ein paar anzeigenmäßig sehr dürren Heften hat die Branche ihren Groll wieder in die CD-Schränke geparkt – und weiter geht’s mit dem nächsten geilen Newcomer, von dem man sich wünscht, die Musikpresse feiert ihn ab.
Auf den Weltenlauf hinsichtlich der illegalen Verbreitung von Musik hatte meine „Sofort brennen“-Affäre keinen Einfluss. Alles kam, wie es kam. Ich war nur für einen Sommer in Plattenindustrie-Deutschland der Sündenbock dafür. Alles in allem irgendwie auch eine aufregende Geschichte, von der ich mir dennoch nicht wünschen würde, sie auf meinem Grabstein zu lesen.
PS: Obwohl… „Sofort brennen!“ auf einem Grabmahl, vielleicht doch ein Hingucker. Nee, ich will nicht auch noch im Himmel gleich schon wieder Ärger.
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Und nun zu etwas völlig anderem
Egon Forever Hit Attacke
Wer sich nun fragt, wer heute eigentlich überhaupt noch mit echtem Vorsatz CDs produziert, den verweise ich auf einen der schönsten Tonträger dieses Frühjahrs. Der Zeichner Egon Forever verfolgt mit seiner Kunst seit langen Jahren einen sehr verästelten Ansatz, den vornehmlich nur er selbst durchdringt. So erscheinen eben nicht nur Comics, sondern auch Fanzines, Anthologien oder gar CDs in seiner beliebten Karoheftchen-Optik. Nach dem „Egon Forever Hit Tsunami“ von 2019 folgt nun die „Egon Forever Hit Attacke“. Allesamt Gema-freie Songs von unterschätzten Hobbycombos aus schlecht gelüfteten Proberäumen. Das Ergebnis ist genau die beseelte Punk-Playlist, die dir Spotify in hundert Jahren KI niemals aufstellen könnte. Ein paar der Acts kann man sogar kennen und der unbekannte Rest klingt ebenfalls stark. Ein gut sortierter Geheimtipp-Sampler – mit unter anderem Zweilaster, Naomi Sample, Helmut Cool und dem Überhit „Geile Leute“ von Die Daniels. Erscheint bei That Lux Good Entertainment. Am besten bezieht ihr sie über den etsy-Shop (!) des Zeichners.
Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.