So war es beim Appletree Garden Festival 2016: Wie Glastonbury, nur in schöner
Zum bereits 16. Mal versammelt sich die Jugend des Landes und die, die gerne für ewig dazugehören wollen, im niedersächsischen Diepholz. Kein Wunder, bei solch einer schönen Location.
Platzregen. Autos, die über die Landstraße schleichen, weil man vor lauter Wasser nichts mehr sieht. Nicht schon wieder, mag sicher der ein oder andere denken. Das Appletree Garden droht einmal mehr abzusaufen. Auf dem Parkplatz angekommen, ist der Spuk aber schon vorbei. Es darf ohne Gummiregenjacke auf der Waldlichtung am Rande Diepholz, einer Kreisstadt irgendwo zwischen Osnabrück und dem Nirgendwo getanzt werden.
Das Appletree Garden hat sich in seiner 16 Jahre andauernden Geschichte zu einer Art deutschem Mini-Glastonbury gemausert. Noch vor der ersten Bandbestätigung restlos ausverkauft und damit Sehnsuchtsort und Anziehungspunkt für Festivalisten aus allen Ecken des Landes. Dass es sich einen solchen Status über all die Jahre bewahren konnte, liegt nicht nur peripher, sondern ganz entscheidend an der Location. Der Bürgerpark Diepholz, eine adrette, kleine Waldlichtung mit tief hängenden Baumkronen, ist an Idylle kaum zu übertreffen und – was noch viel wichtiger für den Wohlfühlfaktor ist – zeigt dem Appletree seine natürlichen Grenzen auf.
Beinahe zu schön, um wahr zu sein
Das ehrenamtlich organisierte Festival könnte es problemlos mit Größen wie dem Dockville aufnehmen. 20.000 Menschen in Diepholz? Keine utopische Zahl, jedoch schlichtweg nicht machbar, da der Wald nur eine begrenzte Zahl Glücklicher aufnehmen mag. Um die 5.000 Besucher tummeln sich so auf dem Gelände und dem Campingplatz, der direkt an ein Neubaugebiet mit jungen Familien, die dort in schmucken Einfamilienhäusern wohnen, grenzt. Eine gute Nachbarschaft, insbesondere deshalb, weil die Häuslebauer regen Kontakt zu dem Campern suchen. Beinahe zu schön, um wahr zu sein.
Seit einigen Jahren bietet das Appletree drei Tage Live-Musik anstatt nur zwei, der Donnerstag jedoch ist als Warm-Up für das eigentliche Wochenend-Programm zu verstehen. In diesem Jahr fällt die Aufwärmphase, man muss es leider sagen, spärlich aus. Einzig die großartigen Parcels können mit ihrem Funk’n’Soul-trifft-auf-Surfrock-Gebräu einmal mehr unter Beweis stellen, dass sie eine Weltklasse-Live-Band sind. Von Wegen Lisbeth? The Slow Show? Goose? Allesamt enttäuschend bis entsetzlich schrecklich. Dazu trägt jedoch auch ein Stück weit das Publikum ein gutes Stück mit. Während sie die Pennäler-Lyrik der Berliner Von Wegen Lisbeth mitsingt und sich aufführt als sei seit den Kilians in der alternativen deutschen Musikszene die Zeit stehen geblieben, wird bei den eingeschüchtert wirkenden Slow Show hemmungslos gequatscht, bis der Gesang irgendwo zwischen dem Laub der Blätter verfliegt.
Die ersten beiden Bands des Tages – Volltreffer!
Dafür startet der Freitag umso atemberaubender. Selten kann man behaupten, dass die ersten beiden Bands des Tages Volltreffer sind. Heute schon. Woman aus Köln und später Her aus Belgien locken nach und nach das Publikum auf das Infield und dankt es ihnen mit zauberhafter Musik. Die einen, Woman, spielen in Mathrock abdriftenden, hochspannenden Kraut-Elektropop. Die anderen, Her, erinnern im ersten Moment zwar an Hurts (nur äußerlich!), reißen das Ruder jedoch mit dem ersten Ton ihres zwischen Daft Punks RANDOM ACCESS MEMORIES und Curtis Mayfield liegenden Soul komplett herüber. Danach haben Acts wie Sara Hartman und Me And My Drummer einen schweren Stand.
Den besten Auftritt des Appletree Garden 2016 bekommt man ebenfalls am Freitag zu sehen. Oddisee, Rapper aus Washington D.C., spielt den HipHop, den unsere turbulente Zeit verdient und mit den Ressentiments, die in vielen von uns eben doch verankert sind als er zu einer in ihrer Konsequenz unglaublich humorvollen Ansprache ansetzt: „Hey Appletree, I am Oddisee, but my real name is Amir Mohamed el Khalifa – but don’t worry – you’re safe!“ Es wundert nicht, dass Oddisee gegen Ende seines fesselnden Gigs Kendrick Lamars „Alright“ rezitiert und für ein friedliches Miteinander appelliert. Dass all das nicht in grässlich-amerikanisierten Kitsch abdriftet, rückt ihn noch näher an die Seite des Großmeisters aus Compton.
Was ist mit AnnenMayKantereit?
Wer sich jetzt denkt, „Jaja, Oddisee, blabla, schön und gut. Aber wie waren denn AnnenMayKantereit?“, dem sei gesagt: Nun ja, so wie in den letzten zwei Jahren auch. Die Kölner machen noch immer Straßenmusiker-Musik mit einer Trademark-Stimme aus einem Körper, der nicht aussieht, wie die Trademark-Stimme klingt. Einzig ihr Equipment hat sich geändert. Gitarrist Christopher Annen hat sich eine fancy Rickenbacker zugelegt. Wie schick.
Der abschließende Samstag kommt nur schwer in Fahrt. Alles irgendwie nett. Faber singt so knuffig wie er aussieht, Lilly Among Clouds verhaspelt sich noch immer ständig während ihrer viel zu langen Songansagen, Georgia quietscht etwas zu viel rum und Blaue Blume spielen die Bühne vor sich mit ihrem für die Uhrzeit viel zu anstrengendem Shoegaze-Ambient-Sound leer. Eigentlich ist Dirk Gieselmanns Lesung auf der Zirkusbühne das Beste am Samstag. Zumindest bis Roosevelt die Mainstage betritt.
Roosevelt: Mehr Chic als Jamie xx
Marius Laubers Musik klingt live und unter nur leicht wolkenbedecktem Himmel so viel weniger nachtblau und so viel mehr glitzern als bei Soundcloud. Irgendwie mehr Chic als Jamie xx. Man kann nur gespannt sein auf das demnächst erscheinende Debütalbum.
Den heutigen Abend wird ein Secret Act abschließen, die Gerüchteküche brodelt und recht schnell sickert eine Information auf den Campingplatz durch, die beinahe schon zu Grabenkämpfen ausartet. Es sei eine Band, die in diesem Jahr auch beim Dockville auftreten werde, ein internationaler Act. „Schade“, sagt eine Abiturientin, „dann sind’s wohl sicher nicht Milky Chance“, eine andere Person betet, dass es die Foals werden, „das wäre doch mal ’ne Ansage.“ „Kakkmaddafakka sind’s. Hat mir ’ne todsichere Quelle gesteckt. Die hat gerade das Catering für die vorbereitet“ – dann müssen es wohl Kakkmaddafakka sein und keine fünfzehn Minuten später tuschelt das komplette Appletree über Kakkmaddafakka. Blöd nur, dass sich Maurice Ernst von Bilderbuch eine Milisekunde auf dem Infield gezeigt hat – oder ist der etwa bei den Kakks eingestiegen? Mit Bilderbuch sind wir doch alle sehr viel besser dran, das ist sicher. Denn die Österreicher reißen um kurz nach Mitternacht eine an Energie, Charme und Finesse kaum zu überbietende Show ab, mit der das Appletree Garden Festival 2016 seinen wohl verdienten Abschluss findet. Bis 2017 dann, vielleicht ja mit den Foals. Wäre mal ’ne Ansage.