So war das Roskilde 2024: 130.000 Menschen auf entspannt


Unser Nachbericht samt Galerie vom 52. Roskilde Festival in Dänemark.

Rund 200 Konzerte, dutzende Kunst-Performances, 130.000 Menschen, davon 30.000 Volunteers – auch die 52. Ausgabe des Roskilde Festivals in der Nähe von Kopenhagen ist ein riesiges Happening und schafft ganz lässig den Spagat zwischen Aktivismus, Hippie-Spirit und Premier-League-Festival-Headliner:innen.  

Ach, es gibt wie immer so viel zu erzählen über das Roskilde Festival! Die Non-Profit-Ausrichtung! Der Aktivismus! Die krassen Headliner (Doja Cat! Foo Fighters! SZA! Charli XCX!)! Die wilden Neuentdeckungen aus allen Teilen der Welt (Taqbir! Cumgirl8! Waqwaq Kingdom!)! Die zugleich gechillte und wild feiernde Crowd! Die ultranetten Volunteers, die den ganzen Laden schmeißen! Wie soll das bloß alles in einen schnöden Festivalbericht passen? Und wie kann der vermitteln, wie sich dieser ganze Rausch eigentlich wirklich anfühlt?

Das sind die schönsten Fotos vom Roskilde Festival 2024

Jeden Act, den man gesehen hat, zu besprechen, ist schon mal der falsche Ansatz: Das wäre nicht mehr als musikjournalistische Schnappatmung samt Namedropping. Und es wird der Roskilde-Erfahrung nicht gerecht. Denn die ist eine individuelle Reise. Man kann hier tief im Underground wühlen, man kann die großen Namen aus-checken, man kann sich zwischen den zahlreichen sehr gemütlichen Bars verlieren, man kann sich von aktivistischer Kunst bekehren lassen – oder, das wäre meine Empfehlung – man macht eine Mischung aus all dem und nimmt sich in Sachen Line-up nicht zu viele fixe Größen vor.

Der erste der letzten Tage

Nehmen wir zum Beispiel den ersten Festivaltag: Das ist für mich der Mittwoch. Die Däninnen und Dänen sind da schon eine ganze Weile on fire. Vor den sogenannten vier „Last Days“, an denen das komplette Festival bespielt wird, findet nämlich schon ab dem Samstag davor das „Warm-up“ statt. Das hat in Dänemark ungefähr das Standing vom amerikanischen Spring Break – mit besserer Musik. Die Campingplätze sind dann bereits offen, man feiert in eigenen Camps und vor den ersten Bühnen, auf denen vor allem dänische und skandinavische Acts eine Chance bekommen. Für viele Abi-Klassen ist es Tradition, noch einmal gemeinsam aufs Roskilde zu fahren, auch zu jedem guten Studium gehört der Ausritt aufs Roskilde.

Als ich das Gelände am Mittwochnachmittag betrete, ist der Buzz schon spürbar. Viele Kids steuern gleich die immer noch eindrucksvolle Orange Stage an. Hier wird eines der erfolgreichsten Rap-Talente Dänemarks eröffnen: Lamin. Das hat hier Tradition – der erste Act auf der Main Stage ist immer ein dänischer. Es ist erstaunlich: Kaum betrete ich das Festival, weiß ich wieder, wo welche Bühne ist, wo es das beste Frühstück gibt und wo es an der Avalon Stage den leckersten Wein gibt.

130.000 Menschen – und kein Stress

Überhaupt denke ich wieder über dieses seltsame Paradox nach, das mir bei meinen vorherigen Besuchen schon aufgefallen ist: Das Roskilde ist das entspannteste 130.000-Menschen-Festival der Welt. Was vielleicht daran liegt, dass es seit Beginn an diesem Ort stattfindet. Die Wege sind gelernt, die Kanalisation funktioniert, die Logistik ist über die Jahre optimiert. So passiert es einfach eh selten, dass man in ein unkontrolliertes Gedränge gerät. Was auch mit der eigenen Historie zu tun hat: Nachdem beim Gig von Pearl Jam im Jahr 2000 neun Menschen im Gedränge starben, entwickelte das Roskilde über die Jahre eines der besten Sicherheitskonzepte, die ich in all meinen Festivaljahren (und das sind einige, räusper) erlebt habe.

Dass die Stimmung dabei trotzdem nicht angespannt ist, liegt vor allem daran, dass viele Funktionen, die sonst eher Security-Mitarbeiter:innen zufallen, hier von junge Volunteers erledigt werden – natürlich mit Aufsicht von Fachpersonal. Sie arbeiten eine gewisse Anzahl von Stunden und können dann das Festival erleben – ein guter Deal, der für gute Laune sorgt. Wird man sonst oft angeblafft, lächeln einem hier dänische Gesichter aus Volunteer-Westen entgegen. So gelingt es also, dass hier 130.000 Menschen auf entstpannt machen. Kleiner Fun-Fact am Rande: Während des Festivals ist Roskilde die viertgrößte Stadt Dänemarks.

Der Mittwoch läuft für mich gleich so, wie ich das Roskilde am intensivsten liebe: Cava mit guten Leuten in Hörweite der mittelgroßen Avalon Stage zum Aufwärmen und dann packt mich der Roskilde-Sog. Plötzlich steh hüftschwingend bei Jessie Ware, die im großen Arena-Zelt viel funkiger und größer aufspielt, als ich das von ihr erwartet hätte. Begleitet von zwei ultra-hotten Tänzern ist sie nicht weniger als eine Star-Erscheinung.

Funkiger Pop, iranische Sounds und Prof. Dr. Dr. Doja Cat

Aber das war ja irgendwie schon immer das Problem: Jessie Ware ist viel mehr Star, als dass die Mehrheit der Menschen zu begreifen bereit gewesen wäre. Hier bekommt sie die große Bühne und nutzt sie. Weiter geht’s, zurück zur Avalon: Hier sägen die Saxophone der Kopenhagener Avantgarde-Noise-Jazz-Rock-Band Selvhenter. Die eigentliche Bühne ist leer – die Bands spielen an diesem ersten Abend auf der Avalon allesamt auf einer weiteren Bühne inmitten des Publikums. Kurzer Lauf zu Sevdaliza, die mit ihrer Stimme und ihr Charisma vor der Eos-Stage ein größeres Publikum verdient hätte.

Von da geht’s zur Orange Stage, wo Doja Cat zur Audienz bittet. Sie wird über das gesamte Festival das Highlight unter den Headliner:innen auf der Orange Stage bleiben. Mit einer fetten Band samt Background-Chor im Nacken, verwischt ihr Live-Set die Grenzen zwischen Rap, Pop, R’n’B und Rock. Die ersten Songs spittet sie dabei mit einer Art Professorinnen-Brille und widerlegt das Image der Pöblerin, das sie sich vor allem auf Social Medie erarbeitet hat. Hier ist sie dominant und charming zugleich, erkundigt sich, wie man Roskilde ausspricht, nur um dann im Anschluss einen Track zu rappen, bei dem das Mikrofon an einer Art Liane hängt. Eine Pose, die eindeutig sagt: „Ich Jane, du Tarzan!“

Marokkanischer Riot-Grrl-Punk, Jungle-Rhythmen und eine seltsame Heilung

Trotzdem zieht es mich weiter: Zurück zur Avalon, wo die feministische, marokkanische Punkband Taqbir über die Bühne rauscht. Melodisch, aggressiv, hochpolitisch – Musik aus einem Land, in dem Punk dieser Art noch eine nicht ganz ungefährliche Provokation ist. Es bleibt abgefahren: Ich lande im Gebäude der Gloria-Stage, die seit jeher eine gute Adresse für irre Musik ist. Ich erblinde beim Visual-Geflacker von WaqWaq Kingdom – ein japanisches Duo, das Chicago-House-Musik-Einflüsse mit japanischen Arbeitersongs verbindet.

Inzwischen ist es Mitternacht und die Neugierde zieht mich nicht zur Orange Stage, wo Jungle die Nacht beschließen werden, sondern ins Arena-Zelt zu Heilung. Da stehe ich dann eine Stunde lang verwirrt, beeindruckt und ein wenig unwohl vor einer Bühne, auf der echte Bäume stehen. Davor: viele Trommeln, Wikinger-Menschen, Sänger:innen mit Helmen, die aussehen, als fände man sie auch in der Welt von „Elden Ring“, Speere, schwere Holz-Schilder. Die dänisch-deutsch-norwegische Band Heilung war ja auch schon im Musikexpress Thema in der Reportage „Die neuen Heiden“. Politisch distanzieren sich Heilung klar gegen rechts, und sie wollen mit ihrer Performance ausdrücklich gegen die Vereinnahmung der Wikinger-Kultur durch die Nazis anspielen – trotzdem weiß ich nicht so recht, was ich bei diesem seltsamen Zirkus fühlen soll. Vor allem, als dann auch noch ein besoffener Däne „Odin!“ brüllt. Der sieht zwar eher aus wie ein Surfer als wie ein Nazi, aber trotzdem.

Die neuen Heiden kommen

Das Finale des Abends auf der Hauptbühne besorgen dann Jungle, die eine erstaunlich große Meute in Bewegung halten ihren dancy Sound überwiegend live performen. Als ich schließlich ins Zelt falle, wird es schon so langsam wieder hell – und ich frag mich schon beim Einschlafen: Wenn jeder Tag so wird? Wie soll ich dann all das in diesen verdammten Festivalbericht packen?

Jugendarbeit mit Smatten an den Stiefeln

Am nächsten Morgen weiß ich: Garantiert nicht, in dem ich jeden Tag so ausführlich beschreibe. Das habe ich nur gemacht, damit man vielleicht greifen kann, wie viel Input man hier pro Tage bekommt. Ab Donnerstag beginnt auch das Wetter ein wenig zu nerven. Mit dem Roskilde verhält es sich wie mit dem Glastonbury: die wenigen sonnige Jahren kann jede:r. Wer die reale Experience will, springt in den Matsch – der in Roskilde „Smatten“ heißt, wenn er diese leicht-flüssige Dünnpfiff-Konsistenz erreicht hat. Dauerregen bleibt dem Roskilde 2024 meistens erspart, dafür ziehen allerdings pro Tag so ein bis zwei fiese Gewitter- und Regengebiete über das Gelände. So mancher Pavillon lernt da plötzlich das Fliegen.

Die großen Headliner:innen am Wochenende zeigen, was es bedeutet, ein Traditionsfestival aus den 70ern zu sein, das sehr bewusst entschlossen hat, über all die Jahre eine Veranstaltung für junge Menschen zu bleiben. Hier regieren und überzeugen (meistens) Acts wie Skrillex, Jungle, 21 Savage, Ice Spice, Doja Cat und SZA die Orange Stage – lediglich am Freitag dürfen Rock-Veteranen wie Foo Fighters mal ran. Das Booking-Team gibt in einer Fragerunde mit Journalist:innen zwar zu, dass es darüber schon auch mal Diskussionen gab. Man wolle aber trotzdem, dass Roskilde eine Initiation für jüngere Menschen bleibt – deshalb müsse man mit der Zeit gehen und eben auch die spannendsten Acts aus Rap und EDM ranholen.

Was dann auch schon wieder traditionsbewusst ist: Die erste Ausgabe wurde nämlich von Foreningen Roskildefonden organisiert – eine lokale Organisation, die seit den 30ern Veranstaltungen und Einrichtungen zur Förderung von Kindern- und Jugendarbeit organisiert. Bis heute ist das Roskilde eine vereinsgeführte Non-Profit-Veranstaltung, deren Gewinne sehr überlegt gespendet werden – an Jugendprojekte, NGOs, Umwelt-Organisationen oder ähnliches. Ach ja: Das Line-up hat übrigens mehr Frauen und weiblich gelesene Acts am Start als männliche. Aber die Macher:innen reden da nicht groß drüber – die haben es einfach mal gemacht.

Foo Fighers vs. Charli XCX

Was für mich in Sachen Gigs bleibt sind die melancholischen Dance-Tunes von Romi, die tighten Raps von Ice Spice, das lärmend-schöne Gitarrenschreddern von Kim Gordon, die leichtfüßige Schönheit der Musik von Erika De Casier, das über den Platz donnernde Beatballern von Brutalismus 3000, die gerade das Ausland erobern, der theatralische aber schöne Electro-Pop der Dänen Kind Mod Kind, der stylische Paartanz mit Instrumenten bei Khruangbin, die auch bei Regen strahlende Aurora und die verspult-charmante Performance von Pink Pantheress, die sich hin und wieder im eigenen Set verheddert, nur um eine Sekunde später wieder on point zu sein.

Schön ist auch der auf die Bühne gebrachte Generationenkonflikt, den wir ein paar Zeilen zuvor angesprochen haben: Während sich 2023 Blur und Rosalía auf den größten Bühnen duellierten, musste man sich diesmal zwischen den Foo Fighters und Hype-„Brat“- und Pop-Genie Charli XCX entscheiden. Dave Grohl und Co. spielten ein Greatest-Hits-Set, mit allen Stärken, die man inzwischen von ihnen kennt, während Charli XCX gestresst und ein wenig zu spät auf die Bühne rauscht, sehr viel auf Playback setzte und ihren Hyperpop mit einer fast punkigen Attitüde raushaute. Dabei performte sie die meiste Zeit alleine (bei einem Song kam Caroline Polachek dazu) und flirtete im Red-Flag-Style mit ihrem Kameramann, den sie mal bezirzte und dann fast brutal ansprang. Das Publikum feierte es von Anfang bis Ende: Weit um das riesige, an den Seiten offene Arena-Zelt herum, tanzten und sprangen und johlten die Leute – während Dave Grohl zwar auf einen stattlichen Chor zählen konnte, aber nicht einen Moshpit an den Start brachte.

So. 10.000 Zeichen geschrieben und sicher wieder ebenso viele individuelle Highlights anderer unterschlagen. Aber: So ist das eben hier. Man kann das Roskilde Festivals nicht in einen handlichen Text quetschen. Das merken alle, die auch nur einmal dort hingefahren sind. Vielleicht sollte man das also einfach mal tun …