Skater Girl


Für Teen Princess Avril Lavigne ging es im letzten Jahr von null auf hundert. Live konterkariert die kleine Kanadierin ihr Girlie-Image mit einer geballten Portion Punk-Attitüde.

Medienleute, deren Elan zwar zum Bestellen diverser Gratis-Bierchen und zum Verschränken der Arme, nicht aber zum Applaudieren reicht, dazu die üblichen Nasen der jeweiligen Plattenfirma plus wenn’s hoch kommt-ein paar versprengte Fans, die für die bescheidene Party vor der im Regelfall viel zu kleinen Bühne sorgen dürfen: So oder so ähnlich sehen sie aus, die üblichen Arbeitsbedigungen für Künstler, wenn ihre Companies sie zu einem „Showcase“ antreten lassen.

In den ersten Julitagen: ein Anruf. Zu einem – richtig geraten -„Showcase“ mit einem „wirklich supertalentierten Newcomer“ aus Kanada wird gebeten. Zu diesem Zeitpunkt hat der Promoter noch leichte Schwierigkeiten mit dem Nachnamen der jungen Dame, die an jenem 11. Juli in der plüschigen Münchner Bongo Bar ihr Deutschland-Debüt geben wird. Eine Stunde lang müht sich die 17-jährige Kanadierin mit ihrer Band nach Kräften, dem Auditorium seinen Phlegmatismus auszutreiben, knallt ihm die Songs ihres LP-Erstlings „Let Go“ (der in Deutschland erst zwei Monate später erscheinen und gleich auf Chartposition 2 gehen wirdl um die Ohren: „Sk8er Boi“, „Mobile“, „Complicated“ plus als Zugabe „Tomorrow“ in einer Unplugged-Version zusammen mit Gitarrist Evan Taubenfeld (19), der, von der Lethargie der knapp 100 Leute genervt, seine Gitarre nur mit sichtlichem Widerwillen nochmals in die Hand nimmt. Ein paar hübsche Jungs im Publikum stehen inzwischen mit offenen Mündern da: Natural, die Teenie-Schönlinge – das knapp 1,60 m große Gör hat ihnen soeben wohl schmerzlich die eigenen Grenzen aufgezeigt.

Ein halbes Jahr später konnten die Vorzeichen nicht gegensätzlicher sein: Für rund sechs Millionen verkaufte Alben hat Punk-Prinzesschen Avril diverse Platin-Auszeichnungen kassiert, sie war auf den Titelseiten internationaler Magazine, hat bei den amerikanischen und lateinamerikanischen MTV Video Music Awards Preise eingesackt, für ihre rare „Angus Drive“-Promo-EP (mit vier Songs von „Let Go“) werden hohe Summen gezahlt, der US-Rolling Stone führt sie in seiner Liste der „People of the Year in 2002“, das Internet verzeichnet über 260.000 Einträge mit ihrem Namen. Und auch die Fashionwelt hat das resolute Skatergirl aus Napanee in der kanadischen Provinz umgekrempelt: Die Püppchenzeiten a la Britney sind vorbei, jetzt ist der ungekünstelte Skater-Alltags-Schlabberlook von Fräulein Lavigne angesagt. Wenn die kleinwüchsige Trendsetterin heute ein Fotoshooting hat, dann garantiert nur in Klamotten, „die ich auch im richtigen Leben anziehen – würde ich trage, was mir gefällt. Und mache die Musik, die ich will.“ Selbige kickt vor allem live gewaltig Arsch: Avril und Band verwandeln die Bühne in eine Galopprennbahn, kratzen ihrem auf CD oft zu braven Mainstream die gelackte Oberfläche ab und kleben „Anarchy rules“-Sticker drauf. Wenn so viel ungehobelte Power dann gelegentlich auch mal einen falschen Ton bedingt was soll’s? True Rock’n’Roll auch dies: 30. November, Westfalenhalle Dortmund, am Ende der Aufzeichnung von Avrils Performance bei „The Dome 24“: Gitarrist Jesse Colburn (21) hechtet nach kurzem Turbo-Anlauf der Länge nach ins Drumset von Schlagzeuger Matthew Brann (22), beide holen sich böse Blessuren, es fließt Blut. Bloße Auswüchse jugendlichen Übermutes? Wohl kaum, wenn man den Background der Band kennt: Ex-Basser Marc Spicoluk (23; ihn ersetzte inzwischen Charles Moniz, der von der kanadischen Heavy-Band Grade kam) war zuvor bei Sum 41, sein dortiger Nachfolger Cone spielte früher mit Drummer Matt zusammen; beide Bands haben das gleiche Management. Auf dem „Let Go“-Album durfte die rebellische Punk-Attitüde von Avril & Co. vorerst nur ansatzweise durchschimmern – ganz anders dagegen die Konzerte, denn hier geht buchstäblich der Punk ab mit einer vogelwild herumtobenden Truppe und einem zierlichen Powerfräulein, dem es allerdings noch zu selten gelingt, seine zarte Jungmädchen-Optik – lange glatte Haare, blaue Augen, markant geschwungene Lippen durch glaubwürdige Rockerposen zu unterwandern. Auch der irritierend superschlaffe Händedruck der angeblich so selbstbewussten 18-Jährigen will nicht so recht ins Bild passen – wo doch wissenschaftliche Persönlichkeitstests bewiesen haben, dass Personen, die beim Händegeben richtig zulangen, weitaus weniger schüchtern sind als jene mit schlappem Griff. Promise me Im never gonna find you fake it, Dear.