Im Königreich des Pop gehörte ihnen von Anfang an die Krone. Es ist wohl auch für uns an der Zeit, die Einzigartigkeit der Scissor Sisters zu erkennen. Und damit unsere eigene.
Bitte gleich wieder vergessen, von wem dieser Artikel handelt! So, nun zur Eine-Million-Euro-Frage. Sie lautet: „Welche Band verkaufte 2004 in Großbritannien die meisten Einheiten eines Albums: a) Franz Ferdinand b) Keane c) Robbie Williams d) Scissor Sisters?“ „Wer bitte?… Sssissi… Also die schließe ich schon mal aus“, stottert der 38-jährige Versicherungsvertreter Harry D. aus Unna, der sich so gern das Fertighaus und das74erCarrera-Cabrio leisten würde … Hm, da wird Harry wohl weiter Opel Omega fahren müssen. Denn es war tatsächlich das titellose Debüt dieser bunten Glamrocksoulfunkdisco-Truppe namens Scissor Sisters (benannt nach einer Standardstellung im lesbischen Sex) aus New York, welches das Königreich des Pop vor zwei Jahren im Sturm nahm.
Und hierzulande? Wer sie einmal gehört hat, wird ihre Version von Pink Floyds „Comfortably Numb“ im leicht entrückten Bee-Gees-Style auch nicht mehr vergessen haben. Doch dann wird’s mitunter schon dünn. „In Deutschland war unser Erfolg … normal“, sinniert Sängerin Ana Matronic, “ in England war er hingegen absolut außergewöhnlich.“ Ihr Bandkollege Babydaddy ergänzt: „Als das Label in Deutschland sagte: Jetzt sind wir bereitfür euch. Kommt mal zwei Wochen rüber!‘, waren wir bereits anderthalb Jahre auf Tour gewesen und völlig ausgebrannt. Schade, denn eine unserer ersten Shows außerhalb unserer Heimatstadt war in Berlin gewesen … Wir werden das nachholen.“
Wenn die Briten sie denn lassen. Warum drehen die eigentlich so komplett durch bei den Scissor Sisters? Sogar George Michael, Bono Vox und Elton John drehen mit! Was mögen sie wohl mehr: Die Show? Oder doch die Musik? Das Debüt der Sisters klang wie eine besonders tiefe Verneigung vor den ofenwarmen 7oern, vor Glamrockwie von Elton John und Roxy Music, vor dem frühen Discosound, als er noch die Seele des Souls verinnerlicht hatte.
Gestartet als Zwei-Mann-Electroclash-Projekt in schmuddeligen kleinen Clubs, entdeckten Sänger Jake Shears und Multiinstrumentalist/Arrangeur Babydaddy bald ihre beachtlichen Songwriter-Qualitäten. Eine Band musste her, um diese Pracht hinaus auf gTÖßere Bühnen zu tragen. Eines Tages spielten sie im Rahmen einer schrägen Cabaret- Reihe auf der East Side, die von Ana organisiert wurde. Jake, der sich in seiner ersten New Yorker Zeit als Go-Go-Tänzer in Schwulenbars durchgeschlagen hatte, und Ana, nach eigener Aussage eine Drag-Queen im Körper einer Frau, machten sich sofort als Seelenverwandte aus.
Durch Auditions wurden Gitarrist Del Marquis und Drummer Paddy Boom gefunden, der einzige Hetero-Mann in der Band. Doch wehren sich die Scissor Sisters schon lange gegen eine Labelisierung als überdrehte Gay-/Kostüm-Kapelle. Wie so oft basiert der Erfolg auf harter Arbeit. Im Jahr ihres Debüts ging die Band auch gleich bis an ihre Grenzen. Endloses Touren machte ihr Spiel ultratight und ener-I getisch. Ana glaubt das Geheimnis ihres Erfolges zu kennen: „Die Leute haben gemerkt, dass hinter unse rem Imagefünf Individuen aus Fleisch und Blut stecken. 3 Dazu kam die Live-Erfahrung. Auf dem Glastonbury Festival spielten wir vor 125.000 Menschen. Das wur-1 deauch im Fernsehen übertragen. Das Album kletterte 2 danach sofort an die Spitze der Charts. Die Leute merkten, dass die Geschichte Substanz und Herzblut besitzt, dass es um echte Liebe zu guter Musikgeht.“
Songs vom Debüt waren außerordentlich. Intelligente, bildreiche Texte über Coming Out, Cruising und die Folgen von Bürgermeister Giulianis reaktionärer Politik für New York, getragen von Jakes charismatischem Tenor, wurden in infektiös melodiöse Arrangements gepackt. Dass diese Musik auch auf dem neuen Album TA D AH! hohe Tributzahlungen an so einige Gottheiten des Pop leistet, ist kein Kalkül, aber auch kein Zufall. Entspannt sitzen die Scissor Sisters in einem Hotelzimmer in ihrer europäischen Lieblingsstadt Barcelona und erklären sich dazu eins. ANA matronic: Wir sind eine nostalgische Band. Wir wollen das Rad nicht neu erfinden – we just want to keep it rolling.
Die Qualität. Che Kraft, die Sensibilität der Mir ist auf TA oah! u. a. ein höherer Discoanteil aufgefallen. Und die Gitarrensoli haben sich vervielfacht.
matronic: Es gibt viel Southern Rock. Ich persönlich habe in letzter Zeit viel Rare Groove gehört, also Disco vor 1975, Phillysound, Bands wie Bohannon und Creative Source. Davon ist eine Menge eingeflossen. Und weil wir immer mehr eine Rockband geworden sind, haben wir viel mehr überlegt, wie wir die Songs live umsetzen können.
Gab es dabei überhaupt noch finanzielle Grenzen – für die Produktion eines Albums, dessen Vorgänger sich wie geschnitten Brot verkaufte ?
ALLE: (lachen schallend) babydaddy: Es gab sicher ein Limit, aber das haben wir nicht mal angekratzt. Wir haben fast alles in unserem Studio gemacht. Wir wollten es klein halten. Das glaube, wer will. Nach eineinhalb Listening Sessions, die einem die über vorsichtige Plattenfirma gewährt, kommt man zu dem vorläufigen Schluss, dass die Balance zwischen sensiblem Songwriting, Glamour und fast schon kumpelhaften Gesten, die scis-SOR sisters besonders ausgezeichnet hatte, empfindlich gestört wurde auf Kosten der… einzelnen Songs.
Ein sich feist eins grinsender Gassenhauer wie die Single „I Don’t Feel Like Dancing“ wäre auf dem Debüt noch als störend aufgefallen. Alles klingt etwas zu bombastisch nach guter Laune. Liegt das vielleicht sogar an ihrem Mentor Elton John, der bei seinem ersten Besuch einer Scissor-Sisters-Show in London nach jedem Song cäsarenhaft die Handfläche Richtung Bühne drehte? Und auf ta dah ! ist er einer der Gäste.
babydaddy: Er versprühte seinen Zauber. matronic: Er hielt den Kontakt zu uns, vor allem zu Jake, der zum Teil eine harte Zeit durchmachte während der Aufnahmen. Im Winter steckten wir ziemlich deprimiert im Studio fest. Elton John war in der Stadt und wollte uns helfen. Wir wollten ein paar aufhellende Akkorde von ihm, die er auch spielte, und sie landeten in „I Don’t Feel Like Dancing“.
Live sind die Sisters noch immer eine Bank, wie sie einen Tag später bei ihrem Überraschungsgig auf dem Sonar-Festival beweisen. Das junge Publikum ist sofort auf ihrer Seite. Grandios sehen sie aus in ihren Bigger-than-life-Outfits. Boom, Babydaddy und Marquis sind sehr konzentriert bei der Arbeit, was in der Natur der Sache liegen mag, wenn man neues Material vorstellt. Jake und Ana dagegen schenken ihrem Publikum genau das, was die Sisters ausmacht: Glamour und den ehrlichen Willen, mit den Menschen in Kontakt treten zu wollen. Jake Shears erzählt, wie er drei Jahre zuvor auf dem Sonar ihre allererste Single „Electrobix“ jedem in die Hand drückte, der sie wollte.
„Danach habe ich stundenlang vergeblich in einer Bar daraufgewartet, abgeschleppt zu werden.“ Am würde man wahrscheinlich noch am selben Abend den eigenen Wohnungsschlüssel anvertrauen, in der Hoffnung, sie würde lange genug bleiben, um ihr den gesamten Freundeskreis vorstellen zu können. MATRONIC: Jeder Mensch besitzt etwas Einzigartiges, und er sollte kein Angst haben, das zu zeigen. Ein Journalist hat geschrieben, dass wir die Welt daran erinnern, dass es keine ordinären Menschen gibt. So true!
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