Kolumne

Silk Road: Auf Sauftour mit Kitarō


Jan Müller erklärt, warum er sich sowohl bei Kitarō als auch seinem Bruder entschuldigen möchte.

Auf Sauftour mit Kitarō am Hamburger Berg. Schon nach dem zweiten Glas im Sorgenbrecher begann er, sich aus dem Nichts heraus heftig über sein Publikum zu erregen. „Diese New-Age-Wichser! Die kapieren nicht! Ich kann es nicht mehr ertragen. Ich mache Soul-Musik. S-O-U-L. Warum zum Yarigatake versteht es niemand!“ Im Lunacy schrieb er unaufgefordert Autogramme auf Glatzen von desinteressierten Kieztypen. Wir zogen weiter in Rosis Bar. Dort grölte er dann seinen eigenen Instrumental-Hit „Eternal Spring“, als sei er eine Horde zugekokster britischer Hooligans, welche „Seven Nation Army“ von den White Stripes interpretieren. DJ Starlight Steven reagierte verstört. Er hatte sich zunächst gefreut, seinem Idol von Angesicht zu Angesicht zu begegnen. Mit großem Geschick gelang es mir, den tobenden Japaner in die Kneipe Zum alten D-Zug auf der anderen Straßenseite zu bugsieren, ohne dass er den Wechsel des Etablissements überhaupt bemerkte. Ich hatte gehofft, unter den harten Trinkern dieses schäbigen Lokals mit meinem Gast nicht aufzufallen. Aber dieser war einfach zu sehr außer Rand und Band. „CHIKUSHOU!, KUSO, OWAI, UNKO, TEMPE CHIKUSHOO!!“, schrie er die Wirtin an. Wir flogen raus.

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Egal, der Morgen graute ohnehin, und ich versprach Kitarō, ihn noch zum Frühzug nach Tokio zu bringen. Auf dem Weg zum Hauptbahnhof gerieten wir in heftigen Streit mit dem Taxifahrer. „Sie haben keine Ehre, Ihr Taxi ist in einem unwürdigen Zustand. Ich würde es nicht einmal als Toilette benutzen“, hatte mein Freund gelallt, bevor er sich lautstark quer über die Rückbank erbrach. Erschöpft standen wir dann in der Kirchenallee gegenüber des Hauptbahnhofs. Bis zur Abfahrt des Zuges hatten wir noch fast anderthalb Stunden Zeit. Das Dim Sum-Haus war geöffnet und wir kehrten ein. „Ausgerechnet ein China-Lokal!“, entfuhr es dem lächelnden Kitarō, der plötzlich wieder vollkommen nüchtern schien. Er entschied sich für eine Portion Bratreis ohne Ei, ich trank ein Tsingtao Bier. Bevor die Zugtüren sich schlossen, verbeugten wir uns beide tief.

Wieder um eine Erfahrung reicher, dachte ich, als ich erwachte

Wieder um eine Erfahrung reicher, dachte ich, als ich erwachte. Glücklicherweise schrieb ich diesen schweren Traum, den ich im April 2021 hatte, auf. Alle von Euch, die sich auskennen, wissen natürlich, dass manches in diesem Traum unrealistisch ist: Das Dim-Sum-Haus in der Kirchenallee hat nicht auf, bevor der Frühzug nach Tokio fährt. Zwar hat Starlight Steven bestimmt nichts gegen Kitarō einzuwenden (kein vernünftiger Mensch hat etwas gegen Kitarō einzuwenden); aber ist Kitarō tatsächlich das Idol von Stevie? Nein, das ist die typische Übertreibung eines Traumes. Und aus seriöser Quelle weiß ich außerdem, dass Kitarō sich nicht daran stört, wenn Fans seine Kunst als „New Age Music“ bezeichnen. Aber richtig ist auch: Er selbst nennt sie ganz schlicht „Kitarō Music“.

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Schließlich, und das ist vermutlich belangreicher: Kitarō lebt gar nicht in Tokio, sondern in Kalifornien. Heute stieg ich hier in meinem derzeitigen Aufenthaltsort Südsardinien ins Auto und fuhr zum Supermarkt. Wassermelone, Olivenöl und Pasta standen auf unserem Einkaufszettel. Im Auto lief OASIS von Kitarō. So laut, wie es die Anlage hergibt. Zunächst einmal brachte die positive Energie der Musik von Kitarō mich dazu, mich umzuentscheiden: Anstatt den schäbigen „Eurospin“-Discounter anzusteuern, fuhr ich zum angenehmeren Conad-Supermarkt. Vielleicht steht ja der Fischmann auf dem Parkplatz, dachte ich in Vorfreude (stand er leider nicht). Ich kaufte ein, und auf dem Rückweg zum Haus gelang es mir, aus der Stereoanlage durch Zugabe von „Treble“ und „Bass“ noch ein paar Dezibel rauszuholen.

Kitarō ist Autodidakt; das hört man seiner Musik auf eine angenehme Art an

Mein Anspieltipp für euch von diesem Kitarō-Album aus dem Jahr 1979 ist „New Wave“. Das Stück ist nur zwei Minuten und 50 Sekunden lang und zweifellos die fernöstliche Instrumental-Schwester von Kraftwerks „Neonlicht“. Kitarō (geboren 1953 in Toyohashi) ist Autodidakt; das hört man seiner Musik auf eine angenehme Art an. Er begann als Gitarrist. Mit dem Synthesizer machte ihn dann in den 1970er Jahren unter anderem Klaus Schulze vertraut. Er veröffentlichte 24 Studioalben, 14 Soundtrack-Alben und 8 Livealben und außerdem circa 1000 Best-of-Alben. Sein letztes Studioalbum SACRED JOURNEY OF KU-KAI VOL.5 erschien im April 2017.

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Mein drei Jahre älterer Bruder hörte gerne Kitarō. Vielleicht ist mir deshalb diese Musik so vertraut. Gerne würde ich mich bei Kitarō entschuldigen, dass ich so verzerrt und grob von ihm träumte. Zumindest theoretisch ist das möglich. Viel lieber würde ich mich allerdings bei meinem Bruder entschuldigen, dass ich mich so wenig für seinen Musikgeschmack interessiert habe und dann mit ihm gemeinsam SILK ROAD, KI und TOWARDS THE WEST hören. Das ist leider nicht mehr möglich. Glücklicherweise habe ich diese Alben nicht weggegeben. Das ist nur ein schwacher Trost.

Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 10/2024.