Serie Jugendkriminalität
Diese Serie basiert auf Interviews mit jugendlichen Straftätern. Namen, Ort und Zeit wurden von der Redaktion bewußt geändert, um die Anonymität zu erhalten.
Es war im Sommer 1973. Christian, damals 17 Jahre alt, hatte mit drei anderen Kollegen nachmittags schon einen Kasten Bier und eine Flasche Korn geschafft. Abends ging es in der Kneipe weiter. Plötzlich fiel ihm wieder der Mann auf, den er morgens regelmäßig im Bus sah, wenn er zur Arbeitsstelle fuhr. Christian schätzte den leicht verwahrlosten Typen auf etwa 45 Jahre. „Der Typ sah mich laufend von der Seite an, ich habe aber nicht weiter auf ihn geachtet. Nur als wir nachts gehen wollten, hielt er mich an der Tür an und meinte, er wolle mir etwas sagen.“ — „Ja, geh’n wir raus,“ antwortete Christian. Draußen auf der dunklen Straße wurde der Mann zudringlich. „Mensch, laß mich in Ruhe“, meinte Christian verwirrt, doch der Mann ließ nicht locker. „Der ließ sich überhaupt nicht stören, faßte mich an und wollte mich schließlich in einen dunklen Hausflur ziehen. Da habe ich losgeschlagen. Ich weiß nicht wie lange, ich war ja reichlich betrunken. Erst als er regungslos liegenblieb, bin ich zu mir gekommen.“
Was ihm durch den Kopf ging, weiß er nicht mehr. Er war damals zur nächsten Telefonzelle gerannt und hatte atemlos die Polizei verständigt. „Die wollten mir erst gar nicht glauben, dann kamen sie aber doch.“ Christian wurde ebenfalls ins Krankenhaus gebracht. Dort stellten sie bei ihm 2,3 Promille fest.
Die „Tat“ verdrängt
Der Mann war tot, und Christian kam umgehend in Untersuchungshaft. „Dort habe ich erst einmal geschlafen. Als ich aufwachte, habe ich nur an meine Familie gedacht.“ Alles andere, was ihm durch den Kopf ging und was er empfand, gehört dem Verdrängungsprozeß an. Er gibt vor, er habe dieses bittere Ereignis total aus seinem Bewußtsein streichen können. Aber dieser Selbstbetrug wird dort deutlich, wo er nur immer von „der Tat“ spricht. Auch heute, nach drei Jahren, will er möglichst nicht daran erinnert werden, ganz offensichtlich, um die seelische Belastung nicht noch zu steigern. In der Untersuchungshaft war er damals sehr freundlich und verständnisvoll behandelt worden. „Ich wollte mir mal eine Schachtel Zigaretten kaufen. Der Beamte meinte, das sei doch nicht mein Ernst ich müßte da jetzt wohl umdenken. Billiger sei auf jeden Fall Tabak. Er hat mir dann sogar ein Päckchen besorgt und mir gezeigt, wie man Zigaretten dreht.“ Die Verhandlung vor dem Jugendschöffengericht hatte Christian wie durch einen Schleier erlebt. Die Leute auf den Zuschauerbänken registrierte er überhaupt nicht. Er sprach so leise, daß der Richter ihn kaum verstehen konnte. Der Staatsanwalt hatte ihm aufgrund von Zeugenaussagen Raubmord vorgeworfen. Christian sollte dem Mann 100 DM abgenommen und an unbekannter Stelle vergraben haben. „Aber der Richter hat die Zeugen zum Glück noch einmal in die Mangel genommen“, berichtete Christian. „Der Typ war als Säufer bekannt, der sein letztes Geld in der Kneipe ausgab und sich laufend an Jungs ranmachte.“ Das Urteil lautete: Sieben Jahre Freiheitsentzug wegen Totschlags unter Alkoholeinfluß. „Ich hatte mit fünf Jahren gerechnet, aber der Staatsanwalt hat damals sogar auf neun plädiert.“ Also mußte sich Christian mit sieben Jahren – U-Haft eingerechnet – abfinden.
Waren die Eltern zu gleichgültig?
„Meine Mutter hat während der ganzen Verhandlung nur geheult, sagt Christian. „Sie kommt mich Draulien wurde der Typ zudringlich heute regelmäßig besuchen. Mein Vater nicht, der kann mit seinem Bein nicht mehr richtig laufen. Meine Schwester ist selten hier.“ Christian glaubt, daß sie der ganzen Situation recht gleichgültig gegenübersteht. Spricht man mit ihm, so bekommt man den Eindruck, daß auch seine Eltern früher zu gleichgültig waren. Doch Christian gibt selbst zu, daß er sich über vieles zu wenig Gedanken macht, daß zu wenig sein Interesse erweckt. Das Verhältnis zu seinen Eltern beschreibt er als sehr gut, Schläge habe er kaum bezogen. „Meine Eltern waren vielleicht zu nachgiebig mit mir“, sagt er heute. Auf der anderen Seite schildert er sich als ausgemachten Dickschädel, der sich von niemandem reinreden ließ, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte.
So war nach dem sechsten Schuljahr, nach zweimal Sitzenbleiben, die Schule für ihn zuende. „Kein Interesse,“ kommentiert er. „Ich bin lieber draußen gewesen und habe mit anderen Jungs irgenwas angestellt.“ Den Hauptschulabschluß hat Christian mittlerweile während seiner Haftzeit nachgehölt, ohne großes Interesse, wie er zugibt.
Nach der Schule begann Christian eine Malerlehre, die er nach einem Jahr jedoch wieder aufgab. Er hatte keine Lust mehr. Mit 15 Jahren, hatte er begonnen, abends, ja sogar bis in die Nacht, in einer Diskothek zu kellnern. „Als ich das erstemal dort war, habe ich ganz schüchtern eine Cola getrunken. Doch als ich dann dort bediente, ging es los: hier ein Bier und da ein Wodka. Ich habe bald ganz schön viel getrunken.“ Die Trinkerei nahm zu, als er nach der abgebrochenen Lehre diverse Hilfsarbeiterposten übernahm. Da wurde morgens schon die Schnapsflasche herumgereicht. „Ein Jahr noch,“ meint er heute „und ich wäre wohl ein echter Trinker gewesen.“ Die Einwände seiner Mutter waren seiner Erinnerung zufolge recht schwach, zumindest beurteilt er das heute so.
Einzelgängerdasein
Christian bezeichnet sich als Einzelgänger. Einen Freund hatte er nie. Auch heute ist er froh, eine Zelle für sich allein zu haben. „Von oben bis unten beklebt. Mit Frauen!“ beschreibt er seine vier Wände. Für Poster von Popstars hat er nichts übrig, die verscheuert er lieber. Manchmal setzt er sich auch hin und schreibt irgendetwas auf. Sein jüngstes Epos ist bisher neun Seiten lang gediehen. „So eine Art Sexroman“, erläutert Christian. Zum erstenmal hatte er etwas aufgeschrieben, nachdem er eine Woche Haftunterbrechung bekommen hatte. Christian wird wie viele andere Häftlinge regelmäßig von Mitgliedern einer Kontaktgruppe besucht. So durfte ein ganzer Trupp acht Tage lang zu Waldarbeiten fahren. Die Mitglieder der Kontaktgruppe und ihre Schützlinge waren in einem Jugendheim untergebracht. Dort gab es jede Menge Diskussionen und einmal Ausgang in die Dorfdiskothek. „Ich war unsicher und wußte gar nicht, wie ich mich bewegen soll. Ein Mädchen aus der Kontaktgruppe stand neben mir und fragte mich, ob ich denn keine Lust zum Tanzen hätte. Naja, dann habe ich mich doch getraut und sie aufgefordert. Auf der Tanzfläche waren meine Hemmungen dann aber bald verschwunden. Ich wollte gar nicht mehr aufhören zu tanzen. An’s Trinken habe ich nicht mehr gedacht!“ Die Erlebnisse dieser einen Woche hat er aufgeschrieben und seiner Brieffreundin geschickt. „Das ist eine reine Brieffreundschaft“, betont Christian. „Früher habe ich mir eingebildet, sie sei die Idealfrau für mich. Das ist eben so, wenn man hier im Knast sitzt und kaum eine Frau zu Gesicht bekommt. Aber nachdem ich mal länger mit ihr gesprochen hatte, waren die Illusionen schon wieder dahin.“
Feste Pläne für die Zukunft
So gleichgültig, wie er noch heute seiner schulischen und beruflichen Entwicklung gegenübersteht („Nur die Sauferei bereue ich heute“), so entschieden schildert er seine Vorstellungen von der Zukunft. „Wenn ich draußen bin, suche ich mir gleich Arbeit. Ganz egal, was es ist, ich kann später vielleicht immer noch etwas besseres finden. Dann werde ich mir eine Wohnung mieten und erst einmal einrichten. Ja und dann“, grinst er verlegen, „will ich mal sehen, ob ich nicht eine Frau finde.“ Soll es eine Frau sein, die so felsenfest mit beiden Beinen im Leben steht, so daß sie ihm ein hundertprozentige Stütze ist, oder würde er sich eine Partnerin suchen die wie er Probleme zu bewältigen hat? „Das fände ich sogar ideal‘ erklärt er, „wenn wir uns gegenseitig helfen könnten. So muß nie nur einer für die Schwierigkeiten des anderen da sein.“ Christian ist es wie gesagt egal, wie er sein Geld verdient, wenn er erst mal draußen wieder Boden unter den Füßen finden muß. Ihm ist jeder Job recht, erklärt er. Und wenn es ihm noch so dreckig ginge „Kriminell will ich auf keinen Fall wieder werden!“ Vielleicht entschließt er sich doch noch dazu, seine Gasellenprüfung während der Haftzeit abzulegen, die Lehre hat er dort nämlich wieder aufgenommen. Im Moment hat e dazu allerdings absolut keine Lust „Ich habe kein Interesse daran“ meint er. Warum, weiß er selbst nicht. „Was soll das?“ fragt er sich heute und scheint offenbar unfähig die Verbindung zu seinen Zukunftsplänen zu ziehen. Wenn später nach seiner Entlassung, nicht gleich alles klappt, wenn die Wiedereingliederung ins normale Berufsleber problematisch wird, und wenn er schrittweise erst wieder Fuß fassen muß, weiß er zumindest, wohin es gehen kann: „Ich habe immer noch meine Eltern, die mir auf jeder Fall weiterhelfen werden.“