Selig im Uebel & Gefährlich, Hamburg
Es fährt ein Zug nach Nostalgia: vom Aufwärmen einer alten Beziehung.
Stell dir vor, Selig sind wieder da, und alle gehen hin. Jan Plewka und seine vier Kollegen wollen nach einer Trennung im Streit und zehn Jahren Pause „Die alte Zeit zurück“ — so der Titel eines neuen Stücks. Die Vorzeichen sind gut: Nicht nur das Hamburger Heimspiel ist seit Wochen ausverkauft. Die neue Single „Schau schau“ ging in die Charts und unterlegt bereits die Torszenen der Sportschau. An Wortspielen à la „Fans sind wieder selig“ (Focus), „Ich hoffe, ich werde heute noch seliggesprochen“ (Fahrstuhlführer im UE+G) und „Wir sind selig, wieder Selig sein zu dürfen“ (Plewka) mangelt es auch nicht. Vor der Bühne stehen jede Menge Enddreißiger in Grüppchen, viele in UNDENDLICHLINENDLICH-Tour-T-Shirts. Jüngere Pärchen klammern sich aneinander, aufgekratzte Freundinnen suchen nach einem Platz mit besserer Sicht. Dann kommen sie, Plewka voran, mit kahl geschorenem Kopf, bis zum Bauchnabel aufgeknöpftem Hemd, Hippie-Ketten und schwarz lackierten Emo-Fingernägeln. Als sie mit „Ist es wichtig“ beginnen und direkt zwei alte Songs – „Sie hat geschrien“ und „Hey, Hey, Hey“ – nachschieben, wird klar: Hier rollt der Zug nach Nostalgia. Jan Plewkas Stimme hört sich leicht krächzig an, wie eh und je. Mitgröl-Songs wie „Arsch einer Göttin“ könnten auch von Westernhagen stammen, wie eh und je. Die Musik klingt nach 90er-Grunge, Chili Peppers, Blues-Rock, Mannerschweiß und Muskeln, auch wie eh und je. Bloß dass die 90er lange vorbei sind, was man neuen Songs wie „Wir werden uns wiedersehen“ und „Ich fall in deine Arme“ leider kein bisschen anhört. Plewka fühlt sich wie die Maus in der Käsetheke: „Was haben wir bloß die letzten zehn Jahre verpasst?“, schreit er beseelt von der eigenen Bedeutung und vom Enthusiasmus des Publikums. Es folgt eine schwülstige Rede über schwierige Zeiten und die heilende Kraft der Liebe, die in dem Appell „Wir brauchen eure Herzen!“ gipfelt. 97 % der Konzertgäste haben die längst bei Selig deponiert und singen glasigen Auges alte Songs wie „Kleine Schwester“ und „Lass mich rein“ mit, die den Großteil des Sets ausmachen. Zum Schluss verteilt die Band Blumen ans Volk. Draußen tönen aus einem parkenden 90er-Jahre-Golf laut alte Selig-Songs. Der Fahrer schaut geistesabwesend in die Ferne, während sich seine Freundin auf den Bürgersteig erbricht. Eine Frage bleibt: Können aufgewärmte Beziehungen klappen? Fraglich. Letzten Endes muss etwas Neues hinzukommen, sonst landet man schnell wieder da, wo man schon war. Am Ende.
Albumkritik & Story ME 4/09
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