Selig
Von den einen schon als größte deutsche Rock-Entdeckung des vergangenen Jahres gefeiert, von anderen dagegen als weinerliche Truppe mit ausgeprägtem Hang zu Schmalz geschmäht – an Selig scheiden sich die Geister. Selbst in ihrer Heimatstadt Hamburg handelten sie sich regelmäßig Verrisse ein und mußten sich gar den Vorwurf gefallen lassen, hühnerbrüstige Hippie-Nachfahren mit kitschigen Texten zu sein. All das ficht sie nicht die Bohne an: „Es ist ein geiles Gefühl, etwas zu haben, in das man regelrecht vernarrt ist“, gesteht Bassist Leo Schmidthals und nimmt dafür gern in Kauf, von manchen gehaßt zu werden. Haß muß manchmal sein oder spornt doch zumindest an, wie man an Sänger Jan Plewka sieht, der seine Texte auf dem zweiten Album bewußt abstrakter hält . Schmalz ade, um etwaigen Kritikern gleich den Wind aus zeilenschweren Segeln zu nehmen? Jan schüttelt nur den Kopf und erklärt:“Die erste Platte war wie das Protokoll eines ganz normalen Tages, jetzt aber ist es eher nur die Nacht, die uns alle beschäftigt.“ Nach Brüssel, ins ICP-Studio, hat es sie für diese Produktion verschlagen: „Abgeschottet wie in einem Kloster“, so Jan, das „mehr nach Schweiß als nach moderner Elektronik roch“. Der ersehnte Knaller für die Single-Charts ist nicht dabei, dafür aber jede Menge Power, die sich wie eine eiserne Faust um die Songs, stilistisch irgendwo zwischen Beatles, Henry Rollins und Soundgarden angesiedelt, legt. Was die fünf Seligen auf jeden Fall und aller Skepsis zum Trotz hörenswert macht, ist denn auch die Inbrunst, mit der sie sich immer wieder ins Zeug legen. Man mag sich weiterhin an Jans nöliger Stimme reiben, den Gehalt der Songs und ihrer Texte nach allen Regeln der Exegese zerpflücken, eins jedoch ist und bleibt ihr größtes Pfand: Rock’n’Roll ohne Masche und Manschetten.