Scott Walker: Ein Scharlatan, aber ein ehrlicher
Vom umschwärmten Popstar als Walker Brother zum radikalen Avantgardisten, das war Scott Walkers Werdegang. Anlässlich seines Todes gibt es unsere ME-Helden-Geschichte aus dem November 2016 hier in voller Länge.
Brüder, die keine sind
Brüder sind die beiden freilich nicht, genauso wenig wie Gary Leeds, fortan Gary Walker, der die Band als Drummer komplettiert. Doch weil sich der erhoffte Erfolg in den USA nicht einstellt, bezahlt Garys Vater den dreien die Reise nach England – eine Reise, von der Scott nie zurückkehren wird. Im Februar 1965 sagt er seiner alten Heimat Lebewohl. Die Walker Brothers touren wie Besessene und werden wenige Top-Ten-Singles später genauso hysterisch gefeiert wie die Rolling Stones und die Beatles. Der Mann, der sein Gesicht heute hinter einer tief sitzenden Schirmmütze versteckt, wird damals noch von Heerscharen kreischender Mädchen verfolgt. Der Trubel bekommt ihm nicht gut. Der erste Ausbruchsversuch aus dieser ihm so fremden Welt endet in einem Kloster: Als die Walker Brothers 1966 auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs angekommen sind, ihre Konzerte noch vor dem ersten Akkord mit einem Sturm des Publikums auf die Bühne enden, Fans den Tourbus in Dublin sogar umstürzen, um einen Blick auf ihre Ikonen zu erhaschen –als Scott Walker also seinen Alptraum vom Popstarleben wahr werden sieht, flieht er in eine gregorianische Abtei auf der Isle of Wight. Um sich mit der dortigen Gesangstechnik vertraut zu machen, vor allem aber, um sich zurückzuziehen. Es dauert drei Wochen, bis die Fans an der Klostertür Sturm klingeln, Walker seine Sachen packt und sich bei den Mönchen für die Unannehmlichkeiten entschuldigt. Den Schlüssel für die Abtei trägt er später auf dem Cover eines seiner schlechteren Soloalben um den Hals. Die Erinnerung an eine Zeit, in der die Welt kurz in Ordnung war.
Flucht ins Grüne
Es sollte lange dauern, bis sich Scott Walker wieder die Zeit nimmt, an einem ruhigen, abgeschotteten Ort neue kreative Energie zu tanken: 1983 sieht er in der Zeitung eine Kleinanzeige für ein verlassenes Ferienhaus südöstlich von London, in dem er einen einsamen Spätsommer verbringt und acht seiner besten Lieder schreibt. Aber dazu später mehr. Denn damals, als die Walker Brothers drauf und dran sind, sich aufzulösen, ist es nicht nur die Abtei, nicht nur die Begegnung mit sich selbst an einem heiligen Ort, die Walkers Zukunft prägte, es ist auch die Begegnung mit einem Bunny auf einer Playboy-Party in London. Das Mädchen nimmt Walker 1967 nach einer Party mit zu sich nach Hause, wo sie die Platte eines belgischen Sängers auflegt: Jacques Brel. Die erhabene, unerschrockene Stimme imponiert Walker mehr als alles, was er bislang im Pop gehört hat. Walker, Zeit seines Lebens ein Suchender, hat zum ersten Mal im Leben seine Bestimmung gefunden.
Von der Entdeckung Brels elektrisiert, legt er vier nahezu perfekte Chanson-Alben in drei Jahren hin. Walker schreibt zwar eigene Songs, covert aber auch einige Brel-Klassiker – und lässt sein großes Vorbild gesanglich alt aussehen. „Amsterdam“, „My Death“: Das waren jetzt seine Songs. Doch auch die Wurzeln seines verstörenden Spätwerks lassen sich auf SCOTT bis SCOTT 4 erahnen: Dissonante Streicher, unheimliche Vocal-Effekte auf der klanglichen Seite, Geschichten über Tod, Krieg und Prostitution auf der textlichen. Was die Alben erdete – und dafür sorgte, dass zumindest die ersten drei Top-Platzierungen in den Charts erreichen konnten –, waren allein die himmlischen Melodien. Alles, was darum geschah, war im Grunde schon damals weit von dem Sunshine-Pop der Walker Brothers entfernt.
Ein Flop als Opus Magnum
Kommerziell geht der Plan auf: Das Interesse an Scott Walker ist nach wie vor ungebrochen, sodass die ersten drei Alben in Großbritannien die Top fünf der Charts erreichen. Doch SCOTT 4 war nicht einmal ein Platz in den Top 100 vergönnt. Das Album, heute sein größtes Vermächtnis, ist ein sensationeller Misserfolg und wird vom Markt genommen. Dass die Platte unter seinem Geburtsnamen Noel Scott Engel veröffentlicht wird, ist dafür sicher mitverantwortlich. Walker selbst hat jedoch eine eigene Theorie: Er schiebt die Schuld dem Vorgängeralbum SCOTT 3 die Schuhe. Weil das nämlich im Dreivierteltakt geschrieben war, konnten die Leute nicht so gut dazu tanzen – und vergaßen die Platte schnell, sodass kaum noch jemand auf den Nachfolger wartete.