Schwul in den Sommer
Die Touristen am Kurfürstendamm staunten nicht schlecht. „Feiern die jetzt erst Rosenmontag?“ fragte einer im Cafe Kranzler. Tausende von buntschillernden Figuren aus der Berliner Schwulen- und Lesben-Szene tobten, tanzten, tuntenten vorbei und feierten, wenn schon nicht Rosenmontag, so doch zumindest ihren Rosa Samstag, den Christopher Street Day.
Schon seit sechs Jahren sammeln sie sich hier zur Parade der Lust und guten Laune und huldigen aufgedreht und ausgelassen einem denkwürdigen Ereignis: Am 28. Juni 1969 kam es nach einer Razzia in der Schwulenbar „Stonewall Inn“ zu einer Straßenschlacht in der New Yorker Christopher Street; die Homosexuellen setzten sich zum ersten Mal gegen die staatlichen Eingriffe zur Wehr. Einen Monat später organisierten Schwule und Lesben in San Francisco ihre erste große Demonstration. Seitdem wird dieser Jahrestag auf der ganzen Welt gefeiert.
Und erst recht in Berlin. Die Aidsproblematik tat der Stimmung keinen Abbruch, mit ihrem Slogan „Trotz alledem —- Lesben und Schwule, das ist unser Tag“ machten die Brüder und Schwestern den Kudamm verrückt. Überall knallten die Sektkorken, flossen bei sengender Hitze Schweiß und Champagner in Strömen, wurde die perlende Erfrischung vor die Säue geworfen. Braungebrannte Körper, lediglich mit einem Tropfen Sonnenöl und einem Lederfussel bekleidet, badeten sich in Eitelkeit und am Brunnen vor dem Tore, dem Wasserklops am Breitscheitplatz. Ein einziges Gegröhle, Gekreische und Geschmuse auf dem Boulevard. Bunte Federn, grellgrüne Hexen und Strapse bis zum Haaransatz wirbelten über den Asphalt und wurden aus fahrenden Autos bestaunt und fotografiert.
Erst in den frühen Nachmittagsstunden löste sich der feucht-fröhliche Karneval auf. Einige mischten sich noch unter die bis dahin farblos wirkende Anti-AKW-Demo der Jusos, die meisten aber zogen nach Hause, ihre aufgeheizten Körper zu kühlen und sich für den Abend schön zu machen. Denn um 20.00 Uhr ging’s weiter, luden die Veranstalter zum Ball der offenen Herzen in die neue TU-Mensa in der Hardenbergstraße.
Mehrere ausgebildete Karate-Lesben sorgten am Eingang für geordnete Verhältnisse. Und dann strömten die schönsten Männer durchs Foyer, stolzierten rosa Flamingos durch die Säulenhalle, wackelten und tuckelten knackige Lederärsche von Bierhahn zu Bierhahn, rauschten die Rüschen und stöckelten die Pumps über den Marmor.
Mehrere Gay-Bars hatten Stände aufgebaut, vor denen sich die Cliquen trafen, sich mit Sekt am ausgestreckten Finger herzlich begrüßten und aufgeregt miteinander schwatzten. Und es wurde so heiß. Schon als oben im Veranstaltungssaal die Big Band-Frauen der Kapelle „Lärm und Lust“ alte Benny-Goodman- und Glenn-Miller-Nummern in die halbnackten Leiber bliesen, floß der Schweiß, noch gut umhüllt von süßlichen Düften aus den privaten Parfümerien, in Strömen. Selbst die hartgesottensten Lederboys aus dem „Knast“ — einer Bar, in der man sich zum Cocktail an die Kette legt — zogen heute die Tiroler Art vor; mit Gamsbart unter der Nase und ausladenden Wildlederhosen bis zur Brust.
In den Gängen, auf den Klos, unten und oben, in der ganzen Mensa turtelten sich die Menschen entgegen, immer freundlich, manchmal theatralisch, aber nie mit bösem Blick. Selbst die infantil militante Kindergarten-Show der Tödlichen Doris riß die Stimmung nicht in Stücke. Während die drei auf der Bühne sich selbst, die Musik schlechthin und das Publikum überhaupt verarschten, arschten die Leute unten mit, tanzten wie junge Hunde, als spiele da oben eine Discogruppe und nicht der Tod auf seiner Geige. Als der Saal zu platzen drohte und selbst Heino mit dem Zapfen nicht mehr nachkam, wurden unten im Foyer die Boxen aufgedreht und ebenfalls zum Tanz gebeten.
Und dann eroberte Nina „Infernale“ (Foto) die Bühne, versprühte kurz und heftig ihre allumfassende Liebe, sang aus leuchtender Kehle „We Are The World“, schlug auf der Baß-Drum ihr neues Lied „mit Lene Lovich“, gab noch einmal Leanders Wunderlied zum besten und verschwand wieder. Das reichte, um die Stimmung noch mehr aufzuheizen.
Im Hexenkessel brodelte es, und das von Karlo Karges produzierte „Berliner Bass Ballett“ gab noch einen drauf: Fünf Basse ballerten ihren satten Sound in die Lenden, daß der Dancefloor in Verzückung geriet und die ersten anfingen, nach Luft und Laster zu lechzen. Einige erholten sich am Aids-Selbsthilfe-Stand, wo ununterbrochen Safe-Sex-Pornos liefen, andere zeigten den Stadtkaninchen, wie der Hase läuft und legten sich für eine Weile mit Freunden in die Büsche. Drinnen peitschte die schwule Discotruppe Boytronic die Schönen weiter durch den Saal, und im Foyer wurde Walzer getanzt.
Erst gegen fünf Uhr früh, als Trude Herrs „Ich will keine Schokolade … ich will lieber einen Mann“ viele an etwas zu erinnern schien, machten sich die meisten trunken und getreu dem Motto „Liebe deinen Nächsten“ auf, der rauschenden Ballnacht zu Hause noch eine kleine Krone aufzusetzen.