Schule der Freiheit
Seltsame Barte, armenisches Erbe, Metal Krach, politische Botschaften, verwüstete Häuserblocks -System Of A Down, eine Entdeckung von Rick Rubin, sind die ungewöhnlichsten Aufsteiger der letzten zwei Jahre.
Sarah Vianney erzen flackern, Teetassen dampfen, an unserem Tisch verliert Serj Tankian, Sänger und Frontfigur von System Of A Down, langsam die Geduld mit einer japanischen Journalistin, die via Telephon zum wiederholten Mal eine inkorrekte Behauptung aufstellt. Seine Reaktion isttypisch für die Dualität, die in ihm herrscht: statt wie seine Bühnenpersona wütend zu werden, zieht er seine Gesprächspartnerin sanft auf. Im Laufe seines Gesprächs mit dem ME wiederum wird sich immer wieder herausstellen, dass sich System Of A Down, die Band, die er 1995 mit Gitarrist Daron Malakian, Bassist Shavo Odadjian und Drummer John Dolmayan gegründet hat, nur selten vom ersten Eindruck her verstehen lässt.
Wir befinden uns im „Bourgeois Pig“, einem gemütlichen Cafe in Los Angeles in etwas unglücklicher Nähe zum Celebrity Center von Scientology. Im Halbdunkel des Hinterzimmers lümmeln Serj und Daron Malakian auf dem niedrigen, mit Kissen übersäten Divan. Ein seltenes Erlebnis für Daron, der sein Haus nur selten verlässt. Er lächelt scheu: „Ich arbeite ständig, ich schreibe jeden Tag neue Songs. Ich tue einfach nichts anderes. Ich werde nie in LA.gesehen, weil ich nicht ausgehe.“ Es ist offensichtlich, dass er sich im Gegensatz zu Serj hier nicht wohl fühlt, und er blüht erst auf, als die Sprache auf die aktuelle System Of A Down-CD „Steal This Album!“ kommt. „Ich freue mich für unsere Fans, die sich an Toxicity schon krank gehört haben: sie können sich jetzt in dieses Album versenken. Und, ernsthaft, ich bin genauso stolz – wenn nicht sogar noch stolzer- auf diese Songs als auf „Toxicity“. Esgab nureinen Grund, warum sie nicht schon aufjoxicity erschienen sind: weil wir kein Doppelalbum herausbringen wollten.“ Die Zeitspanne zwischen dem Release ihres zweiten Longplayers „Toxicity“ und „Steal This Album!“, das Ende November erschien, ist in der Tat reichlich kurz, nur knapp 15 Monate. „Wir haben das Album so kurz nach ‚Toxicity‘ veröffentlicht, weil die Songs teilweise im Internet herumgingen. Hätten wir bis zu dem ursprünglich geplanten Releasedate gewartet, hätte es längst jeder gehört und das Material als veraltet betrachtet. Wir wollten einfach, dass diese Songs unverbraucht an unsere Fans gelangen: dass sie diese Tracks als eigenständiges Album zu hören bekommen.“
Es ist kein Wunder, dass sich selbst halbfertige SOAD-Songs im Internet enormer Beliebtheit erfreuen, wenn man bedenkt, dass sich schon lange vor ihrem Labelvertrag das dritte Demoband der Gruppe zu einem Sammelobjekt der Heavy Metal-Insider entwickelte. Ein seltenes Phänomen, zumal in der Kommerzhochburg Los Angeles. Aber das ist noch nicht das Ungewöhnlichste an System Of A Down:
„Kannst du dir vorstellen, dass gleich unsere erste Show ausverkauft war?“, strahlt Daron. „Und danach fast jede andere auch. Drei Jahre lang! Es war wie verrückt: Wir hatten so viele Fans, dass die Sheriffs zum Teil die Straßen um die Venues herum blockieren mussten.“
Aber so ungewöhnlich schnell soad auch eine Fangemeinde aufbauten – niemand wollte die als „seltsam und tücht vermarktbar“geltende Band unter Vertrag nehmen. Dazu Daron: „Es war ziemlich ärgerlich, weil wir dauernd irgendwelchen Blödsinn zu hören bekamen: ,Die Band ist großartig, aber wir mögen den Sänger nicht.‘ Oder: ,Wie sollen wir das den Leuten in den Südstaaten erklären?‘ Wir hätten so oft aufgeben oder uns anpassen können, aber wir änderten uns nie. Wir wurden eher noch seltsamer.“ Dann zeigte der legendäre Rick Rubin Interesse und besorgte den „Unberührbaren“ einen Plattenvertrag.
Und damit nahm das Schicksal seinen Lauf: Das selbstbetitelte Debütalbum erregte erstmals weltweites Interesse, den endgültigen Durchbruch schafften SOAD dann mit dem Nachfolger „Toxicity“. Mit seinem eigenwilligen Mix aus melodischen Tribal-Rhythmen, HipHop, energetischem Nu Metal und einer Prise armenischer Volksmusik hat sich das kalifornische Quartett einen internationalen Namen gemacht. Wenn nach Vergleichen für den eigentlich unvergleichlichen Sound von SOAD gesucht wird, fallen so unterschiedliche Namen wie Tool, Alien Ant Farm, Rage Against The Machine und Frank Zappa.
Die musikalischen Widersprüche sind eine Konsequenz der völlig unterschiedlichen Charaktere der Bandmitglieder. Daron Malakian: „Wir sind einfach sehr verschiedene Menschen, ich, Serj, Shavo und John. Aber wir reflektieren einander, ob es sich nun um das Songschreiben, dieTexte, meine undSerjs Stimme oder sonst irgendetwas handelt“. Serj – er hat sich mit genervtem Augenverdrehen von seiner Telefonpartnerin verabschiedet -fügt hinzu: „Der Nachteil an einer solchen demokratischen Band ist, dass man seine künstlerische Vision nicht immer hundertprozentig ausleben kann, aber der Vorteil ist auch klar: man muss sich mit Einflüssen und Ansichten auseinandersetzen, denen man ansonsten nie begegnen würde. Und dank diesem UmstandwächstSystem OfADown undwandeltsich ständig.“ Obwohl es heute so aussieht, als wären diese vier Musiker von jeher dafür bestimmt gewesen, gemeinsam eine Band zu gründen und eine Mischung aus energiegeladener Musik, leicht schrillem Gesang, politischem Gedankengut und unwiderstehlichen Hooks zu kreieren, gab es doch eine Zeit, in der die Chance für eine solche Entwicklung gleich null erschien.
ObWOhl die Vier alle armenischer Abstammung sind (Malakian ist in Hollywood geboren, Drummer Dolmayan im Libanon, die Familien von Tankian und Odadjian übersiedelten in die USA, als beide noch Kinder waren) und bis auf John Dolmayan alle dieselbe Volkschule besuchten, begegneten sie einander dort nicht. „Wir sind alle unterschiedlich alt und lernten uns deswegen erst später kennen. Durch einen dieser seltsamen Zufälle im Leben trafen wir uns erst als mehr oder minder Erwachsene, als wir im selben Proberaum spielten. Wir waren alle in verschiedenen Bands, die sich über kurz oder lang auflösten, und so spielten wir dann einfach zusammen „, erzählt Daron. Aber im Gegensatz zu Malakian besaß die Band für die restlichen Mitglieder zunächst keine Priorität: Shavo arbeitete in einer Bank, Serj besitzt eine Softwarefirma, und John hat von seinem Vater, einem Saxofonisten, früh gelernt, dass das Musikerdasein nur selten glorreich abläuft. Daron dazu: „Ich persönlich hatte immer nur Musik als Karriereplan im Kopf, war immer nur der hungernde Künstler. Ich war der Einzige, dessen Ziel die Band war, die anderen liefen der Band einfach nur über den Weg. Alle liebten die Musik, aber ich war einfach extrem ernst, was unsere Entwicklung betraf. Erst als alle realisierten, dass wir hier etwas Besonderes haben, ließen sie alle anderen Ambitionen hinter sich. Ich hatte von vornherein nichts, was ich’hinter mir lassen konnte.“ Die Entscheidung, die Band an erste Stelle zu setzen, hat sich längst ausgezahlt: Bereits das selbstbetitelte Debütalbum -» titel
e~» ging über eine Million Mal über die Ladentische, der Nachfolger „Toxicity“ toppte gar die US-Albumcharts und geriet auch in Europa zum Bestseller. Der Zusammenschluss der vier amerikanischen Armenier gegen den Rest der Welt ist dennoch immer wieder Belastungsproben ausgesetzt – es scheint, als komme jeder Erfolg für die Band mit einem kräftigen Nachschlag Ärger. So wandelte sich im September 2001 ein Gratiskonzert auf einem Parkplatz in Los Angeles zum Albtraum. Die Erinnerung daran ist weder Serj noch Daron angenehm: „Viele Kids schliefen die Nacht davor auf der Straße, und als wir dort ankamen, waren schon unglaublich viele Leute dort, worüber wir uns natürlich sehr freuten. Aber irgendwie kamen immer mehr und mehr.“ Statt der erwarteten 3000 waren letztendlich an die 10.000 Menschen auf dem Areal. Der Andrang überforderte die anwesende Security-Truppe, und auch die Polizei fühlte sich den Fans nicht gewachsen. „Dann erklärte uns das Polizei-Department, dass die Sache außer Rand und Band geraten würde, und sagte, ohne uns zu fragen, dieShow einfach ab.“ Das Ergebnis dieser einsamen Entscheidung gelangte bis in die Abendnachrichten: die Kids drehten durch, verwüsteten sieben Häuserblocks, ganz Hollywood wurde abgeriegelt.
Auch wegen ihres politischen Engagements ecken System Of A Down an. Bei der Erwähnung dieses Themas hört Tankian, mit 34 der Band-Älteste, zum ersten Mal zu lächeln auf. „Ich stehe immer noch zu allem, was wir gesagt und getan haben. Es ist nur manchmal lästig, dass man uns deshalb gleich in die Schublade ‚Politische Band‘ steckt. Politik ist besonders jetzt ein wirklich wichtiges Thema, aber wir sind einfach die Art von Band, die sich thematisch mit allen Aspekten unseres Lebens beschäftigt. Songs wie ,Aerials‘ oder ,Chop Suey‘ etwa haben absolut nichts mit Politik zu tun.“
Die Themen, für die sich SOAD in dei Vergangenheit eingesetzt haben, wie die Thematisierung des Völkermordes an den Armeniern 1915 oder, aktueller, ihre Unterstützung der Opposition gegen die Irak-Angriffspläne der Bush-Administration, haben zur Folge, dass sich Interviews mit Serj Tankian nie wieder nur auf Musik beschränken werden: „Ich nütze gerne die Position, die mir System gewährt, um Aufmerksamkeit auf mir wichtige Themen zu lenken. Aber ich will nicht predigen. Ideen wie ,Axes of justice‘ begeistern uns, und wir wollen unseren Fans eine Möglichkeit bieten, sich da einzubringen „. Axes of Justice (www.axesofjustice.org) , eine Initiative des ehemaligen Rage AgainstThe Machine-Gitarristen Tom Morello, bietet Künstlern die Möglichkeit, diverse Organisationen wie Greenpeace, Amnesty International, das Armenian National Comitee of America und andere mit auf Tour zu nehmen, ohne selbst alles organisieren zu müssen. „Tom wollte mit seiner Band, die jetzt Audioslave heißt, auf dem Ozzfest spielen und dort ein Zelt aufstellen, in dem verschiedene Non-Proßt-Organisationen neue Mitglieder finden können und auf ihre Ziele aufmerksam machen. Wir selbst hatten eine kleinere Variante bei der Ozzfesttour mit dabei. Eine Schule der Freiheit!“
AprOpOS TOUr, für „Steal This Album!“ wird es leider keine geben. Und vorerst wohl auch kein Video schlicht, weil die Band, die in der Gestaltung ihrer Clips immer selbst mitmischt, noch keine zündende Idee hatte. Auch auf dem neuen Album hatte Rick Rubin seine Hände mit im Spiel, wenn auch in geringerem Ausmaß. Selbst Serj, der „Toxicity“ coproduziert hatte, hatte hier im Gegensatz zu ( Daron kaum etwas mit der Produktion zu tun Der bekennt: „Als Rick das erste Album produzierte, war ich einfach zu nervös, um mich in die Produktion einzumischen. Es war nicht Ricks Schuld, ich war einfach von vornherein ein bisschen scheu und außerdem eingrosser Fan seiner Arbeit. Ich lasse den anderen gerne den Freiraum, ihre Ideen zu entwickeln. Aber dann sah ich, dass, obwohl viele Dinge an unserem ersten Album sehr cool waren, mir doch andere Sachen fehlten. Also mischte ich mich beim nächsten Mal vermehrt ein. Jetzt habe ich meine Finger in absolut jedem Arbeitsschritt. Es braucht einfach sehr viel Zeit, um ein System Of A Down-Album perfekt klingen zu lassen. Rick kommt oft, um bestimmte Kleinigkeiten auszubügeln, aber ansonsten bin eher ich verantwortlich.“
Trotz 16 Songs hat“steaiThii Album!‘ nur eine Länge von 43 Minuten. Waren doch nicht genug Ideen übrig? Daron: „Wir haben für,Toxicity‘ dreißig Songs aufgenommen und diese Songs in zwei Teile geteilt: die eine Seite wurde zu ‚Toxicity‘, die andere Seite ist nun‘ ,Steal This Album!‘. Es sind keine B-Sides oder übriggebliebene Songideen, die wir jetzt verwerten wollen. Es sind Originale, die einfach ein gänzlich anderes Aroma haben als ‚Toxicity‘. Ich finde dieses Album um einiges variantenreicher, es reicht stilistisch von unseren Anfangstagen bis zu Tracks wie .Egobrain‘ oder ,Streamline‘, die wir vorher nie so herausgebracht hätten und die gute Indizien dafür sind, wie System Of A Down in der Zukunft klingen wird.“
Vorausichtlich wird das nächste gemeinsame Album der Vier allerdings nicht vor 2004 erscheinen.
Daron: „Ich habe zwar jede Menge Songs, aber ich will den anderen Bandmitgliedern auch die Möglichkeit geben, ihre eigenen Songs zu schreiben. Also werden wir für das nächste Album noch eine Weile brauchen.“ Immerhin sieht es so aus, als ob ein paar Soloprojekte die Wartezeit bis dahin verkürzen werden: Daron Malakian spricht von einem noch unfertigen Album mit Casey Chaos von Amen. „Esfühlt sich mehr nach Rock an als System OfA Down.
Ein bisschen experimenteller.“ Serj Tankian ist noch aktiver: „Ich erfülle zwar einen Großteil meiner kreativen Visionen it System, aber ich brauche auch andere Möglichkeiten des Ausdrucks. Ich arbeite zum Beispiel an einem Projekt namens Serart mit einem Meisterpercussionisten namens Arto Tunchoyadyan und mit unserem Bassisten Shavo.“ Und wer damit noch nicht genug hat, kann sich ja mit den Releases von Tankians 2001 gegründetem Label „Serjical Strike“ beschäftigen, das in den nächsten Monaten außer Serart noch eine Reihe weiterer Projekte herausbringen soll.