Linus Volkmanns Kolumne: Schocken, obwohl Oma Love-Parade auf RTL2 guckt? Die Millennial-Punk-Story
Die neue Doku „Millennial Punk“ richtet einen Panoramablick auf neue Generationen mit und ohne Stachelhaare. Linus Volkmann hat mit den Macher:innen gesprochen.
Tight to the nineties! Nach dem Revival in Mode und Sound kommen nun also die Dokus.
Die Neunziger Jahre werden dieser Tage nicht nur zelebriert sondern auch musealisiert. Zuletzt konnte man sich bei den Öffentlich-Rechtlichen Mediatheken beispielsweise die Geschichten von VIVA, von der Band Echt wie – ganz aktuell – auch von der Hamburger Schule nacherzählen lassen. In bunten Bildern, schnellen Schnitten – alles erzählt von noch rechtschaffen lebendigen Zeitzeug:innen.
Mit der Doku „Millennial-Punk“ lappt der Aufarbeitungs-Furor nun auch über die Jahrtausendwende. Kein Wunder, denn auch die Nuller Jahre stehen heute wieder im Fokus – auf vielen kulturellen Ebenen.
Verantwortlich für die Millennial-Punk-Reihe, die vier Folgen jeweils um 45 Minuten beinhaltet, sind neben den Produzenten Nico Hamm und Flo Wildemann vor allem Felix Bundschuh und Diana Ringelsiep. Schon vor etlichen Jahren haben die beiden ein DIY-Film’n’Buch-Projekt zum Thema Punk aufgestellt: Ihre „SubkulTOUR“ durch Südostasien wurde zu einem Multimedia-Event, das neugierig wie respektvoll den westlich geprägten Blick auf Punk erweiterte. Teilnehmende Beobachtung, Kulturschocks und Verbindungen schaffen – das liegt dem Duo Ringelsiep/Bundschuh.
Mit „Millennial-Punk – eine Subkultur in Zeiten der Digitalisierung“ kann man ihnen nun auch in der ARD-mediathek begegnen. Das Projekt fragt sich und vor allem eine Vielzahl von Interviewgästen, wie eine neue Generation Punk erlebt und gelebt hat. Mit dabei unter anderen Akne Kid Joe, Die Toten Hosen, Killerpilze, Donots, Schrottgrenze, Broilers, Antilopen Gang, Die Toten Crackhuren im Kofferraum, Archie Alert (Terrorgruppe), Dirk Jora (Ex-Slime), Victoria Müller, Missstand, Kopfecho, Berlin Blackouts, Bluthund, Sit’n’Skate, Kotzreiz, Pascow, Tiger Lily Marleen, Sévérine Kpoti, Ronja vom Plastic Bomb, Finna …
Diese Aufzählung ist längst nicht vollständig, aber lässt hoffentlich erahnen, wie tief hier gegraben wurde.
Und was findet man, wenn solche Dokus weit reingehen in ein solches Retro-Thema? Natürlich sich selbst! Also vielleicht nicht in einem spirituellen Sinne, sondern eher ganz konkret – indem man sich beispielsweise erinnert, welche Songs man zu jener Zeit selbst gepumpt hat.
Mir zumindest geht es so und daher liefere ich euch meine Top 5 Millennial Punksongs hier ab, bevor dann das Interview kommt, das ich mit Diana und Felix anlässlich ihrer Doku geführt habe.
Die Liste
01. The Get Up Kids „Action & Action”
Zahlt der amerikanische Emo aus den späten Neunzigern eigentlich auch in die Millennial-Punk-Kasse ein? Ich entscheide mal: Ja. Zu dem Stück habe ich seinerzeit Purzelbäume vor meiner Box daheim geschlagen. Einfach weil ich diese Kraft, Euphorie und Sehnsucht irgendwie verstoffwechseln musste. Allein dieses Keyboard!
02. Avril Lavigne “My Happy Ending”
Dass die Kanadierin sich aus Kalkül die Rolle „des anderen Mädchens“ ausgesucht hat, schmälert ihre Legacy einfach. Dinge wie „I hate your girlfriend“ oder die Rolle derer, die allen Skaterboys verklickert, dass sie besser ist als deren Freundinnen, zeugen zumindest nicht gerade von weiblicher Solidarität. Dennoch sind etliche ihrer Songs für mich unkaputtbare guilty pleasures. Denke, das geht okay.
03. The Promise Ring “Very Emergency”
Noch mal Emo-Punk. Zurecht!
04. Parole Trixi “Seid gegrüßt”
In einer aktuellen Intervention weisen die Pop-Journalistinnen Sandra und Kerstin Grether daraufhin, dass sie in jener eingangs kurz erwähnten Doku über die Hamburger Schule ausgespart wurden. Neben jener Hamburger Schule sowie der Kölner Redaktion der Neunziger Jahre Spex haben die beiden für mich aber immer auch einen ziemlichen Punk-Appeal besessen. Für mich persönlich steht das Stück „Seid gegrüßt“ von Sandras Parole Trixi für eine Bewusstwerdung, dass auch Punk nicht per se emanzipativ ist. Das muss erkämpft werden gegen die obligatorischen Mackerstrukturen, von denen kein AJZ per se frei war und ist. Dieser Song ist ein guter Soundtrack dazu, finde ich.
05. Schneller Autos Organisation “Zwei im Sinn“
Klar, Punk ist geil, wenn er mit dem Pflasterstein gegen EZB und Kapitalismus reitet. Aber bei allem Streetfighter-Furor mag ich persönlich auch Musik, in der gern mal gejammert wird. In a good way, versteht sich!
„Aber die Brücken zu prolligen Mario-Barth-Parodien sollen brennen“ – Das Interview mit Diana Ringelsiep und Felix Bundschuh
Der Aufwand der Doku wirkt allein schon anhand der Fülle der Interviewten immens. Sollte das so ein Opus Magnum werden oder hat sich das sukzessive aufgehäuft? Und wie erschöpft wart ihr, als der letzte Schnitt gesetzt war?
FELIX BUNDSCHUH Wir wollten das so. Uns war es einfach wichtig, eine breite Palette abzubilden und nicht nur einer klitzekleinen Bubble eine Bühne zu geben. Es sollte ja das Portrait einer Generation werden und nicht bloß die Geschichte von ein paar wenigen abbilden. Bereits vor Beginn der Dreharbeiten waren alle Mitwirkenden angefragt. Es gab drei Hauptdrehblöcke, bei denen wir jeweils mehrere Tage am Stück mit einem großen Team produziert haben. Das musste im Vorfeld alles sorgfältig geplant werden und war streng durchgetaktet. Sukzessive hat sich das Line-up definitiv nicht entwickelt.
DIANA RINGELSIEP Uns war einfach von Anfang an klar, dass wir einen Haufen Material benötigen werden, um bei den vier Themenschwerpunkten aus dem Vollen schöpfen zu können. Denn wir wollten unbedingt ohne eine Stimme aus dem Off arbeiten und die Protagonist:innen die Story alleine erzählen lassen. Aber es ist gar nicht so easy, dass am Ende wirklich alle Zitate aufeinander aufbauen – dafür bedarf es einer Menge Auswahlmöglichkeiten. Vor allem in der Postproduktion gab es da wochenlange Phasen, in denen ich so krass ins Drehbuch vertieft war, dass ich wirklich in einer Parallelwelt gelebt habe und nur noch für ein paar Stunden Schlaf nach Hause gekommen bin. Von daher: Erschöpfung 3000!
FELIX Der letzte Schnitt ist ehrlich gesagt noch gar nicht so lange her. Circa zwei Wochen, und wir haben bis zu letzten Änderungen wie die Ackergäule gelitten. Auch unser erweitertes Team ist die ein oder andere Extrameile für uns gelaufen. Ohne deren Hilfe hätten wir das niemals geschafft. Jetzt sind wir einfach nur müde und vorfreudig.
Was wisst ihr nach der Arbeit an der Doku mehr über Millennial-Punk als vorher?
FELIX Ich habe unterschätzt, wie bedeutend das Thema für so viele Leute ist. In den Gesprächen habe ich mich selbst so oft wiedergefunden, dass ich es gar nicht fassen konnte.
DIANA Mir ist durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema und den vielen verschiedenen Perspektiven erst so richtig bewusst geworden, dass wir ein kollektives Punk-Imposter-Syndrom mit uns herumschleppen. Fast alle Millennials wurden als Punx der zweiten Generation belächelt und mussten sich ständig vor Älteren beweisen. Die Arbeit an der Doku hat mir vor Augen geführt, dass es damals nicht nur mir und meinen Freund:innen so erging, sondern auch vielen anderen unseres Alters – vollkommen unabhängig vom Ort des Aufwachsens und des eigenen Umfeldes. Ich habe realisiert, dass wir nie late to the party waren, sondern eigentlich schon immer unser eigenes Ding gemacht haben.
Was ist für euch das Spezielle an Millennial-Punk in Abgrenzung zu seinen Inkarnationen davor?
FELIX Wir haben gemerkt, dass nicht wenige unserer Protagonist:innen durch ihre Eltern mit Punk in Berührung gekommen sind. Ich glaube, dass uns das am meisten von den Punx der der ersten Generation unterscheidet. Bei Gen Z wird es natürlich noch krasser sein. Ich glaube auch, dass uns Millennial-Punks ein gewisses nostalgisches Gefühl hinsichtlich der analogen Zeit und eine kollektive New-Media Kompetenz eint.
DIANA Einer der Hauptunterschiede zwischen Millennial-Punx und unseren Vorgänger:innen ist die enge Verbindung zwischen Popkultur und Subkultur. Während die Punx vor uns alles boykottiert haben, was Mainstream war, haben wir MTV geschaut und unsere Fühler auch damals schon in andere Genres wie beispielsweise Techno oder HipHop ausgestreckt. Während man Autoritätspersonen früher noch mit bunten Haaren schocken konnte, wollte ich schon als Kind so bunte Haare wie Enie van de Meiklokjes haben und meine Oma hat sich stundenlang auf RTL2 die Loveparade reingezogen, als ich mit 16 mit dem Wochenendticket dorthin gefahren bin. So doof das klingt: Es war eine andere Zeit.
Wie bewertet ihr den aktuell auffälligen Kontrast von emanzipativen Strömungen im Punk gegenüber dem wertkonservativen Mackerpunk mit Bier-Fetisch und Ekel vorm Gendern? Brückenbau möglich oder nichts mehr zu kitten?
FELIX Wenn ich mir die Geschichten von früher anhöre, dann kommt es mir auch nicht so vor, als wären alle Punks immer einer Meinung gewesen. Ab einer gewissen Szenegröße ist das auch gar nicht mehr möglich. Für mich als Privatperson sehe ich es so: Ich trinke lieber mit einem liberalen Kleingärtner als mit einem sexistischen Punker ein Bier.
DIANA Wir wollten beide Generationen in der Doku abbilden, weil uns die „alten Helden“ nun mal den Weg in den Punk geebnet haben. Dennoch war klar, dass wir den wertkonservativen Abgehängten, die sich in der Szene herumtreiben und auf die du anspielst, keine Bühne bieten möchten. Ich muss sagen, es fühlte sich auch echt gut an, bei einem Projekt dieser Größe mal am längeren Hebel zu sitzen. Gleichzeitig wollten wir die beiden Generationen aber auch nie gegeneinander ausspielen. Ich kann nur für mich sprechen, aber ich wurde während der Interviews mehr als einmal positiv überrascht. Von daher bleibe ich dabei: Wenn ich eine gewisse Reflexionsbereitschaft erkenne, bin ich immer eine Freundin davon, miteinander zu sprechen und voneinander zu lernen. Aber die Brücken zu prolligen Mario-Barth-Parodien sollen brennen.
Die Doku bietet auch Ausblicke, wie und wo Punk diverser und wieder politischer geworden ist. Wieviel Zukunft räumt ihr der ewigen „No Future“-Bewegung eigentlich noch ein?
FELIX Ehrlich gesagt fühlt es sich für mich gerade so an, als wäre ich aus einem Fiebertraum der letzten 20 Jahre aufgewacht. Gerade bin ich noch nicht bereit, von den nächsten 20 Jahren zu träumen.
DIANA Punk ist eine Frage der Definition. Wenn du darunter eine Subkultur voller Regeln verstehst, die sich an einen bestimmten Dresscode hält und Gatekeeping gegenüber all jenen betreibt, die noch was anderes als die Dead Kennedys vor 1985 hören – dann sage ich: No future! Wenn du Punk hingegen als ein Lebensgefühl definierst, das von DIY, Subversion und Selbstverwirklichung geprägt ist – dann geht es womöglich gerade erst los.
>>> Hier den Film in der Mediathek sehen!
PS: Das Immergut Festival
Am Ende des Tages ist das Immergut Festival mehr Indie als Punk, aber es stellt auf jeden Fall auch eine hochverdichtete DIY-Oase in der hiesigen Musikszene dar. Aktuell haben die Organisator:innen ein wenig zu struggeln: Corona ist rum (naja), aber viele kleinere und mittlere Open Airs tun sich auch diesen Sommer schwer, ihre Zuschauerränge zu füllen. Blame it on the rain oder einen fiesen Zeitgeist.
Von Donnerstag 30.05. bis Samstag 01.06. jedenfalls tunkt sich das Festivalgelände in Neustrelitz ein weiteres Jahr in Glitzer, Bier, Insekten und vor allem in Musik.
Es spielen unter anderem Nichtseattle, Wa22ermann, The Vaccines und Tränen. Dazu Lesungen von Paula Irmschler, Stefanie Sargnagel & Christiane Rösinger sowie ein Live-Podcast mit Jan Müller. Wer in der Nähe ist und sich bereits von diesem kleinen Ausschnitt des Line-Ups angezündet fühlt: Kommt doch einfach vorbei. Keep the spirit alive, es wird Tagestickets geben.